Samstag, 19. September 2020
Spinner
Sie war schon fünf mal daran vorbei gelaufen. Sie wollte sich jetzt nicht damit befassen. Noch nicht. Aber irgendwann würde sie sich darum kümmern müssen. Bald schon. Bevor es anfing, schlecht zu riechen. Ja, das konnte sie nicht eine Woche herumliegen lassen, so wie er seine Socken im Bad.
Sie mixte sich einen großen Martini, so als sei Sommer, mit Zitrone und Eis, machte sich eine Wärmflasche, stopfte die unter den Pullover, wickelte sich in die dicke Kamelhaardecke und setzte sich so auf den Balkon. Die untergehende Sonne ließ den Cocktail Kristalllüster-artig glitzern, so wie vor vielen Jahren auf der Terrasse mit Meerblick im Norden Siziliens, wenn sich die lauen Aprilabende zum Ende neigten.
Der Alkohol machte ihr das Herz leicht und senkte die Schranken in ihrem Kopf, die Hemmungen, den Ekel. Die Süße half ihr, sich lebendig zu fühlen und die Erinnerung an die Zeit ihrer Jugend tat das Übrige.
Als sie sich frisch gestärkt fühlte, setzte sie sich dem Anblick endlich in vollem Umfang aus. Völlig absurd lag er da neben dem Heimtrainer, dem Spinner, wie er ihn immer wichtigtuerisch genannt hatte. Es roch noch säuerlich nach seinem Schweiß. Seine evangelische Verschwendungsphobie war ihm zum Verhängnis geworden. „Nein, wir müssen keinen neuen Staubsauger kaufen, nur weil das Kabel lose ist, da kann man sich doch einfach in acht nehmen.“
Von morgens bis abends hatte er Konsumverzicht gepredigt. Gegen den Hunger in der Welt. Gegen den Klimawandel. Gegen die Verschwendung von Ressourcen. Gegen die Befeuerung des Kapitalismus. Aber selbst hatte er nie auf etwas verzichtet: alle paar Jahre eine neue Aktenmappe aus feinstem Leder, zwei Mal im Jahr Designerschuhe, alle zwei Jahre eine neue Gregory-Peck-Brille und sogar für den Heimtrainer spezielle Funktionskleidung. Trotzdem hatte der den Spinner regelmäßig mit seinem Schweiß vollgetropft und nie abgewischt.
Er hatte darauf bestanden, dass das Gerät im Wohnzimmer stand. Damit er nebenbei fernsehen konnte. Und – auch wenn er das niemals zugegeben hätte – damit er vor Freunden und Bekannten mit seiner Sportlichkeit protzen konnte. Millionen Männergespräche hatte sie schon über sich ergehen lassen müssen über technische Details des Fitnessgerätes. Dabei stellte es genauso einen Bruch im ästhetischen Konzept des Wohnzimmers dar wie seine leere Hülle.
Komisch. Sie hatte schon seit langem das Gefühl gehabt, eigentlich nur mit einer leeren Hülle verheiratet zu sein. Allerdings einer, die Geräusche machte: unkontrollierte Schnaufer, Schmatzer, permanentes Räuspern, lautstarkes Schnäuzen und vor allem theologische Fachvorträge ohne Substanz.
Was sie aber auch Jahr für Jahr immer mehr gestresst hatte, war die akribische Einhaltung seines Sportprogramms. Das Sirren des Rades, das Schnurrren der Pedale und dazu sein ambitioniertes Keuchen, gepaart mit dem Anblick eines Dahinwelkenden, der verzweifelt gegen den Verfall anstrampelte, in Gestank verbreitenden, hautengen Shirts, unter denen sich der Brustgurt zur Pulskontrolle abzeichnete. Schade sie hatte versäumt zu beobachten, wie die Anzeige ausschlug, in dem Moment als sie das Staubsaugerkabel an den Edelstahlfuß gehalten hatte. Es war Bestimmung gewesen. Sie hatte gesaugt, um das Sirren und Schnaufen zu übertönen, wenigstens für fünfzehn Minuten. Und dann war es passiert: das Kabel war aus dem Gerät gerissen, das Motorengeräusch erstarb und das rythmische Knarzen des Sattels begleitet von der Dynamik des Gerätes und dem schweren Atem des Zwangssportlers füllte den Raum so sehr aus, dass sie nicht mehr atmen konnte. Sie nahm das Kabel in die Hand. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass sie noch gar nicht fertig gesaugt hatte, so sehr war er bei sich und seinen Werten. Und dann hatte sie es einfach getan, ohne über die Folgen nachzudenken. Er hatte kurz innegehalten, sich ein wenig nach hinten überstreckt und war dann abgestürzt.
Jetzt musste sie eine Entscheidung treffen, doch sie spürte, dass sie noch nicht so weit war. Die ersten Jahre mit ihm waren ja noch ganz schön gewesen. Er hatte etwas hergemacht, als Pfarrer ein ordentliches Gehalt verdient, kannte interessante Geschichten und spannende Tatsachen. Nur war dieser Fundus irgendwann erschöpft gewesen, da war nichts Neues mehr hinzu gekommen und er war immer mehr dazu übergegangen, um sich selbst und seine Bedürfnisse zu kreisen. Vielleicht lag das am Beruf, bei dem man immer für andere da sein und sich selbst dauernd zurücknehmen musste. Wo alle einem das Herz ausschütten wollte, aber sich niemand für einen interessierte, außer vielleicht diejenigen, von denen man sich den größtmöglichen Abstand wünschte, weil sie nicht ohne Grund verzweifelt auf der Suche nach Sozialkontakten waren.
Aber in einer ehelichen Lebensgemeinschaft konnte man doch wohl erwarten, dass der Partner auch mal auf die Bedürfnisse seiner Angetrauten Rücksicht nahm und nicht immer und überall die Bedingungen vorgab. Jetzt hatte sie den Rahmen gesprengt und sie war nicht bereit, sich auch noch einen einzigen weiteren Augenblick von ihm einengen zu lassen. Nein, sie würde keineswegs die Polizei anrufen, sich schuldig bekennen und fünfzehn Jahre im Gefängnis büßen. Sie hatte ihre Strafe längst abgesessen, im Voraus.

Der Generalschlüssel für Gemeindehaus und Kirche hing im Pfarrbüro. Im Technikraum lagerte die Küsterin ihr Werkzeug. Da gab es auch eine Feine Stichsäge. Sie selbst hatte im Keller noch feste Malerfolie. Damit ließ sich doch etwas machen. Ihr würde schon etwas einfallen. Aber vorher noch einen schönen Martini auf dem Balkon. Und am Ende des Tages blinzelte sie zuversichtlich in den Sonnenuntergang.

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