Freitag, 17. November 2017
Ohne Tote
„Aber wohin ist die Summe verschwunden?“, fragte Miriam fassungslos.
Kathrin zuckte mit den Schultern und sah sie aus resignierten, traurigen Augen an. „Hier geht doch alles nur noch drunter und drüber, wird von Jahr zu Jahr schlimmer, Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann uns der Laden endgültig um die Ohren fliegt.“
„Ja, wir haben einfach zu wenig Personal.“, seufzte Miriam.
„Das stimmt.“, erwiderte Kathrin. „Aber das ist nicht der Grund. Personalmangel erklärt, dass Arbeit länger liegen bleibt, auch dass mal ein Fehler passiert oder etwas vergessen wird. Aber hier haben wir es mit einem anderen Problem zu tun.“
„Was meinst du?“
„Missmanagement.“, murmelte Kathrin kaum hörbar.
„Du meinst, die Leitung ist Schuld?“, fragte Miriam mit großen Augen.
„Pscht! Wenn das in falsche Ohren gelangt, verschwinden wir schneller, als ein DinA4-Blatt im Aktenschredder.“
„Aber was genau meinst du denn?“, hakte Miriam nach.
„Erzähle ich dir heute Abend.“, erklärte Kathrin. „Komm doch mal auf ein Glas Wein bei mir vorbei.“
Wie in einem schlechten Horrorfilm öffnete sich die Tür plötzlich mit einem gespenstischen Knarren und Breisz stand im Rahmen, den er mittlerweile fast ausfüllte. Als er als junger Spund – in der Hierarchie noch unter Kathrin – hier angefangen hatte, war er zwar nicht athletisch, aber doch durchschnittlich schlank gewesen. Nach mittlerweile fünfzehn Jahren sah er aus wie eine über die Höchstmenge befüllte Wärmflasche mit beginnender Materialermüdung, das konnten auch die hochwertige Kleidung und die Designerbrille nicht wettmachen.
„Sind die neuen Personalverträge soweit vorbereitet, Frau Tanski?“, fragte er Miriam.
Sie griff nach einer Aktenhülle in der Ablage und überreichte sie wortlos ihrem Chef.
Der nickte grunzend und verschwand direkt wieder.
„Siehst Du, was ich meine?“, zischte Kathrin.
Miriam nickte.

Abends saßen sie mit einem frischen Rosé auf Kathrins Balkon. Sie hatten beide nur noch zwei Wochen bis um Sommerurlaub, da war endlich einmal wieder Zeit zum Durchatmen.
„War ja gruselig, wie der Breisz plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte.“, nahm Miriam den Faden vom Vormittag wieder auf.
„Viel gruseliger finde ich, wie unsere Leute nach und nach verschwinden.“, erklärte Kathrin verbittert. „Meinst Du, Birte hat sich einfach so in einem anderen Amt beworben?“
„Nee.“, meinte Miriam. „Die hatte endgültig den Kaffee auf. Die ging ja förmlich unter in der Arbeit.“
„Ja, das wäre schon Grund genug gewesen.“, bemerkte Kathrin. „Aber Birte hatte vor allem Angst. Warum sonst, glaubst du, dass sie grundsätzlich nicht mehr für Rückfragen zur Verfügung steht? Sie hat sich in dem Zahlendschungel nicht mehr zurechtfinden können, weil Breisz ihr ständig dazwischen funkte, ihr Anweisungen erteilte, dieses so und jenes so zu buchen, weil er das so brauchte.“
„Du meinst, er wollte die Zahlen schönen?“
„Mindestens. Wenn er nicht sogar etwas beiseite geschafft hat. Ich glaube, Birte ist ihm draufgekommen und da hat er sie massiv unter Druck gesetzt, hat dafür gesorgt, dass es so aussieht, als wenn sie schlampig gearbeitet hätte, so dass er alles auf sie abwälzen konnte. So hat er es schon immer gemacht.“
„Warum hat er Dich eigentlich auf der Karriereleiter überholt?“, fragte Miriam. „Du warst doch ziemlich gut aufgestellt, noch keine dreißig und schon Leiterin der Personalabteilung. Ich weiß noch, wie du immer mit den Augen gerollt hast, als er anfing, dass er nichts kapierte, aber immer die Klappe ganz weit aufriss.“
„Ja, so setzt man sich durch in einer deutschen Verwaltung. Der Grund warum er Karriere gemacht hat und nicht ich ist ganz einfach: Er hat einen Penis und ich habe keinen.“
„Hättest dich ja hochschlafen können.“, kicherte Miriam.
„Ja, stimmt.“, überlegte Kathrin und grinste ironisch. „Den Job habe ich ja auch nur wegen meiner Rehaugen bekommen. Und beim Hochschlafen hat man dann ja auch einen Penis, zumindest vorübergehend.“
„Gab's Angebote?“
„Na ja, der Simons hat schon immer ein bisschen gierig geguckt, aber ich glaube, der war zu vorsichtig für sowas, das hätte seiner externen Karriere geschadet.“
„Also keine Chance auf einen Penis.“
„Auf jeden Fall kein Interesse. Ich habe auch keine Lust mehr, mich mit Breisz anzulegen. Der hat überall seine Buddys sitzen, da habe ich keine Chance. Ich mache nur noch das, was ich muss, dann gehe ich wenigstens nicht so abgearbeitet nach Hause und hier mache ich es mir dann schön.“
„Aber wenn wir den an den Eiern hätten, würden wir ihn endlich los.“, bemerkte Miriam eifrig. „Wenn wir ihn nicht aufhalten, dann fährt er den Karren endgültig in den Dreck und wir verlieren alle unseren Job.“
„Suchen wir uns eben einen neuen.“
„Aber so eine Position, wie du sie jetzt hast, bekommst du doch nie wieder, schon gar nicht mit diesem Gehalt. Obwohl du natürlich bessere Chancen hast als ein Verwaltungsleiter, der gerade einen ganzen Kirchenkreis in den Ruin getrieben hat.“
„Der kommt irgendwo unter. Fett schwimmt oben. Sieh dir das doch mal in der freien Wirtschaft an: da reiten Manager ganze Produktionszweige oder sogar Konzerne in den Konkurs, bekommen noch eine Abfindung, bei der es sich für uns gar nicht mehr lohnen würde, noch einmal arbeiten zu gehen und ratz fatz haben die einen neuen Job, in dem sie weiter Ressourcen verbrennen dürfen. Ich glaube, es gibt nicht eine einzige Frau, die sich so eine Nummer geleistet hat. Bestimmt sind die Mütter schuld, die ihre kleinen Sonnenscheine von Anfang an mit einem völlig unbegründeten, übersteigerten Selbstwertgefühl ausgestattet haben.“
„Und wenn wir mal etwas beiseite schaffen würden?“, überlegte Miriam. „Da käme niemand drauf, weil man uns das im Leben nicht zutraut.“
„Nein.“, sagte Kathrin, „am Ende landen wir im Knast, das ist es mir nicht wert. Aber ich hätte schon Lust auf einen kleinen Taschenspielertrick. Wenn wir Breisz seine Verfehlungen nicht nachweisen können, hängen wir ihm eben etwas an.“
Mit einem süffisanten Grinsen ließ sie ihren Dienstlaptop hochfahren.

ENDE

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Donnerstag, 2. November 2017
Rotary – abgeschlossener Kurzkrimi mit Gelegenheit zur Fanfiction
Sie linste hinter der Orgel hervor. Alles wirkte ganz normal – keine schwarzen Kerzen, Opfertiere oder okkulten Symbole, die Altarkerzen brannten ruhig, die Bibel lag aufgeschlagen an ihrem Platz, die Anwesenden saßen wie jede Gemeinde ruhig in den Bänken, unauffällig gekleidet, wenn auch auffällig hochwertig. Als befremdlich erwies sich lediglich der Umstand, dass nur Männer anwesend waren.
Das Eingangslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ stammte ebenfalls aus dem evangelischen Gesangbuch. Sie begann, sich für ihre Satanismus-Paranoia zu schämen. Eine ganz normale Adventsandacht des caritativen, männlichen Establishments. Sicherlich widerwärtig angesichts der mangelnden Bereitschaft, den unermesslichen Reichtum gerecht mit anderen zu teilen, aber überaus weltlich und nicht spiritistisch.
Der Kollege las einen kurzen biblischen Text aus der Offenbarung des Johannes. Das war nun wieder seltsam, handelte es sich um einen Predigttext für den Ewigkeitssonntag, an dem man der Toten und der Hoffnung auf das ewige Leben gedachte, aber es war auch nicht theologisch unangebracht, zumal die Jahreslosung für das neue Kirchenjahr darin enthalten war.
Er sprach vom Trost aus Gottes Wort, der Sehnsucht nach einer besseren Welt, der Erneuerung der Gemeinde, vom tröstenden Gott und der Hoffnung auf Gottes bleibende Stadt, in der jeder Durst mit dem Wasser des Lebens gestillt wird. Es waren die üblichen evangelischen Phrasen, derer sie sich zugegebenermaßen auch schon oft bedient hatte, wenn sie unsicher war oder ihr nichts Besseres einfiel.
Das war hier also das spirituelle Wellness-Programm für betuchte, netzwerkende Penisträger mit gesellschaftlichem, politischem und vor allem wirtschaftlichem Einfluss. Ihre durch die Bänke aufrechte Haltung mit straffen Schultern und geraden Köpfen ließ sie durchweg zufriedene, entspannte Gesichter vermuten, die vor Selbstgerechtigkeit trieften.
Bruder Bertram resümierte:
„Kinder teilen die Welt gern in schwarz und weiß, gut und böse, wir und ihr, richtig und falsch. Doch zum Erwachsenwerden gehört die Erkenntnis, dass es nur unendlich viele Grautöne gibt.“
Mein Gott! - , dachte Sarah – Jetzt kriegt er doch glatt noch die Kurve zu Fifty Shades Of Grey! -
Doch ihre Erwartung im Hinblick auf sexuelle Entfesselung wurde nicht bedient. Stattdessen fuhr er fort:
„Um unsere Ziele zu erreichen, müssen wir bereit sein, unkonventionelle Wege zu beschreiten. Wenn wir uns dabei die, für die wir uns doch einsetzen, nicht zu Feinden machen wollen, müssen wir oft im Verborgenen agieren, da geht es dann auch schon mal in anthrazitfarbene Abgründe. Aber das Ergebnis ist weiß oder zumindest lichtgrau. Schmieren Sie Asche auf Ihr weißes Hemd, ist es schmutzig. Machen Sie sich einen Fettfleck auf die weiße Weste, ist die Weste an dieser Stelle nicht mehr weiß. Doch mit Seife bekommen Sie beides wieder sauber. Und woraus wird Seife hergestellt? Aus Asche und Fett.
Wenn wir zusammenhalten, das Ziel nicht aus den Augen verlieren und den Kreis geschlossen halten, dann wird der eben besungene Morgenstern aufgehen und uns und allen anderen leuchten. Amen.“
Er unterstrich das Amen mit der Merkelraute.
Sarah zitterte. Auch wenn hier keine Insignien zu sehen waren, so war sie sicher, dass sie doch Recht gehabt hatte. Andreas in seiner grenzenlosen Naivität und zur Schau getragenen Offenheit hatte sich natürlich nichts dabei gedacht, Bruder Bertram die Kirche für eine Adventsandacht der Rotarier zur Verfügung zu stellen. Als sie ihn eindringlich gewarnt hatte, dass dieser geheime Männerbund in Verbindung zu den Freimaurern stehe und zum Teil mithilfe satanistischer Aktivitäten seine Macht ausbaue, hatte er sie ausgelacht und ihr geraten, die Finger von unseriösen Internetseiten zu lassen.
„Dr. Reinhard wird ein Gebet für uns alle sprechen und zum Abschluss singen wir noch einmal die erste Strophe des Liedes Nr. 16. Diesmal werde ich uns an der Orgel begleiten.“
Wie gelähmt beobachtete Sarah, wie Bruder Bertram mit festem Blick den Mittelgang entlangschritt, während Dr. Reinhard seine scheinbar harmlosen Gebetsworthülsen von sich gab. Hätte sie zugehört, wäre sie womöglich direkt ohnmächtig geworden. Bruder Bertram würde sie gleich hier finden, wie sollte sie ihm das erklären? Dass sie ihre Noten an der Orgel vergessen hätte? Ihre Gedanken rasten. Warum hatte er das Lied von Jochen Klepper ausgewählt? - Die Nacht ist vorgedrungen / der Tag ist nicht mehr fern. / So sei nun Lob gesungen / dem hellen Morgenstern./... - Sie hörte seine Schritte auf den ersten Treppenstufen. Natürlich! Sie konnte sich in das Turmzimmer verziehen. Vielleicht war die Verbindungstür zum Dachboden offen und dann könnte sie über die Treppe nach draußen gelangen. Nahezu lautlos huschte sie zur Tür, öffnete sie glücklich und zog sie sanft hinter sich ins Schloss.
Sie hörte, wie er den Deckel über dem Manual öffnete, wie er die notwendigen Register zog. Sie versuchte, die Tür zum Dachboden zu öffnen, doch die war verschlossen. Dann musste sie eben warten, bis die rotierenden Testosteronschleudern abgezogen waren. Seine glatten Ledersohlen klapperten auf dem Pedal. Er spielte und sang selbst mit Inbrunst: „Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“
Das Lied war zu Ende. Die Register wurden zurück geschoben, der Deckel über dem Manual geschlossen. Die glatten Ledersohlen klapperten nun auf den alten Fichtendielen. Sie kamen näher. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt, die Tür öffnete sich. Er sah ihr wissend in die Augen. Sie fröstelte.

ENDE – oder?
Wer mag, kann eine Fortsetzung schreiben, die wird dann unter Angabe der Quelle in der Buchversion dieses Blogs veröffentlicht.

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1975 – abgeschlossener Kurzkrimi
Irritiert legte Sieglinde Ostholt den Telefonhörer zurück auf die Gabel. Das war sicher einer dieser Augenblicke, in denen ihr bewusst wurde, dass sie erst ein Jahr im Amt war. Eigentlich konnte sie es noch immer nicht fassen, dass sie hier gelandet war, ausgerechnet in dieser Wohlstands-verwöhnten, von der Erweckungsbewegung gründlich durc hsetzten Provinzgemeinde. Eine Pfarrstelle im Ruhrgebiet wäre realistisch gewesen, da wollte niemand hin, die gaben sich dann auch mit einer Frau zufrieden. Dass es ausgerechnet hier geklappt hatte, grenzte an ein Wunder.
Nun musste sie peinlich darauf achten, dass ihr möglichst keine Fehler unterliefen, damit sie sich ihrer Wahl auch als würdig erwies. Doch dieser Fehler war eklatant: Sie hatte einen Termin für ein Taufgespräch vereinbart, ohne die Mutter nach ihrem Namen zu fragen. Die Mutter hatte sich aber auch nicht mit Namen gemeldet, sondern war direkt mit der Tür ins Haus gefallen: „Guten Tag, wir möchten gern unsere kleine Tochter taufen lassen. Was müssen wir dafür tun?“
„Das würden wir bei einem Taufgespräch klären, da können wir jetzt direkt einen Termin vereinbaren. Wann hätten Sie denn grundsätzlich Zeit?“
„Am besten passt mir der späte Nachmittag.“, antwortete die Frau. „Da schläft die Kleine und zur Not ist mein Mann dann zu Hause.“
„Wie wäre es denn am Dienstag gegen 17.30 Uhr?“
„Ja, das passt mir gut.“
„Normalerweise komme ich dann zum Taufgespräch sowieso zu Ihnen nach Hause.“
„Ach nein, ich würde das lieber direkt in der Kirche machen. Da kann ich mir das alles besser vorstellen.“
„Meinetwegen. Ganz wie Sie wünschen. Dann also am Dienstag.“
„Ja, vielen Dank und auf Wiedersehen.“
Und jetzt wusste sie nicht einmal, mit wem sie am Dienstag in der Kirche verabredet war. Es war ihr aber auch ganz selbstverständlich vorgekommen, nicht nach dem Namen zu fragen, und da die Verabredung ja zu ihr kam, war es im Grunde egal.

VIER TAGE SPÄTER
Sieglinde eilte durch den Seiteneingang in die offene Kirche, der Küster hatte auch den Haupteingang aufgeschlossen, falls die Mutter also etwas früher gekommen war, musste sie zumindest nicht draußen warten. Es war ja doch schon dunkel und überdies windig, kalt und regnerisch.
Die Konfirmandengruppe war heute wieder besonders anstrengend gewesen, und weil sie noch mit einigen ein persönliches Wort hatte sprechen müssen, hatte sie nicht pünktlich die Tür schließen können. Jetzt war es schon drei Minuten nach halb und sie nahm durch die offene Jacke eine unangenehme Schweißwolke wahr. Hoffentlich hatte die Mutter keine allzu empfindliche Nase.
Die Kirche war leer und dunkel. Sie hatte vergessen, den Küster darum zu bitten, auch das Licht anzumachen. Für alles brauchte der Mann eine Extra-Aufforderung, Mitdenken war nicht seine Sache. Sie eilte zum Westwerk, wo sich der Raum mit den Lichtschaltern befand. Hier war mal wieder die Birne kaputt. Sie legte den Schalter für die Beleuchtung der Vierung um, aber als sie wieder heraustrat, war die Kirche so dunkel wie zuvor. Sie probierte sämtliche Schalter aus, doch nichts tat sich.
„Muss ein Stromausfall sein.“, murmelte sie, um sich selbst zu beruhigen, denn ein unangenehmes Kribbeln breitete sich vom Nacken über die Kopfhaut aus.
Es konnte auch kein allgemeiner Stromausfall vorliegen, denn von außen drangen die Lichter der Straßenbeleuchtung durch die Buntglasscheiben und ermöglichten ihr, sich halbwegs in der Kirche zurechtzufinden. Schaurig schön war das altehrwürdige Gebäude in der Dunkelheit, mit den hohen Gewölbedecken, den massiven Säulen und den gewaltigen Messingkronleuchtern, die das wenige Licht, das von außen hereinfiel, an einigen Stellen reflektierten.
Sie tastete sich zur Sakristei vor, denn sie wusste genau, in welchem Schrankfach sich die Streichhölzer befanden. Ihr Plan ging auf und schon wenig später entzündete sie die Altarkerzen. Selbst im Schein dieser bescheidenen Lichtquellen leuchtete der Wandschmuck der Apsis schillernd und geheimnisvoll. Wie hatten die alten Baumeister nur so einen perfekten Ort der Kontemplation schaffen können?
Sieglinde hörte ein Geräusch. War es der Haupteingang oder die Seitentür? Sie machte ein paar Schritte vom Altar weg. Die Akustik dieser Kirche war vertrackt, man konnte nie genau lokalisieren, woher ein Geräusch kam. Da sie niemanden sah, drehte sie sich wieder um und erschrak. Hinter dem Altar stand eine Gestalt. Es war eine Frau mit einem straff aufgesteckten Haarknoten. Die Haare lagen so eng am Kopf, dass die Erscheinung in Verbindung mit den hageren Zügen wie ein skelettierter Schädel wirkte.
„Sieglinde“, sagte die Frau mit bedrohlich ruhiger, fester Stimme.
Wie kam die fremde Frau dazu, hier im Altarraum herumzugeistern und sie außerdem mit ihrem Vornamen anzusprechen?
„Wo sind Sie denn auf einmal hergekommen?“, fragte die Pfarrerin überrascht.
„Ja, du warst noch nie besonders helle.“, antwortete die Gestalt.
„Kennen wir uns?“, fragte Sieglinde.
Die Frau trat hinter dem Altar hervor und kam auf die verunsicherte Theologin zu. Sie trug einen dunkelgrauen, knieumspielenden Popelinemantel mit kariertem Futter in den Aufschlägen, den sie in ihrer schmalen Taille mit einem Gürtel eng an den Körper gebunden hatte.
„Das ist wohl dein Fluch, Sieglinde“, erwiderte die Frau, „dass du dein eigen Fleisch und Blut nicht mehr erkennst, nachdem du uns verraten hast.“
Die Pfarrerin spürte, wie unfreiwillige Muskelkontraktionen ihr Gesicht zucken ließen.
„Brunhild!“, keuchte sie. „Was machst du denn hier? Ich habe gar keine Zeit, ich bin zum Taufgespräch verabredet.“
Brunhild lachte heiser. „Dick und doof wie eh und je.“, sagte sie. „Und habe ich dir nicht beigebracht, dich ordentlich zu waschen? Du riechst wie ein ganzer Schweinestall. Ach ja, und im übrigen bin ich das Taufgespräch.“
„Du durchtriebene Giftspritze!“, erwiderte Sieglinde. „Mach sofort, dass du hier rauskommst, du sadistischer Hungerhaken. Ich war schon vor zehn Jahren fertig mit dir und ich habe nicht die Absicht, den Faden wieder aufzunehmen.“
„Das musst du auch nicht.“, sagte Brunhild mit Unheil verkündender Stimme. „Deine Reise endet hier. Oder dachtest du tatsächlich, du würdest nach allem, was du der Familie angetan hast, mit heiler Haut und einem glücklichen, langen Leben davonkommen?“
„Nicht ich habe der Familie etwas angetan, das war unser Vater. Ich habe dafür gesorgt, dass wir wieder aufrecht durchs Leben gehen können.“
„Ach, jetzt bildest du dur auch noch ein, du hättest mit deinem niederträchtigen Denunziantentum die Familienehre wiederhergestellt?“
„So weit würde ich nicht gehen.“
„Oh, wie überaus rücksichtsvoll von dir. Du hast unseren Vater ins Gefängnis gebracht und ihn damit in den Selbstmord getrieben. Der Kummer hat unsere Mutter todkrank gemacht, und Helmut stürzt von einer Depression in die nächste und kriegt sein Leben nicht in den Griff. Ich darf alles, so gut es geht, zusammenhalten, und du machst erst alles kaputt und lässt uns danach im Stich in unserem Elend. Nicht einmal deine alte Mutter besuchst du.“
„Meine alte Mutter hat die Verbrechen ihres Ehemanns gedeckt und auch ideologisch mitgetragen. Weißt du, wie viele Juden er ins KZ gebracht hat?“
„Nein, und das ist mir auch egal.“
„Ach, das ist dir egal, dass unser Vater ein Massenmörder war, aber wenn ich nicht zulassen will, dass der Mantel des Schweigens über diesem Verbrechen ausgebreitet wird, werde ich plötzlich zur Täterin? Und mach mir nicht Helmuts Depressionen zum Vorwurf! Helmut ist an seinem verlogenen und erbarmungslosen Elternhaus zerbrochen, der war schon depressiv bevor ich unseren Vater angezeigt habe. Im übrigen hatte ich im Gegensatz zu dir zu Helmut noch regelmäßig Kontakt. Der fühlt sich eher von seiner Mutter und von seiner großen Schwester im Stich gelassen.“
„Ja, so warst du schon immer.“, zischte Brunhild. „Das unschuldige Küken, dem 1945 die Gnade der späten Geburt zuteil wurde, während ich schon auf der Welt war, als der Krieg begann. Ich war erst neun, als du geboren wurdest. Helmut war fünf und hing dauernd an meinem Rockzipfel und du hast immer nur geschrien und unsere Mutter war zu krank, um dich zu versorgen. Aber du hast dich immer nur von allen bemuttern lassen. Nie musstest du dir etwas erkämpfen, alles ist dir einfach in den Schoß gefallen und zum Dank zerstörst du die, die alles für dich getan haben. Aber weißt du was? Ohne mich wärst du niemals erwachsen geworden. Darum nehme ich mir jetzt auch das Recht, mir das zurückzuholen, was ich zu viel gegeben habe.“
Wie der Blitz schnellte Brunhilds Arm aus der Manteltasche hervor. Einem Traum gleich nahm Sieglinde für den Bruchteil einer Sekunde eine schwache Lichtreflexion wahr, dann einen unsäglichen Schmerz, dann gar nichts mehr.

Sieglinde Ostholt, eine vielversprechende, junge Pfarrerin, wurde nur dreißig Jahre alt. Der Küster fand sie am nächsten Morgen vor dem Altar, die Kerzen waren fast heruntergebrannt, aber sie leuchteten noch. In der Pfarrerin brannte nichts mehr, sie war kalt und erstarrt. Ein Täter wurde nie ermittelt. Erst Tage später stellte man fest, dass jemand die Hauptsicherung für die Stromversorgung herausgenommen hatte. Man ging von einem psychotischen Einzeltäter aus, und eigentlich lag man damit gar nicht so verkehrt. Niemand sah einen Zusammenhang zu dem wenig später folgenden Suizid eines arbeitslosen Werkzeugmachers in einer anderen Stadt. Er war fünf Jahre älter als die Pfarrerin. Und er hieß Helmut.

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Dienstag, 31. Oktober 2017
Hallo, liebe Lesenden,
schaut doch heute, am Reformationstag, mal bei dem blog Anarchische Christliche Kirche vorbei. Ich freue mich über viele Kommentare.

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Freitag, 27. Oktober 2017
Troll – kirchenferner Kurzkrimi und vielleicht ein Entwurf für ein Buchprojekt in 2019
Keller war völlig hilflos, er konnte die zitternde und schluchzende Frau einfach nicht beruhigen. Wo blieb denn Kerkenbrock, die hatte so etwas doch drauf.
Das Opfer lag noch immer im Wohnzimmer, auf dem Rücken ein roter Fleck, nicht besonders groß, es war kaum Blut aus der Stichwunde gedrungen, weil der Täter mitten ins Herz gestochen hatte, da wurde kein arterielles Blut mehr aus dem Körper heraus gepumpt.
Es drang so ein ungemütliches Geräusch aus irgendeiner Ecke des Raumes.
„Was ist das für ein Summen?“, fragte Keller und sparte sich das Attribut „ungemütlich“. Die Frau musste sich kurz sammeln, dann stellte sie fest: „Das kommt vom Laptop. Der Ventilator ist angesprungen.“
„Sind Sie dort unterbrochen worden oder Ihr Lebensgefährte?“
„Da war der Axel zuletzt dran.“
„Darf ich mir einmal ansehen, was er aktuell geöffnet hatte?“
„Aber sicher.“, sagte die Frau, drückte eine Taste, gab ein Passwort ein und drückte auf Enter. Ein Blog erschien. Sie bot Keller den Stuhl vor dem Schreibtisch an, auf dem der Laptop stand. Keller musste sich kurz orientieren und erkannte dann, dass das Opfer sein eigenes Weblog geöffnet hatte. Er nannte sich Bankrottkinn und das Blog hieß „Anarchie für alle“. Bankrottkinn hatte geschrieben:
„Eher rauche ich 'ne Camel durchs Nadelöhr, als dass ich 'n Reichen in mein Himmelbett lasse.“
Darunter standen Kommentare.

ARGONAUT:
Nur kein Neid.

KUCKUKSEI:
Ach, jetzt kommt der Odysseus wieder mit der Neid-Debatte. Würde wohl gern selbst zu den Beneideten gehören. Hat nur nicht gereicht.

ARGONAUT:
Bei mir reicht es noch zu mehr als bei euch beiden zusammen!

KUCKUCKSEI:
Oh ja, Traktoristen leisten einen wertvollen Beitrag zu unser aller Ernährung!

BANKROTTKINN:
Vorsicht, Kuckucksei, wer für den Spott sorgt, trägt am Ende den Schaden. Irgendwann findet Odysseus Dich und dann...

KUCKUCKSEI:
Wieso sollte der mich finden? Der verfährt sich doch dauernd.

BANKROTTKINN:
Ich glaube der wundert sich die ganze Zeit, dass wir ihn Odysseus nennen und nicht J.T. Kirk. Sicher weiß er nicht, dass es Astronaut heißt.“

ARGONAUT:
In humanistischer Bildung könnt ihr zwei Linksterroristen im Geiste mir nicht ansatzweise das Wasser reichen. Ihr habt doch nie eine Uni von innen gesehen. Habt ihr überhaupt Abitur?

KUCKUCKSEI:
Als Wasserträger stehe ich grundsätzlich nicht zur Verfügung, aber ich habe schon eine Ini von unten gesehen, das schlägt sogar Uni von hinten.

ARGONAUT:
Ja, von unten und von hinten, das passt zu euch. Aber rotzt hier nur weiter eure niveaulosen Beiträge ab. Eure Tage sind gezählt.

BANKROTTKINN:
Jetzt hab' ich aber Angst.

FEUERTEUFEL:
Man sollte sich nie zu früh einbilden, dass man die Katze im Sack hat, Argonaut.

KUCKUCKSEI:
Um die Katze im Sack zu haben, braucht es schon ziemlich dicke Eier.

FEUERTEUFEL:
Kuckuckseier?

KUCKUCKSEI:
Ja genau.

Hier endete die Kommentar-Leiste. Im Präsidium mussten die Spezialisten für soziale Netzwerke antreten. Keller ermittelte inzwischen in alle Richtungen, denn als Angehöriger der linksautonomen Szene konnte Axel K. Auch ein Opfer politischer Gegner oder Konkurrenten geworden sein. Als Privatmann konnte ihm ein Konflikt auf der Beziehungsebene zum Verhängnis geworden sein. Doch dann brachten die Nerds aus der Mausklickabteilung den Durchbruch:
ARGONAUT betrieb ein Blog namens „Hart am Wind“. Nur um zu zeigen, welch krudes Gedankengut er dort zum Besten gab, lasen die Kollegen etwas vor:

„Die, die der Gesellschaft vorwerfen, die Freiheit zu beschneiden, auszugrenzen und zu manipulieren, sind in Wahrheit selbst die Strippenzieher. Sexuell Perverse behaupten öffentlich, sogenannter Blümchensex sei minderwertig und die Ausnahme. In jeder Fernsehsendung moderiert jemand mit fremdem, kulturellem Hintergrund, und die Politiker wollen uns zwingen, unsere Mehrheitsgewohnheiten den Gewohnheiten einer Minderheit unterzuordnen, Stichwort: Schweinefleisch. Wir sollen im Sitzen pinkeln, im Schneckentempo fahren, die Zeche für die Faulenzer bezahlen und dabei freundlich bleiben. Wehrt euch, wenn ihr bei Verstand seid! Natürlich müsst ihr euch dabei auch die Finger schmutzig machen, denn man bleibt nicht sauber, wenn man gegen den Wind kotzt.“

Doch das war nicht alles.
Jonathan S., der gleiche Mann, der sich hinter ARGONAUT verbarg, steckte seltsamerweise auch hinter dem Pseudonym FEUERTEUFEL. Das dazu gehörige Blog hieß „Steppenbrand“. Hier fanden sich nur ein paar dumme Sprüche wie z.B.:
„Wer mit den Hühnern schlafen geht, ist ein Sodomit.“
Beim Lesen dieses Blogs und dem Blog des Mordopfers war den Kollegen jedoch aufgefallen, dass Jonathan S., der sich als ARGONAUT verbal mit BANKROTTKINN bis aufs Blut bekämpfte, sich als FEUERTEUFEL mit ihm angefreundet hatte.
Nun saß Jonathan S. Im Verhörraum. Er hatte unvorsichtigerweise Spuren am Tatort hinterlassen.
„Wie haben Sie es gemacht?“, fragte Keller. „Wie haben Sie Axel K. Ausfindig gemacht?
„Das war nicht schwierig.“, erwiderte Jonathan S. „Diese Loser-Blogger sind alle eitel bis in die Haarspitzen und dumm dazu. Ich habe ihm als Feuerteufel genug Honig um den Bart geschmiert, ihm nach dem Mund geredet, bzw. nach dem Geist geschrieben, wie auch immer. Er hielt mich für einen Gesinnungsgenossen und abonierte „Steppenbrand“. Da habe ich ihm eine Mail geschrieben, er hat geantwortet und blöd, wie er war, stand sein voller Name in seiner Mail-Adresse. Nun ist Kaczmarek kein häufiger Nachname und wenn einer dauernd davon schreibt, dass er in einer Ostwestfalen-Metropole lebt, ist klar, dass das nur Bielefeld sein kann. Seine Adresse stand zwar nicht im Telefonbuch, aber er ist politisch aktiv und so habe ich mich in seinem Biotop rumgetrieben. Man muss nur ein paar kuhäugige Mädchen fragen, wo denn der Axel wohnt, man hätte ihn aus den Augen verloren, hätte aber im politischen Kampf so viel gemeinsam durchgestanden und schwups hatte ich die Adresse. Ich habe dann einfach geklingelt, ihm ein Märchen von einer politischen Combo in Berlin erzählt, zu der ich angeblich gehöre und er hat mich in die Wohnung gelassen. Als er mir den Rücken zudrehte, habe ich zugestochen.“
„Aber Sie hatten doch kurz vorher noch in seinem Blog Kommentare geschrieben.“
„Ja, so wiegt man sein Opfer in Sicherheit. Es wähnt einen zu Hause am Rechner, dabei geht das ja heute alles mit dem Smartphone.“
„Und warum haben Sie es getan? Warum haben Sie beschlossen, Axel Kaczmarek zu ermorden?“
„Ich würde es nicht direkt ermorden nenne, eher eliminieren. Diese Zecken verseuchen unser Land mit Gewalt, Niveaulosigkeit, Bildungsferne, Verwahrlosung und Verrohung der Sitten. Haben Sie mal gelesen, was für einen Schmarren der im Netz veröffentlicht? Da kommt jedem anständigen Menschen augenblicklich die Galle hoch. So ein Gesindel verseucht die nachfolgenden Generationen mit seinen kranken Gedanken. Da muss mal jemand aufräumen, das Kraut ausjäten. Eigentlich wäre das ja die Aufgabe der Polizei, aber die Politik bindet Ihnen ja die Hände. Ich verstehe, dass Sie nichts tun können. Darum tue ich etwas. Und wenn Sie mich verdammt nochmal nicht aufgehalten hätten, hätte ich noch sehr viel mehr erreichen können.“

Jonathan S. War noch so jung. Sechsundzwanzig Jahre, Lehramtsstudent, ein Mann mit Perspektive. Doch welche Perspektive hatte er jetzt? Fünfzehn Jahre Gefängnis, keinen Abschluss, eine Familie hatte er auch noch nicht gegründet. Er wäre Einundvierzig bei seiner Entlassung. Ronja würde ihn bis dahin verlassen. Bei der patenten, attraktiven Erzieherin würden die Anwärter zu Fortpflanzung Schlange stehen. Da halfen auch Jonathans romantische Gefühle und ihre ehrliche Liebe nicht. Nicht nach dem, was er getan hatte.
Und wenn jemals herauskäme, was er noch alles getan hatte, würde er die geschlossenen staatlichen Einrichtungen nie mehr verlassen.

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