Freitag, 22. Dezember 2017
Posttrauma
Noch drei Wochen bis Weihnachten, dachte Uschi, dann haben wir hier endlich wieder einmal so etwas wie normalen Alltag. Die Massen von Paketen waren kaum noch zu bewältigen, da war fast kein Platz mehr, wenn in der Filiale ein Feuer ausbräche, wären sie rettungslos verloren. Es war gerade mal 8.25 Uhr und schon staute sich eine entsetzlich lange Schlange vor dem Schalter, obwohl sie zu dritt waren. Das wäre ja alles noch irgendwie zu bewerkstelligen, wenn es nur um Paket- und Briefpost ginge, ja sogar Sendungen über die Grenze der EU oder Pakete in Übergrößen waren kein Problem für sie. Aber gerade wenn es besonders voll war, kamen die senilen Geizkragen mit dem Postbankkonto und wollten einen Dauerauftrag ändern oder irgendein Smartphone-Analphabet tauchte im Telefon-Shop auf, den sie nebenbei auch noch betreuen musste. Ihr Deo begann bereits zu versagen, auch wenn sie optisch noch in einwandfreiem Zustand war. Harald bewunderte sie täglich für ihre Disziplin, dass sie extra eine halbe Stunde früher aufstand, um die Haare ordentlich in Form zu bringen und ein akkurates Make-up aufzulegen, so dass sie immer tip top aussah. So bemerkte niemand, wie es bereits jetzt in ihr brodelte.
Als wäre das alles nicht schon mehr als genug gewesen, kam schon wieder die alte Schrunze aus der Kirchengemeinde in den Laden gestiefelt. Einfach nicht hinsehen, dachte Uschi, vielleicht will sie ja nur ihr Postfach leeren. Was hatte sie mit dieser Tante schon für einen Stress gehabt. Zuerst war sie aufgetaucht und wollte ein Postfach für die Gemeinde einrichten, sie hätten da ein Kooperationsprojekt mit einer Organisation, bei der höchst fragwürdige Menschen die Postanschrift bräuchten, aber ihnen wäre es lieber, die Adresse bliebe geheim. Eine Viertelstunde hatte die Alte sie zugetextet und Uschi hatte einfach Aufmerksamkeit vorgetäuscht und in Gedanken das Abendessen zu Hause geplant: Schweinemedaillons in Rahmsauce, Country-Kartoffeln mit French Dressing und Kaisergemüse. Zum Nachtisch hatte noch das Apfelkompott vom Vortag gereicht. Sie hatte der Kundin einen Flyer in die Hand gedrückt und erklärt, wie sie vorzugehen habe, dann war die Frau schließlich gegangen.
Drei Wochen später hatte sie wieder in der Filiale gestanden und gefragt, wo eigentlich der Schlüssel für das Postfach bliebe. Uschi hatte nachgesehen und es war verzeichnet, dass der Gemeinde der Schlüssel zugestellt worden war. Sie stritt das allerdings vehement ab und ihre Stimme überschlug sich, als sie schimpfte, was das denn für eine Unverschämtheit sei, einfach zu behaupten, sie hätten den Schlüssel bekommen, wenn das nicht der Fall sei. Uschi hatte nachgeforscht, alle Eventualitäten abgeklopft und wieder einmal viel zu spät Feierabend gemacht. Dann hatte sie geglaubt, nun sei alles geregelt, aber eine Woche später hatte die Kirchentante wieder im Laden gestanden und war voll auf Schaum gewesen. Uschi hatte es gereicht, sie hatte ihr den Schlüssel eines Ersatzschlosses gegeben, die bereits eingegangene Post aus dem Fach geholt und versprochen, das Schloss noch heute auszuwechseln.
Sie hatte es vergessen. Am kommenden Tag war die Trulla wieder im Laden und beschwerte sich, dass der Schlüssel nicht passte. Uschi hatte das Postfach geöffnet, ihr die eingegangenen Sendungen gereicht und zugesichert, sich gleich des Schlosswechsels anzunehmen.
Damit sie es nicht wieder vergaß, hatte sie sich gleich an die Arbeit gemacht, doch plötzlich stand die evangelische Gewitterhexe wieder hinter ihr.
„Hören Sie mal“, hatte sie gefaucht. „Was soll dieser Unsinn? Warum geht denn die Post, die an die Hausanschrift der Gemeinde adressiert ist, auch ins Postfach?“
„Das ist so geregelt.“, hatte Uschi ihr erklärt. „Das steht auch in den AGBs. Entweder man bekommt die Post zu Hause zugestellt oder ins Postfach. Beides geht nicht.“
„Das glaube ich Ihnen nicht.“ hatte die Furie gekontert. „Wir bezahlen doch nicht 20 € Miete im Jahr, damit der Zusteller sich die Arbeit erleichtern kann. Das ist doch eindeutig, dass Briefe, die an das Postfach adressiert sind, dorthin gehen und Briefe, die an den Kirchweg adressiert sind, direkt im Gemeindebüro zugestellt werden, sonst muss ja täglich jemand von uns hierher fahren und die Post abholen.“
„So ist das nun einmal!“, hatte Uschi zurück gefaucht. „Ich habe die Bestimmungen nicht gemacht. Wenn Sie also ein Problem damit haben, wenden Sie sich an den Kundenservice der Deutschen Post AG.“
„Sie hören noch von mir.“, hatte die Gemeindetante gedroht und dann wutschnaubend die Filiale verlassen.
„Sie will keine Brief mehr im Postfach haben?“ hatte Uschi vor sich hin gegrummelt. „Da kann ich sie zufriedenstellen.“
Von diesem Tag an war Uschi dazu übergegangen, hin und wieder ein Schreiben aus dem Postfach zu entfernen und vorübergehend in einem zu bunkern, das gar nicht vergeben war. Das würde ihr niemand nachweisen, sie trug dabei immer Baumwollhandschuhe. Als die Christentussi nun aber mit deutlich zornesrotem Gesicht in der Schlange hin und her trippelte, fragte sie sich, ob das mit der kleinen Schikane so eine gute Idee gewesen war. Nun musste sie sich womöglich schon wieder mit ihr herumärgern. Zum Glück war Helga mit Bedienen an der Reihe, als die Kundin vortrat. Uschi konnte aber nicht umhin, mit halbem Ohr zuzuhören.
„Hören Sie mal, ich habe am Donnerstag hier einen Brief mit Prio aufgegeben und der ist erst heute angekommen.“
Helga blieb freundlich und erklärte: „Da müssen Sie bei der Sendungsverfolgung anrufen und die Nummer...“
Die Krawallschachtel fiel ihr ins Wort: „Da habe ich längst angerufen und die behaupten, der Brief sei bereits am Freitag zugestellt worden. Ich habe aber am Sonntag mit der Empfängerin telefoniert und da war er noch nicht da. Am Telefon erklärte man mir, er sei zugestellt worden und ich könne höchstens einen Nachforschungsauftrag erteilen und zwar online. Das wollte ich auch, aber dort wird erklärt, dass das frühestens nach einer Woche möglich ist. Heute ist Mittwoch und fast eine Woche um und der Brief, für den ich extra Gebühren bezahlt habe, damit er bevorzugt behandelt wird, ist vorsätzlich verschleppt worden. Ich verlange mein Geld zurück. Eigentlich müsste ich die Post verklagen, das sind ja betrügerische Praktiken, wenn einfach behauptet wird, ein Brief sei zugestellt worden, obwohl das gar nicht der Fall ist.“
„Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“, erklärte Helga tapfer. „Da müssten Sie sich an den Kundenservice...“
„Ich muss überhaupt nichts.“, unterbrach sie die Kundin. „Ich gehe nicht eher hier weg, bis Sie mir die Gebühren für die Prio erstattet haben. Rufen Sie doch den Kundeservice an. Angenommen ich hätte weder Telefon noch Internet, hätte ich dann etwa keine Rechte?“
Helga war ratlos und Uschi hatte die Schnauze voll. Sie kramte 1,50 € aus ihrem Portemonnaie und knallte sie vor der aufgebrachten Kundin auf die Theke. „Hier, nehmen Sie Ihr Geld und lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Wenn Sie sich beschweren wollen und weder Telefon noch Internet haben, kann ich Ihnen gerne Papier geben und einen Stift leihen, dann schreiben Sie einen Brief und ich leite den an die entsprechende Stelle weiter.“
Die Kundin nahm das Geld und sagte: „Sie hören noch von mir, das kann ich Ihnen versprechen.“, dann verließ sie die Filiale.
Uschi schob den Ärger beiseite, sie musste funktionieren, aber in den Atempausen machte sich ein Nagen in ihren Eingeweiden bemerkbar. Was passierte wenn die Kirchentrulla sich bei den falschen Leuten über sie beschwerte? Kundenunfreundliches Verhalten konnte sie ihren Job kosten und sie brauchten das Geld, Harald verdiente ja auch nicht besonders gut.
Nach Feierabend forschte sie nach, welche Absender am Donnerstag Briefe per Prio aufgegeben hatten. Tatsächlich war es nur eine Person und so hatte sie direkt Name und Adresse zur Hand.
Das war ja wieder klar, dachte Uschi, machen fromme Projekte, aber das Gesocks wollen sie sich lieber vom Hals halten. Kein Wunder bei der Hütte. Die haben mindestens dreimal so viel Geld auf der Kante wie Harald und ich zum Leben haben.
Sie schlich um das großzügige Einfamilienhaus herum. Verborgen hinter einem dichten Rhododendron-Strauch linste sie durch eine lichtere Stelle in das erleuchtete Haus hinein. Zur Terrasse hin verfügte das Gebäude über eine großflächige Glasfront und Madame wuselte in Kaschmir und Seide gehüllt durchs Wohnzimmer, wo sie gerade eine Platte mit Schnittchen auf dem Couchtisch abstellte.
Uschi überlegte gerade, ob sie nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen sollte, da wendete sich das Blatt zu ihren Gunsten. Die Christenschlampe hob einen Brennholz-Behälter, der neben dem offenen Kamin stand ,hoch und verließ das Zimmer. Uschi bemerkte, dass neben dem Haus, die gut abgelagerten Birkenscheite aufgeschichtet lagen. Ihr Blick fiel auf eine riesige, goldene Dekokugel, die hinter dem Rhododendron das spärliche Licht reflektierte, das durch den dicht belaubten Busch drang. Sie zog den Pflock, an dem die schwere Glaskugel befestigt war, aus dem Beet und huschte hinter die idyllische Laube, von wo aus sie einen kurzen Weg zum Brennholzlager hatte.
In einer sündhaft teuren Wachsjacke und Clogs kam die evangelische Nervensäge um die Ecke und begann Scheite in ihren Holzkorb zu stapeln. Blitzschnell schoss Uschi hinter der Laube hervor und zog dem missgünstigen Luder eins über den Schädel. Sie sackte augenblicklich stöhnend zu Boden. Dann rührte sie sich nicht mehr und machte auch keinen Mucks. Es war zu Dunkel, um festzustellen, ob sie aus dem Kopf blutete. Uschi ließ die Kugel auf den Rasen fallen. Spuren hatte sie an der Waffe nicht hinterlassen, sie trug glatte Kunstleder-Handschuhe.

Am nächsten Tag las Uschi in der Zeitung, dass die Frau den Überfall überlebt hatte und im Krankenhaus lag. Sie blieb ganz ruhig, schließlich hatte ihr Opfer sie nicht gesehen. Und wie sich herausstellte, hatte sie ihr Ziel auch ohne Totschlag erreicht. Als die Kundin ein halbes Jahr später in der Filiale auftauchte, konnte sie sich an nichts erinnern.

... link (1 Kommentar)   ... comment