Freitag, 12. Mai 2017
Kita-Cluedo – Kurzkrimi zum selbst Ermitteln
Daniela nimmt die Kaffeekanne von der Heizplatte. Raimunds Raucherhusten tönt aus dem Bad. Bestimmt versäumt er wieder, den grünlich gelben Schleim herunterzuspülen, den er ins Waschbecken rotzt. Der Toaster katapultiert zwei Scheiben an die Luft. Es riecht verbrannt. Raimund hat das Gerät wieder zu stark eingestellt. Soll er doch den schwarzen Toast essen Sie legt ihm die Scheiben auf den Teller, stellte den Regler herunter und steckt zwei neue Weißbrot-Schnitten in das Röstgerät. Als Raimund die Küche betritt, beißt sie schon in den zweiten Toast mit Honig.
„Was soll denn der Dreck?“, fragt er verärgert mit einem zornigen Blick auf die Portion verbrannter, leerer Kalorien auf seinem Teller. „Soll ich das etwa essen?“
„Musst du den Toaster nicht so hoch einstellen.“, antwortet Daniela.
Raimund hält dagegen:„Musst du nicht immer schon neues Brot kaufen, wenn die alte Packung gerade angefangen ist. Das Brot ist einfach zu trocken. Und überhaupt, das ist ja schon kalt.“
Daniela lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Dann musst du dich eben ein bisschen beeilen. Oder dir jetzt zwei neue Scheiben toasten. Hast ja noch 10 Minuten.“

Jennifer zerrt Lilly hinter sich her. „Jetzt komm schon, beeil dich ein bisschen, ich komme sonst zu spät zur Arbeit.“
„Ich muss aber noch meine Jacke zu machen.“, mault Lilly, „sonst verkälte ich mich.“
„Lilly, vom Auto bis zum Eingang sind es fünfzehn Meter. Du würdest dich nicht einmal erkälten, wenn du im Bikini da hin laufen würdest. Jetzt komm endlich.“
Gleichzeitig kommt Pia mit Leander an. „Hallo Jennifer. Gibt's schon was Neues wegen des Mittagessens?“
„Bis jetzt keine Reaktion.“, antwortet die Gefragte. „Ich packe Lilly nach wie vor jeden Tag ein Fresspaket, damit sie diesen Rotz nicht essen muss.“
„Ja, Leander kriegt auch immer was mit, aber das geht doch nicht, wir bezahlen schließlich dafür. Ich meine, wenn man die Übermittag-Betreuung gegen Preisnachlass ohne Essen buchen könnte, wäre das ja ein Kompromiss, aber so.“
„Und dreckig ist es auch immer noch.“, bemerkt Jennifer. „Ich habe echt Angst, dass Lilly sich multiresistente Keime einfängt, so wie die Schlüter immer mit dem Desinfektionsmittel rumsaut. Hier ein bisschen sprühen, da ein bisschen sprühen und die Ecken bleiben klebrig und staubig. Zum Kotzen ist das.“

Ein Schlag auf den Schädel. Noch einer. Pascal weiß nicht, wo er ist. Er blinzelt. Mein Gott, ist das hell! Mindestens 1000 Watt. Und noch ein Schlag. Er ist unverletzt. Es sind die zuschlagenden Autotüren vor der KiTa, die sich in seinem Kopf anfühlen, als bekäme er eins mit dem Sandsack übergezogen. Die plappernden und kreischenden Pissbotten und ihre hysterischen Mamas schrillen in seinem Kopf. Schrillen? Gibt es dieses Wort überhaupt? Etwas kann schrill klingen, klingeln oder schräbbeln. Aber schrillen? Egal. Er muss sowieso bald aufstehen und was organisieren. Spätestens heute Mittag braucht er wieder Nachschub, sonst überlebt er diesen Tag nicht.

Jetzt ist es gerade so schön ruhig. Regina fühlt jedes Mal um diese Zeit, dass die erste Hürde geschafft ist: Alle Kinder sind da, alle Eltern sind weg, das Frühstück ist abgeräumt und die Morgenstuhlkreise beginnen. Kein Getöse. Aber leider auch genau der Zeitpunkt, an dem schwierige Telefonate anstehen. So auch jetzt. Es nützt ja nichts. Sie muss Frederking anrufen und weiter Druck machen. Als Leitung wird das von ihr erwartet. Als Frederking sich mit seiner lauten Herrenmenschenstimme meldet, hat sie erst recht keine Lust mehr, aber sie atmet tief ein und mit der Luft im Büro auch jeweils eine große Portion Mut und Pflichtgefühl: „Guten Morgen, hier spricht Regina Heuer. Ich habe nach drei Telefongesprächen und fünf E-Mails noch immer keine Rückmeldung erhalten wegen meiner Beschwerde über die Leistungen der Service-Abteilung.“
„Was genau für eine Rückmeldung wollen Sie denn haben?“, fragt Frederking schnodderig.
„Was Sie unternommen haben, wie Sie das Problem lösen wollen.“
„Welches Problem?“
„Herr Frederking!“, schimpft Regina ungehalten. „Die Eltern rennen mir die Bude ein, weil sie vollkommen unzufrieden mit der Qualität des Mittagessens sind und das völlig zu Recht. Es ist überaus peinlich, dass ich nichts dazu sagen kann, als immer wieder auf die Geschäftsführung zu verweisen, von der die Eltern leider auch keine Reaktion bekommen. Und das ist ja nicht der einzige Beschwerde-Anlass. Die Reinigungsleistung von Frau Schlüter ist unter aller Sau. Das ist nicht nur ein ästhetisches Problem. Wenn das Gesundheitsamt eines Tages auf der Matte steht, sind wir geliefert.“
„Haben Sie das mit der Putzfrau der Frau Renner gemeldet?“
„Etwa Fünfzehn Mal. Frau Renner war auch schon einmal hier, hat sich das angesehen und Besserung gelobt. Das war's.“
„Dann kümmere ich mich persönlich um die Frau Schlüter.“, antwortet Frederking versöhnlich.
„Und was ist mit dem Essen?“
„Eins nachdem Anderen, Frau Heuer.“, antwortet der Geschäftsführer der Diakonie. „Eins nach dem Anderen.“

Daniela Schlüter ist unterwegs zu ihrem ersten Job für diesen Tag. Als man ihr das Angebot gemacht hat, war sie kurz davor, dem Mann im Jobcenter eine runter zu hauen. Aber jetzt findet sie es gar nicht schlecht: Eine Tour morgens, eine nachmittags, eine abends, da kommt richtig etwas zusammen. Früher musste sie schon vor Raimund das Haus verlassen, um zwischen 5:30 Uhr und 7:30 Uhr eine Turnhalle zu putzen. Jetzt kann sie morgens den Haushalt erledigen und danach putzt sie im Puff. Vor 10 Uhr wollen die Nutten niemanden da haben. Die meisten anderen Putzstellen sind nachmittags oder abends. So wie die Jobs in der Kita und im Café der Diakonie, die sie bei diesem kirchennahen Träger bekommen hat. Wenn die wüssten, was sie am Vormittag tut, würden sie sie sicher raus schmeißen. So wie die zahlen, würde sie auch lieber ganztägig im Puff putzen. Oder abends zwischen 5 und 11, dann würde sie Raimund fast überhaupt nicht mehr sehen. Aber der Boss wird vielleicht bald mehr rausrücken. Wer auch immer die Fotos ins Netz gestellt hat, wenn der wüsste, was Daniela damit anstellen kann und wenn der scheiß Boss wüsste, dass die sowieso längst im Netz sind...

Saskia ist heute als Gartenaufsicht abgestellt. Lilly und Fiona belagern die Korbschaukel schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Die anderen Kinder werden langsam ungeduldig.
„Ihr müsst die anderen Kinder aber jetzt auch einmal in die Korbschaukel lassen.“, ermahnt Saskia die zwei kleinen Platzhirschkühe.
„Aber gestern haben Kim, Lavinia und German ganz ganz lange geschaukelt und uns auch nicht gelassen und jetzt sind wir dran, sonst ist das ja nicht gerecht.“
„Also, Fiona“, erwidert Saskia. „Melina hat mir gestern erzählt, dass du ganz ganz lange mit Lilly in der Korbschaukel gelegen hast und die anderen Kinder erst rein gelassen hast, als sie die Schaukel festgehalten hat. Wenn ihr jetzt nicht aussteigt, habt ihr die Schaukelzeit für Morgen auch schon verbraucht. Wenn ihr jetzt Platz macht, kommt ihr vielleicht in einer halben Stunde noch einmal dran.“
Die mathematische Ungenauigkeit dieser Rechnung fällt Fiona und Lilly nicht auf. Schnell räumen sie das Feld in dem Glauben, sich eines besonders klugen Schachzugs zu bedienen. Als der Konflikt gelöst ist, bemerkt die Erzieherin auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen seltsamen Typen. Auf den ersten Blick sieht er nach Business-Look aus, doch bei näherer Betrachtung wirkt alles an ihm schäbig, wie aus zweiter Hand. Sogar die Frisur macht einen billigen Eindruck. Er lungert da herum, in einer Straße, in der es nichts weiter gibt als Wohnhäuser und eine KiTa. Sie behält ihn im Auge. Der soll ja die Finger von den Kindern lassen.

Die Kaffeemaschine ist gerade durchgelaufen, als sich der Schlüssel in der Wohnungstür dreht. Raimund hat pünktlich Feierabend machen können. Schön für ihn. Daniela würde es vorziehen, noch eine halbe Stunde für sich zu haben. Statt dessen wird sie nun Kaffee und Berliner in Anwesenheit ihres schweigenden, schnaufenden und schmatzenden Mannes einnehmen, um direkt danach zu ihrem 2. Putzjob aufzubrechen. Er wird duschen und sich vor den Fernseher knallen, während sie arbeitet und direkt danach das Abendessen kocht und die Küche wieder aufräumt, um nach dem Essen zu ihrem dritten Job zu fahren. Sie hat es so satt. Nach einem halben Stück Kuchen und ein paar Schlucken Kaffee sagt sie: „Du musst heute nach dem Essen den Tisch abräumen und die Küche sauber machen, heute ist im Diakonie-Café viel zu tun, die haben da eine Großveranstaltung.“
„Wieso?“, fragt Raimund. „Dann machst du die Küche eben etwas später sauber.“
„Nach so einem langen Tag bin ich auch mal kaputt!“, schimpft Daniela. „Du gehst nur arbeiten und lässt dich bedienen. Ich kaufe ein, koche, wasche, halte alles sauber und du furzt nur den Sessel voll!“
„Also da hört sich doch alles auf.“, entrüstet sich Raimund. „Von meiner Hände Arbeit lebst du nicht schlecht, Frollein, die paar Kröten, die du mit deiner Putzerei verdienst, reichen ja gerade mal für den Lippenstift, den du dir ins Gesicht schmierst, als wenn das noch irgendwas bringen würde.“
„Ich hätte vielleicht auch gern einen Beruf gelernt.“, wehrt sich Daniela. „Wenn du damals besser aufgepasst hättest und ich nicht gleich schwanger geworden wäre, hätte das auch geklappt, dann würde ich heute auch besser verdienen. Ich hab' schließlich die Kinder allein großgezogen. Hast du dich auch nicht drum gekümmert.“
„Stimmt doch gar nicht!“, widerspricht Raimund entschieden. „Wie oft war ich mit Marvin beim Fußball und wie oft habe ich Nadine von irgendwelchen Feten oder aus der Disco abgeholt? Und außerdem: wer kümmert sich denn um das Auto, den Fernseher oder wenn was zu reparieren ist?“
„Weißt du was?“, erwidert Daniela trotzig. „Du musst gar nichts machen. Ich esse auswärts. Kannst du ja auch machen. Wieso soll ich dich jeden Tag bedienen? Du reparierst ja auch nicht jeden Tag was.“
Raimund funkelt sie böse an, hüllt sich aber wieder in sein gewohntes Schweigen. Statt dessen studiert er demonstrativ die Fernsehzeitung. Daniela trinkt ihre Kaffee aus und macht sich auf den Weg in die KiTa.

Lilly malt schon die dritte Ritterburg. Saskia seufzt. Sie hat gleich eine Verabredung und will nicht zu spät kommen. Es sind immer die gleichen Eltern, die es nicht schaffen, ihre lieben Kleinen pünktlich abzuholen. Jennifer Werning ist eine der schlimmsten. Immer in Schale, immer superbusy, leitet den Elternrat als wäre sie die Stimme der Geknechteten, stellt immer nur Forderungen – nur ihren Teil der Vereinbarung einzuhalten, das schafft sie nicht. Natürlich ist sie nicht die erfolgreiche Topmanagerin oder Projektleiterin oder als was sie sonst gern gesehen werden möchte. Nein, sie ist Zahntechnikerin, eine Angestellte unter vielen und bestimmt entbehrlich, wenn sie ihr Kind abholen muss. Die Reinigungskraft ist schon da. Vielleicht soll das heute so sein, da könnte Saskia sie ja einmal direkt ansprechen: „Frau Schlüter, so geht das nicht weiter. Sie müssen auch regelmäßig die Ecken putzen, da sind überall Wollmäuse.“
„Du hast mir gar nichts zu sagen, Mäuschen.“, fährt Daniela Schlüter die blutjunge Erzieherin an.
„Unsere Leitung sieht das genauso.“, erwidert Saskia spitz.
„Dann soll sie mir das selbst sagen.“
Kurz darauf geht Regina Heuer auf die Putzfrau zu. „Hören Sie mal, wir erklären Ihnen das doch nicht zum ersten Mal. In einer Kita gibt es Hygiene-Vorschriften. Es reicht nicht, einmal über den Fußboden zu feudeln. Sie müssen ja nicht täglich alle Ecken putzen wie eine vor Langeweile kranke Hausfrau, aber vielleicht mal am Montag die Waschbecken gründlicher scheuern, am Dienstag die Schränke in dem einen Gruppenraum abziehen und auch dahinter wischen usw. Wir bezahlen einen Haufen Geld für diese Dienstleistung, 23,- € die Stunde, da kann man jawohl wenigstens erwarten, dass es sauber ist.“
„Ich sehe von den angeblichen 23,-€ aber nur 8,50 €.“, erwidert Daniela.
„Das ist schlimm.“, sagt Regina verständnisvoll, „aber für Reinigungsarbeiten braucht man ja auch keine hochkarätige Ausbildung. Also seien Sie bitte so gut und nehmen sich heute mal die Bauecke vor, da sitzt überall Staub in den Ritzen. Ich muss jetzt los. Auf Wiedersehen.“

„Verdammte Zimtzicken!“, flucht Daniela vor sich hin. „Meinen, nur weil sie ein bisschen länger zur Schule gegangen sind, können sie mir erzählen, wie ich meine Arbeit machen muss. Als wenn sie was Besseres wären. Was machen die denn schon? Spielen den ganzen Tag mit Kindern. Hab' ich auch jahrelang gemacht. Hat mir keiner was für bezahlt.“
Sie arbeitet das übliche Programm ab. Die Kindergartenziegen können sie mal. Sollen sie doch selbst die Wollmäuse aus der Bauecke kratzen. Sie hat von ihrer Chefin keine Anweisung, dass sie so etwas reinigen soll. Fußböden, Waschbecken, Klos und waagerechte Oberflächen, also Tische, Stühle, Schränke, Fensterbänke. 23,- € die Stunde, das hört sie heute zum ersten Mal. Die von der Diakonie verdienen sich an ihrer Arbeit eine goldene Nase. Jetzt weiß sie auch, wovon der Chef seinen dicken Schlitten bezahlt. Sie hört, wie die Eingangstür geöffnet wird. Hat eine von den Schlampen wohl noch was vergessen.

Zitternd steht Regina Heuer neben der blutüberströmten Frau. „Warum zum Teufel habe ich mein Portemonnaie im Büro liegen lassen?“ schießt es ihr durch den Kopf. „Wenn ich dran gedacht hätte, es einzustecken, wäre mir das alles erspart geblieben.“ Daniela Schlüter rührt sich nicht mehr. Das Messer liegt einen halben Meter von ihr entfernt, wie ein achtlos weggeworfenes Einweg-Werkzeug. Regina will einfach nur noch raus aus der Einrichtung. Aber irgendein Areal ihres Gehirnes ermahnt sie, nicht kopflos zu handeln. Sie zieht ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Mit letzter Kraft wählt sie den Notruf der Polizei.

LIEBE LESENDE! IHR SEID DIE ERMITTELNDEN POLIZEIKRÄFTE. BEFRAGT DIE BETEILIGTEN ODER AUCH JENE; DEREN EXISTENZ IHR VERMUTET, DIE ABER IM VORLIEGENDEN BERICHT NICHT ZU WORT KOMMEN. ICH WERDE STELLVERTRETEND FÜR JEDE FIGUR, DIE IHR ANSPRECHT, WAHRHEITSGEMÄß ANTWORTEN, NUR NICHT AUF SOLCHE FRAGEN WIE: „SIND SIE DER MÖRDER? SIND SIE UNSCHLUDIG? HABEN SIE DIE PUTZFRAU ERSCHLAGEN?“ USW. , DAS WÄRE JA LANGWEILIG. IN EINER WOCHE ERKLÄRE ICH DANN, WAS TATSÄCHLICH PASSIERT IST. ERHÖHT DIE SPANNUNG FÜR ALLE, INDEM IHR VIELE FRAGEN STELLT!
Falls Ihr nicht wünscht, dass Eure Fragen in der E-book-Version meiner Kurzkrimis erscheinen, bitte ich Euch, dies ausdrücklich zu erklären.

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