Freitag, 18. November 2022
Ohne Abzüge
Svenja ließ Lovis durchs Unterholz rennen. Das war zwar nicht erlaubt, aber der Hund brauchte auch mal seine Freiheit und so ein herzensguter, weiblicher Goldy richtete keinen Schaden an, scheuchte höchstens ein paar Hasen, Rehe und Fasane auf. Das taten die Weidmänner bei der Treibjagd auch und schossen sie zu allem Übel noch über den Haufen. Regeln sind gut, man sollte sie einhalten, aber man sollte auch sein Gehirn einschalten und die Regeln ausschalten, wenn sie übertrieben oder in einer speziellen Situation völlig sinnlos waren. So sah Svenja das.
Es lief dann leider nicht so gut für sie. Sie wurde erwischt bei ihrer Ordnungswidrigkeit. Plötzlich hörte sie Lovis in der Ferne winseln und es dauerte ein bis zwei Minuten, bis sie sie gefunden hatte. Sie befürchtete das Schlimmste: Ein Fuchseisen oder die Wirkung eines Giftköders. Aber es war weitaus Schlimmer, wenn auch nicht für ihren Hund. Lovis hatte etwas ausgebuddelt, eigentlich nur Laub hinweg gescharrt und etwas freigelegt. Jemanden. Einen Mann, leblos, schmutzig vom feuchten Waldboden und mit einer bösen Kopfwunde geschlagen. Svenja schrie vor Entsetzen. Da ließ Lovis von ihrem Fund ab.

Es wurde bereits dunkel und Frieder hielt die Stirnlampe bereit, denn im Unterholz war es so finster, dass er sich keinesfalls zurechtgefunden hätte. Doch als er näher kam, bemerkte er, dass eine ausreichende Beleuchtung nicht sein Problem war. Nahezu taghell war es an der Stelle, blau-weiße Absperrbänder säumten den weiteren Umkreis. Gut, dass er seine Lichtquelle noch nicht eingesetzt hatte, ausrichten konnte er ohnehin nichts mehr, am besten war es, schnellstens nach Hause zurückzukehren.

"Gibt es Hinweise auf die Identität des Verstorbenen?", fragte Keller und massierte die steifen Hände in der feuchtkalten Nachtluft.
"Ein Jogger", erwiderte die Pathologin. "Die tragen selten Dokumente bei sich. Dieser hier hat nicht einmal ein Mobiltelefon dabei. Aber einen Hausschlüssel. Vielleicht müssen wir die Vermisstenmeldungen abwarten."

Das Warten lohnte sich. Eine Frau meldete ihren Mann als vermisst, wurde zur Leichenschau in die Gerichtsmedizin gebeten und identifizierte ihn als Rainer Nonnsen, Pfarrer im Ruhestand, seit gerade einmal vier Monaten. Nein, Feinde hatte er nicht gehabt, warum auch, er sei ein liebenswerter Mensch gewesen, der Konflikten grundsätzlich aus dem Weg gegangen war. Das musste ein Wahnsinniger gewesen sein, dessen beliebiges Opfer er zufällig geworden war.

Die Nachbarn sahen es genauso. Kerkenbrock überlegte, ob man zum Presbyterium seiner ehemaligen Gemeinde hinzu stoßen könne. Keller willigte ein, wenn auch unter unwilligem Grunzen.

Als die Beamten sich am folgenden Abend dem örtlichen Kirchenparlament vorstellten, lief es Frieder kalt den Rücken hinunter. Ob sie etwas witterten? Er spulte die eigene Geschichte wie im Zeitraffer vor seinem inneren Auge ab, um sich zu wappnen und zu entscheiden, was er preisgeben konnte und was nicht.
Frieder Handlanger: Grundschule in Friedberg, Kinder-Gottesdienst- und Jungschar-Kind, Realschule in Kosen, Freizeit in der Evangelischen Jugend Friedberg, Jugendleiterschulung, langjährige Mitarbeit, Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann bei Gerds Textilien, Abendgymnasium, Abitur, Aufstieg zum Prokuristen, Zusammenbruch, Rückkehr ins Leben durch Engagement in der Freizeitarbeit der Gemeinde, Umschulung, Quereinsteiger als Grundschul-Lehrer, Kandidatur für das Presbyteramt, Wahl zum Jugendpresbyter, seit nunmehr sechs Jahren.
Vor vier Monaten wurde Pfarrer Rainer Nonnsen in den Ruhestand verabschiedet. Bei der anschließenden Presbyteriumssitzung ging es um neue Hiobsboschaften aus dem Finanzsektor. Der Plan, das Gemeindehaus zu vermieten und die Kirche umzubauen war nicht umsetzbar. Alles muss weg, die Gemeinde musste sich mit den Nachbarn zusammentun und die Personaldecke im nicht pastoralen Bereich musste ebenfalls um 50 % gekürzt werden.
Frieder hatte vorgeschlagen, in der anderen Gemeinde zu gucken, was da an Kapazitäten sei und dann zu entscheiden, wo Einschnitte vorgenommen würden. Das hatte man getan. Dann hatte er zwei Tage vor dieser Sitzung das Ergebnis erfahren: Die Jugendreferentin kann eingespart werden.

Ihm war bewusst geworden, dass es nie so weit gekommen wäre, wenn Nonnsen sich bereits fünf Jahre früher in den Ruhestand verabschiedet hätte, dazu war er aber nicht bereit gewesen, weil das Abzüge von seiner Pension bedeutet hätte. Damals hätte man die Jugendreferentin direkt als IPT-Kraft einstellen und weitere fünf Jahre halten können. Sie hätte dann teilweise andere Aufgaben übernehmen müssen, hätte aber bleiben können und den Ehrenamtlichen weiterhin als Ansprechpartnerin zur Verfügung gestanden. Jetzt war es dafür zu spät. Man würde die 60-Jährige in die Arbeitslosigkeit entlassen.
Frieder wollte eine lebendige Gemeinde, eine spirituelle Heimat für Anwohner, einen fußläufig erreichbaren Ort für alle.
Die finanzielle Krise verhinderte die Erreichung dieses Ziels. Und der Schuldige an dieser verheerenden Situation hatte die Kirche mehrere Dekaden ein fettes Gehalt gekostet. Er war stets ein totaler Arbeitsverweigerer gewesen und hatte die Pension nicht verdient, nicht einmal eine mit Abzügen, erst recht keine so umfangreiche, wie es jetzt der Fall war. Er hatte sich sein ganzes Arbeitsleben lang geschont, er würde steinalt werden und die Kirche ein Vermögen kosten.

Frieder hatte gefühlt, wie die Wut seine Seele vergiftete. Am Ende bekäme er wieder ein Magengeschwür. Die Energien mussten ausgeleitet werden. Er war in die Laufschuhe geschlüpft, um sich eine Stunde im Wald auszutoben.
Im Rhythmus seines Atems hatte er einen Fuß vor den anderen gesetzt, die Last war langsam von ihm abgefallen. Probleme verlangten nach Lösungen. Er war Mitglied des Presbyteriums. Sie würden gemeinsam Lösungen finden.

Ein anderer Läufer war ihm entgegengekommen. Als er sich näherte, hatte er ihn schließlich erkannt. Er war Rainer Nonnsen in den Weg getreten, hatte ihn am Weiterlaufen gehindert und ihn zum Gespräch gezwungen.
"Hallo Rainer. Ich weiß nicht, ob du es wusstest, aber die Finanzsituation deiner ehemaligen Gemeinde ist mittlerweile dermaßen prekär, dass Olivia ihren Arbeitsplatz verliert. Ersatzlos. Und wir stehen ohne Jugendreferentin da. Das wäre nicht passiert, wenn du vor fünf Jahren freiwillig gegangen wärst, denn eigentlich hattest du ja schon längst keine Lust mehr. Ich finde, du bist es Olivia schuldig, dich für sie einzusetzen. Lass deine Kontakte spielen, damit sie nicht auf der Straße landet. Das ist das Mindeste das du tun kannst, um deine Schuld auszugleichen."
"Solche Frechheiten muss ich mir nicht mehr anhören.", hatte Rainer Nonnsen schnippisch erwidert. "Ich habe mit alldem nichts mehr zu tun, ich bin im Ruhestand."
"Du bist aber immer noch Teil dieser Gemeinde und kannst als Gast an den Sitzungen des Presbyteriums teilnehmen."
"Ja und? Warum sollte ich mich für Olivia einsetzen? Sie kostet eine Haufen Geld und eine Sechzigjährige ist doch wirklich eine Zumutung für die Jugendlichen. Da finden sich sicher gute Lösungen auf kreiskirchlicher Ebene. Friedberg wird nicht die einzige Gemeinde sein, die derartige Einschnitte vornehmen muss. Außerdem habe ich keine Kontakte, die mir irgendeine Einflussnahme ermöglichen. Da muss ich dich enttäuschen."

Im Verlauf dieses Monologs war der Druck in Frieders Kessel kontinuierlich angestiegen. "Pech für dich.", hatte er geantwortet, nach einem kräftigen Ast gegriffen und damit auf den Schädel des Pensionärs eingedroschen, bis dieser blutend zusammengebrochen war.
Ohne lange zu überlegen, hatte Frieder den leblosen Körper tief ins Unterholz geschliffen, um ihn dort später zu begraben. Inder Dunkelheit hatte er mit Spaten und Stirnlampe zurückkehren wollen. Die Leiche hatte er provisorisch mit Laub bedeckt.

Jetzt saßen die vermeintlich ahnungslosen Polizisten im Presbyterium und stellten eigenartige Fragen. Niemand deutete auch nur an, dass Nonnsen ein arbeitsscheuer Parvenü gewesen war, der jeder Auseinandersetzung aus dem Wege ging, es sei denn, es betraf seine ureigensten, persönlichen Interessen. Seine Predigten waren blutleer gewesen, sein Engagement nicht existent und im Pfarrkonvent hatte er keine Freunde gehabt. Es gab auch Mitglieder dieses Gremiums, die sich gern in seinem Dunstkreis bewegt hatten, weil es ihrem Leben ein Flair von gesellschaftlicher Bedeutung verlieh. Man ging bei Pfarrers ein und aus, man gehörte zur illustren Gesellschaft. Das waren die Substanzlosen, die man in jedem Gremium aus Freiwilligen vorfand. Aber einige hier sahen die Dinge genauso wie Frieder. Nur aussprechen wollte sie niemand und er am allerwenigsten.

Sie kamen ihm nicht auf die Schliche. Die Ermittlungen wurde irgendwann eingestellt. Aber Frieder fand keine Ruhe mehr. Nonnsen wurde er nie wieder los.

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