Freitag, 15. Januar 2021
Selbstaufgabe
Am liebsten hätte er sie alle erschossen. Die ganze selbstgerechte Mischpoke samt und sonders. Haben einfach seinen Vertrag nicht verlängert. Meinten, sie wüssten es besser als er.
Er hatte sich ausgemalt, wie das Projektil Beyers Brust zerfetzte und seine fischigen Glubschaugen noch deutlicher hervortraten als sie es ohnehin schon taten; wie er blutend über seinen Zahlenkolonnen zusammenbrach und nach einem letzten Zucken das Atmen einstellte.
Er sah Struck, wie er die knochige Hand auf seinen langen Hals presste, zwecklos, weil das Blut pulsierend aus seiner verletzten Aorta schoss, vielleicht dreißig Sekunden, dann brach er ohnmächtig zusammen. Nie wieder selbstgefälliges Geschwafel aus seinem Mund, was für eine Wohltat.
Und die dumme Kirschstein, die immer alles abnickte, einmal direkt in die Schläfe und Schluss. Sagte nur noch einmal wortlos ja und zwar zum eigenen Tod.

Doch das passierte nur in seiner Phantasie. Er war das Opfer, fügte sich still in sein Schicksal und verzweifelte an dieser Welt. Die anderen machten weiter.

Wir sind im Schwarz-Weiß-Zeitalter angekommen. Grautöne verschwinden. Farben auch. Nicht die grellbunten, die digital oder chemisch generierten, die in den Augen brennen, sich festsetzen in unseren reizbaren Gehirnen und uns emotional erblinden lassen.
Nein, die warmen Farben, die sanften Zwischentöne, das Ungefähre, der Zweifel.

Jeder ist sich sicher. Alle wissen Bescheid. Man hat es schon immer gewusst. Dieses ist richtig, jenes ist falsch. Wer das nicht versteht, muss eingenordet werden. Ins Wort fallen, immer lauter reden, Argumente abfeuern wie Maschinengewehrsalven, Links setzen, Verbündete dazu holen. Und wenn das alles nicht hilft: rausschmeißen, aussperren oder einsperren, ignorieren, blockieren, auslachen, entwerten.

Was gar nicht mehr geht: Zuhören. Braucht zu viel Zeit. Gibt auch viel zu viel. Man muss sich entscheiden, wählt man lieber das Bekannte, das Bestätigende. Man will sich schließlich wohlfühlen.

Was außerdem nicht mehr geht: Nachdenken. Langweilig wie ein alter Film mit starrer Kameraeinstellung, praktisch ohne Schnitte. Gefangen im eigenen Kopfkino, in dem die ganze Zeit Arthouse-Filme laufen, die man nicht versteht. Das macht nervös, unzufrieden, zieht so runter. Nein. Action ist angesagt. Machen machen machen. Kurze Instant-Info und dann reden reden reden. Oder posten. Hauptsache: raushauen. Eine Meinung haben. Einen unerschütterlichen Standpunkt. Darauf kommt es an.

Das Hamsterrad rast auf eine Feuersbrunst zu. Es wird immer heißer und alle wissen Bescheid.
„Das ist, weil wir alle so in Action sind.“
„Das ist manchmal einfach so.“
„Das kommt von den Karierten.“

Die Karierten. Endlich haben wir einen Schuldigen gefunden. Wenn wir die Karierten rauskicken, ist es nicht mehr so heiß. So nach und nach sehen immer mehr von uns das ein. Die es nicht einsehen wollen, kicken wir auch raus. Dann wird es noch kühler.
Läuft doch.

Ja, läuft.

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