Freitag, 12. Januar 2024
Spoiler 13
1986
Niemand von den neuen Mitkonfirmanden und Mitkonfirmandinnen besuchte Raimunds Schule. Sie stammten alle aus Häger, aber er konnte nicht behaupten, dass er sie kannte. Wie sie wohl waren? Sie machten durchweg einen fröhlichen, unkomplizierten Eindruck, aber er traute dem Frieden nicht. Er wollte nicht wieder zur Zielscheibe von Spott und üblen Streichen werden. Er legte sich die Miene eines einsamen Killers zu: finster, abweisend, geheimnisvoll. Die Rechnung ging auf. Die anderen gingen ihm aus dem Weg und er hatte seine Ruhe. Er saß seine Zeit ab, erledigte hin und wieder die Hausaufgaben, saß blass, stumm und teilnahmslos auf seinem Stuhl. Vielleicht fiel dem Pfarrer das auf, aber er nahm es nicht zum Anlass, das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Der Junge störte ja nicht. Seine Lustlosigkeit war kein Einzelfall und seinem Alter geschuldet.
So sollte es die nächsten zwei Jahre weitergehen: leise, mürrisch, zurückgezogen.

In der Schule war er nicht sehr viel anders. Er hatte ein paar Freunde, war aber oft apathisch und teilnahmslos. Mitschüler und Lehrer hielten das für zur Schau gestellte Lässigkeit und Arroganz. Niemand kam auf die Idee, dass etwas nicht stimmte. Niemand ahnte, dass Raimund schlecht schlief, dass er aus Alpträumen erwachte, verzweifelt versuchte, seiner Mutter auszuweichen, die immer wieder viel zu nah kam, auf so merkwürdige Weise, von der er nicht sicher war, ob alle Mütter so etwas taten und er wagte nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Damit wäre er aus dem Rahmen seines nach außen getragenen Bildes gefallen, dem Bild eines ganzen Kerls, unerschütterlich, nicht leicht zu beeindrucken, stark und überlegen, einer, der weiß, wo es langgeht.
Genau so wurde er wahrgenommen. Das spiegelten ihm seine Freunde und auch manche Lehrer. Und so wurde er langsam stärker, auch wenn sie blieb, die Angst vor dem gewalttätigen Vater und der übergriffigen Mutter. Er legte sich einen Panzer zu, an dem er die Angriffe abprallen ließ, damit sie nicht bis in seine Seele vordrangen. Schläge hielt er aus, der Mutter konnte er meistens entkommen und wenn nicht, ließ er es eine Weile zu, um sich dann bald unter einem Vorwand wieder zu entziehen. Doch dann wurde Ingrid fordernder. Sie behandelte ihn wie ein Zwergkaninchen, ein Tier, das man versorgt, damit man etwas zum Kuscheln hat. Und wenn das Tier nicht will, dann wird es geschlagen und festgehalten und auch gegen seinen Willen drückt man es an sein Herz, vergräbt die Nase in seinem weichen Fell, zwingt ihm die vermeintliche Liebe auf, um die es nicht gebeten hat und die doch eigentlich nur ein Bedürfnis nach physischer Nähe und Wärme oder dem angenehmen Gefühl der Berührung von seidig weichem Fell ist. Es geht nur um die eigenen Bedürfnisse. Liebe ist etwas anderes.
Tief im Inneren wusste Raimund das auch, doch er hatte keine Worte dafür. Stattdessen wappnete er sich, verdrängte, verhärtete. Er hatte ein großes Ziel vor Augen: Er würde aus der Opferrrolle herauswachsen und es allen zeigen.

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