Freitag, 22. Januar 2021
Keine Gnade
Regina wollte eigentlich zu Hause bleiben. In der Frühschwangerschaft musste sie sich schonen, zu groß war das Risiko einer Fehlgeburt. Aber Vater hatte gemeint, sie müsse sich mal wieder im Gottesdienst blicken lassen. In der Gemeinde munkele man schon über sie.
Regina liebte die Gemeinschaft, den geschützten Raum, die emotionale Sicherheit, die die Gemeinde ihr bot. Sie glaubte aber nicht daran, dass eine Versammlung zum Gebet einem Virus die Stirn bieten konnte. Vielleicht verbesserte es die Immunabwehr und half einem, schwere Prüfungen zu bestehen, aber den naiven Glauben an einen göttlichen Automaten, der seinen Gläubigen alles gibt, was sie brauchen, hatte sie schon in der Pubertät aufgegeben. Schon blöd, dass alle ohne Mund-Nasen-Schutz gingen, keine Abstände einhielten und aus voller Kehle sangen. Vater hatte bereits angemerkt, dass man nicht so sorglos sein könne. Aber sich über Monate entziehen? Das sei auch keine Lösung.
Regina seufzte, strich sanft über den noch flachen Bauch und fasste einen Entschluss: Sie würde sich mit einer Maske schützen und auf Abstand ganz hinten sitzen. Das war sie ihrem Kind schuldig. Das würden alle verstehen.

Er hatte sich gerade mit Gockel getroffen. Der war auch schon voll auf Schaum. Letzten Monat war Gockels Vater gestorben, elend verreckt, erstickt an Covid 19. Gockels Vater hatte neben den Betbrüdern in der Wurstfabrik geschuftet. Die hatten das eingeschleppt. Er hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Und Maik war jetzt auch bereit, endlich zu handeln. Er wollte sich mal wieder unbehelligt mit seinen Kumpels im Park treffen und nicht heimlich, mit gedrosselter Alk-Zufuhr, damit man nicht die Aufmerksamkeit der falschen Leute auf sich zog. Könnte alles viel unbeschwerter sein, wenn nur dieses Scheiß Christenpack von den Freikirchen nicht dauernd die Zahlen nach oben treiben würde. Die waren schlimmer als die Taliban und der IS zusammen.
Als die Lunte gelegt und die Fluchtwege verbarrikadiert waren, zögerte Maik noch einen Augenblick. Der innere Zwerg der Empathie wollte ihn zurückhalten. Man konnte doch nicht einfach Menschen verbrennen. Die waren doch sicher nicht allesamt gefährliche Idioten. Maik schlug den Zwerg zu Brei. Er hatte sich entschieden. Sein Sturmfeuerzeug setzte die Kettenreaktion in Gang.

Regina wurde auf einmal sehr warm. Es war so stickig in der Kirche. Oder lag das an der Maske? Aber die trug sie beim Einkaufen doch auch und hatte sich längst daran gewöhnt. Dann roch sie es.
„Feuer!“, schrie sie. Erst hörte sie ein Gemurmel, dann aufgeregtes Rufen, dann Schreie der Todesangst. Alle rasten auf die Ausgänge zu, rannten sich gegenseitig über den Haufen, suchten nach Rettung. Sie musste ihr Kind schützen und mit dem letzten funktionierenden Rest ihres Verstandes suchte sie ihren Ausweg dort, wo niemand sonst es probierte: das kleine Fenster im Toilettenraum. Sie konnte kaum noch atmen. Der Rauch war undurchdringlich. Sie hatte es bis zum Griff geschafft, aber das Fenster ließ sich nicht öffnen. Irgendetwas blockierte den Mechanismus. Mit letzter Kraft griff sie nach einem Gegenstand, einem metallenen Schwingdeckel-Mülleimer. Sie schlug damit so lange verzweifelt gegen die Scheibe bis sie krachend zerbrach. Ein Windstoß fuhr hinein. Ein Moment der Erleichterung breitete sich in ihr aus, aber der dauerte nicht lange. Das Feuer bekam durch das geöffnete Fenster nur neue Nahrung. Ein letztes Mal öffnete Regina den Mund zu einem Schrei, dann sank sie entseelt auf die Kacheln.

Als Maik die Schreie hörte, bäumte der innere Zwerg der Empathie sich ein letztes Mal auf und merkte an, dass sich das irgendwie falsch anfühlte. Maik ertränkte den Zwerg endgültig mit einem kräftigen Schluck Wodka. Gnade war etwas für Mittelmäßige. Er hatte seinen Platz gefunden.

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