Freitag, 26. Januar 2024
Spoiler 15
1988

Am 17. April stand trotz des noch jungen Trauerjahres ein Fest auf dem Hof Vollweiter-Rahmöller an. Raimund feierte seine Konfirmation und Ingrid hatte alle Verwandten dazu eingeladen. Lisbeth hatte beim Putzen, Backen und Kochen geholfen, alles andere wäre gegen ihre Landfrauenehre gegangen.
Die Konfirmandengruppe war so groß, dass in der kleinen Johanneskirche in Häger nicht alle Angehörigen Platz gefunden hätte, darum fand der Festgottesdienst in der größeren und auch schmuckreicheren Jacobi-Kirche in Werther statt. Raimund fühlte sich unwohl in dem dunklen Herrenanzug mit den blank polierten Spießerschuhen. Die Krawatte schnürte ihm die Kehle zu und der gestärkte Hemdkragen kratzte am Hals. Lisbeth hatte darauf bestanden, damit ihr Enkel einen ordentlichen Eindruck hinterließ. "Kleider machen Leute.", hatte sie gesagt und keinen Widerspruch geduldet. Auch das Stofftaschentuch, das er mitzuführen hatte, musste weiß und gestärkt sein. Er wollte diesen Tag einfach nur möglichst unbeschadet hiter sich bringen, reichlich Geldgeschenke kassieren und sich dann endlich eine anständige Stereoanlage kaufen.

Den Einzug hatten sie ausführlich geübt und so schritt er mitten in der Zweierreihe an der Seite von Stefan Horstmann die reihen mit den sich erhebenden Gemeindegliedern ab. Vor ihnen waren Sigrid Husemann und Christiane Walter an der Reihe. Er hatte noch immer Sympathien für Sigrid, wusste aber nichts damit anzufangen. Menschen waren ein unbekanntes, fernes Land für ihn, Mädchen ganz besonders.

Raimund saß seine Zeit ab, tat, was alle taten, ließ die Predigt an sich vorbei rauschen, litt an dem kratzenden Kragen, fror trotz des wärmenden Jacketts in der düster-klammen Luft, die von den dicken, alten Sandsteinmauern der alten Kirche eingeschlossen wurde. Das war hier nicht seine Welt, vor allem nicht, als er und Stefan aufgerufen wurden, um den Segen zu empfangen. Und dann gab der Pfarrer Raimund auch noch einen eigenartigen Konfirmationsspruch mit auf den Weg: "Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege." Psalm 139, 23f
Was für eine Unverschämtheit!! Da ließ der Pfaffe ihn öffentlich dastehen wie einen, den man einnorden musste. Das würde er ihm büßen. Raimund wusste noch nicht wie, aber er würde dem Paffen einen Denkzettel verpassen, einen, bei dem er wusste, von wem er kam, ohne irgendetwas beweisen zu können.

Nach dem Gottesdienst suchten viele seiner Altersgenossen mit ihren Angehörigen ein Restaurant in der näheren Umgebung auf. Dass es in seinem Fall weniger elegant zuging, machte ihm nichts aus, im Gegenteil. So konnte er sich leichter unbemerkt der todlangweiligen Gesellschaft entziehen und bekam nicht stundenlang enervierende Erwachsenengespräche aufgezwungen. Man lebte ja schließlich nicht mehr in den Vierzigern, wo mit der Konfirmation auch die Schulzeit und die Kindheit endeten, wo man in die Lehre ging und Teil der Erwachsenenwelt wurde. Raimund musste noch mindestens zwei Jahre zur Hauptschule und danach im Rahmen welcher Ausbildung auch immer drei weitere Jahre zur Berufsschule gehen. Erst dann würde er verstehen, worum genau die Gespräche an der Festtafel sich drehten. Den elterlichen Hof zu übernehmen, war eine sichere Variante, aber auch eine langweilige. Kohle wollte er machen, schnelles Geld mit wenig Aufwand. Er brauchte nur eine zündende Idee, einen Betrug, bei dem man todsicher nicht erwischt wurde, eine neue Geschäftsidee oder eine geniale Gang, mit der man sich nahm, was man wollte und die Beute brüderlich teilte. Allesamt diffuse Pläne, deren Verwirklichung er mit den Erwachsenen kaum erörtern konnte. Aber aus ihm würde ein Gewinner werden, das nahm er sich ganz fest vor, ihn würde niemand mehr zusammenfalten, demütigen, ausbremsen. Er würde sich nichts befehlen und gar nichts gefallen lassen.
Entschlossen und grimmig blickte er aus dem Fenster und fixierte den Horizont, während die Gäste um ihn herum alle gut gelaunt durcheinander schnatterten. Sie amüsierten sich prächtig, nur mit ihm sprach niemand. Ingrids Herz zog sich zusammen, als sie beim Abräumen der Suppenteller die finstere Miene ihres Sohnes bemerkte. Sie eilte zu ihm und drückte sein Gesicht an ihren Busen. "Ich bin so stolz auf dich, mein Großer.", säuselte sie.
"Lass das! Ich bin doch kein Baby mehr!", blaffte Raimund sie an und stieß sie grob zurück. Entsetzte Stille breitete sich aus. Sein Onkel Gerd sprang auf, griff sein linkes Ohr und zog ihn daran hoch.
"Du entschuldigst dich jetzt bei deiner Mutter, aber sofort!", brüllte er.
"Nun lass ihn doch, er hat ja Recht.", versuchte eine freundliche Nachbarin zu vermitteln.
"Der hat noch keine Rechte.", erwiderte Gerd. "Also, was is'?", wandte er sich wieder herausfordernd an Raimund. Der sprang plötzlich auf, befreite sich mit einer Drehbewegung aus dem Klammergriff des brutalen Onkels und konterte: "Du hast mir überhaupt nix zu sagen! Bist doch nicht mein Vatter!"
Dann rannte er weg von der Deele, auf dem schnellsten Weg in sein Zimmer, schloss sich ein und riss sich die unbequeme Kleidung vom Leib. Sie konnten ihn alle mal. Vielleicht würde er doch Landwirt, aber ein richtig guter. Gerd wäre der Erste, den er vom Markt drängte, sein ganzes Land würde er aufkaufen und wenn er dann eines Tages winselnd vor der Tür stände, würde er ihn vom Hof jagen. Spielte der sich hier als Beschützer seiner Schwester auf, dabei hatte er nie etwas für sie getan, auch jetzt nicht, wo sie es als Witwe besonders schwer hatte.

Als Raimund sich ein wenig beruhigt hatte, klopfte Ingrid sachte an seine Tür: "Komm doch Junge. Es ist doch vor allem dein Fest. Alle fragen nach dir. Und es gibt Welfenspeise zum Nachtisch."
"Ich zieh' aber nicht mehr diese Spießerklamotten an. Das kratzt alles."
"Musst du auch nicht. Nimm einfach eine saubere, schwarze Jeans und ein ordentliches T-Shirt."
Ein wenig tat es Raimund nun leid, dass er so eine Szene hingelegt hatte. Das war ja vor allem für ihn selbst ziemlich peinlich. Und es stand zu befürchten, dass einige Gäste unter diesen besonderen Umständen ihre Geldgeschenke zurückzogen. Es würde nicht leicht, aber wenn er es eines Tages allen zeigen wollte, musste er jetzt damit anfangen. Er zog an, was seine Mutter ihm geraten hatte und darüber die verkratzte, speckige Motorradjacke vom Flohmarkt, schließlich war es April und für langes Sitzen war es im T-Shirt zu kalt. Außerdem half ihm die Jacke dabei, sein Gedicht nicht zu verlieren. Stolz und ungebrochen trat er ihnen entgegen.

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