Freitag, 17. November 2023
Spoiler 5 - nichts für Kinder
1963

Der 28.04. war Ingrids großer Tag: Ganz in weiß schritt sie mit den anderen Mädchen in 2er-Reihen in die Kirche zu Häger, dicht gefolgt von den Jungen in schwarzen Anzügen. Die Posaunen bliesen ihnen zu Ehren und die Gemeinde erhob sich. Als sie und ihre Mitkonfirmanden Platz genommen hatten, fieberte sie einfach nur ihrem Auftritt entgegen. Hatten die Perlonstrümpfe auch keine Laufmasche? Würde sie ohne zu straucheln die Altarstufen empor schreiten?
Die Liturgie, die Lieder und die Predigt gingen durch sie hindurch wie der Atem; nichts davon nahm sie bewusst wahr. Dann hörte sie ihren Namen: Ingrid Vollweiter. Sie erhob sich und es folgten Ursula Vosspeter, Edith Dicke-Kleine und Barbara Oberbiermann. Gemeinsam schritten sie in den Altarraum, reichten Pastor Hahnemann die Hände und knieten nieder. Barbara bangte um ihre kunstvoll toupierte Frisur, doch der Pfarrer hatte Erfahrung mit berührungsempfindlichen Haarkreationen. Alles ging reibungslos über die Bühne und am Ende fand sich Ingrid nach dem tadellosen Auszug erleichtert schwatzend vor der Kirche, um wenig später zum elterlichen Hof zurückzukehren, wo zwei freundliche Nachbarinnen letzte Vorbereitungen trafen und die Glückwunschkarten in Empfang nahmen.

Das Essen war zünftig, die Gäste schwatzten fröhlich und auf dem Gabentisch stapelte sich Wäsche für Ingrids Aussteuer. Sie hatte aber auch eine silberne Halskette mit einem Kreuz bekommen, darauf war sie besonders stolz.
Nach dem Essen kippten die Männer die ersten Schnäpse und verpesteten mit dicken Zigarren sogar in der hohen Deele die ganze Luft. Die Damen erledigten gemeinsam fröhlich plappernd den Abwasch, machten einen kleinen Inspektionsgang durch den Garten und nahmen schließlich für ein Weilchen in der Stube Platz, wo sie mit einem Likörchen die mittägliche Gaumenfreude abrundeten.
Hätte Ingrid ältere Schwestern gehabt, hätte man die damit betraut, die älteren Brüder jedoch waren qua Geschlecht befreit - sie schenkten lediglich Schnaps aus - Ingrid dagegen musste das Bier ranschaffen für die immer trockenen Kehlen der durstigen Männer, die sich einen Dreck darum scherten, wessen Ehrentag das heute war und sich stattdessen beim Skat durch den Dunst von Rauchwaren und Alkoholfahnen zotige Schenkelklopfer zuriefen. Solange sie die Kellnerin ignorierten, war es eben noch zu ertragen, doch als sie begannen, den frisch konfirmierten Backfisch qualitativ zu begutachten, wäre Ingrid am liebsten in die Dunkelheit ihres winzigen Zimmers geflüchtet, zu der die rauen Kerle mit den glasigen Augen und den schleimig belegten Stimmenkeinen Zugang hatten.

Als alle Gäste verschwunden waren, musste Ingrid mit der Mutter das Geschirr spülen, während Gerd und Rainer die notwendige Stallarbeit, also die Fütterung des Viehs und das Melken erledigten. Fritz dagegen lag halb angezogen, betrunken im Bett und schnarchte, dass die Wände erzitterten. Sie hatten extra mit dem Abendessen auf ihn gewartet, aber als sie ihn nicht wach bekamen, hatten sie ohne ihn gegessen und waren schließlich ins Bett gegangen.

Ein Geräusch in der Dunkelheit riss Ingrid aus dem Halbschlaf. Fritz war aus dem Vollrausch erwacht und der Alkohol hatte seinen Blutdruck in die Höhe getrieben, sodass er mitten in der Nacht auf Betriebstemperatur geriet. Lisbeth war so erschöpft, dass sie wie ein Sack Korn auf der Matratze lag, das Nachthemd eng um den langsam dahinwelkenden Körper geschlungen. Nun betrat er das Zimmer seiner 14-jährigen Tochter. Er hatte längst aufgehört sich für die sexuelle Gewalt zu schämen, auch wenn er natürlich wusste, dass es gesellschaftlich verpönt war und einen Rechtsbruch darstellte. Er empfand sein Handeln aber nicht als unmoralisch, schließlich war es sein gutes Recht, sich als hart arbeitender Mann sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Diesmal würde er sich nicht mit der weichen, nackten Haut zufrieden geben. Ingrid war jetzt schließlich konfirmiert und damit sozusagen erwachsen. Und war es nicht eine uralte Tradition, dass dem Herrn des Huses die erste Nacht zustand?

Ingrid erstarrte vor Schreck und lag da wie versteinert. Gleich würde er sich wieder an ihr zu schaffen zu machen. Doch diesmal war alles anders. Das Hochschieben des Nachthemdes war ihr ja noch vertraut, aber plötzlich war er über ihr. Oh Gott! Das würde sie nicht überleben, sie würde ersticken. Er roch nach Alkohol und kaltem Aschenbecher, nach klebrigem, süßlichem Schweiß und nach Schweinestall, und er lag auf ihr wie ein umgestürzter Baum. Die Angst zu ersticken wurde verdrängt von der Gewissheit zu zerreißen. Der Schmerz fuhr durch ihre Körpermitte und legte sie lahm. Ihr fehlte sogar die Kraft, zu schreien. Sie war nur noch Fassungslosigkeit und Entsetzen, Schmerz und Todesangst.
Als er sich in ihr erleichtert hatte rollte er von ihrem Körper wie ein befriedigter Rammler. Er begann direkt zu schnarchen und zu stinken und sich breit zu machen. Ingrid floh aus ihrem eigenen Bett und merkte auf dem Weg in die Waschküche, wie etwas an den Innenseiten ihrer Oberschenkel entlang lief. Zitternd und schluchzend ließ sie einen Eimer mit Wasser voll laufen, setzte sich in den Badezuber und goss das kalte Wasser in ihren vor Schmerz brennenden Schritt. Die Kälte nahm ihr den Atem, aber sie linderte auch den Schmerz und das kalte Wasser wusch das ekelerregende Gemisch aus Blut und Sperma weg. Eine halbe stunde blieb sie in der kalten Pfütze sitzen, bis sie so sehr fror, dass sie schlotternd aus dem Zuber stieg und wieder in ihr Nachthemd schlüpfte. Sie leerte die Badewanne aus, erhitzte auf dem Herd etwas Milch und rührte Zucker hinein. Die warme, süße Milch vertrieb die Kälte aus ihren Gliedern und hatte etwas Tröstliches. Als sie schließlich in ihr Schlafzimmer zurückkehrte, war ihr absonderlicher Vater verschwunden.

Wegen des massiven Schlafmangels kam Ingrid am nächsten Morgen sehr schlecht aus dem Bett.
"Jetzt beweg deinen Hintern!", maulte Lisbeth. "Wir haben jede Menge zu tun, heute Nachmittag kommen die Nachbarn zum Kaffee."
Stumm schälte Ingrid sich aus den Laken, griff sich frische Kleidung und rannte in die Waschküche, wo sie sich nochmals gründlich wusch, bevor sie sich ankleidete. Sie gab sich Mühe, heil und unauffällig durch den Tag zu kommen, ging dem Vater aus dem Weg und tat, was die Mutter ihr auftrug.

Doch seit dieser Nacht überkamen sie Schlafstörungen wie nie zuvor. Sie fürchtete sich, einzuschlafen, denn dann kamen schreckliche Albträume, die sie ohnehin wieder aufweckten und starr vor Angst an die Decke starren ließen. Was, wenn er wiederkam und das gleiche mit ihr machte? Irgendwann würde er sie damit umbringen. Lisbeth hatte er auch schon oft genug halbtot geprügelt. Sie musste es ihrer Mutter erzählen, damit sie gemeinsam eine Überlebensstrategie entwickeln konnten.

An einem warmen Julitag saßen sie im Garten und schälten Erbsen aus.
"Mama", begann sie zaghaft, "Papa ist gefährlich."
"Wie kommst du denn auf so einen Tinnef?", fragte Lisbeth unwirsch.
"Er haut dich doch immer halbtot."
"Ach Quatsch! Erzähl das bloß nicht rum! Dann halten die Leute uns noch für Taugenichtse! Papa ist vielleicht ein Rüpel, aber er arbeitet anständig und sorgt für uns."
"Aber er kommt nachts in mein Bett."
"Das denkst du dir aus."
"Nein. Früher dachte ich, ich träume das. Aber nach meiner Konfirmation, da hat er sogar, ich weiß nicht, aber das tat weh und ich hab' geblutet."
Watsch!
Lisbeth schlug ihrer Tochter mitten ins Gesicht. Dann schrie sie zornig: "Was hast du gemacht, du Drecksluder? Hast du etwa irgendwelche Jungen bei dir rangelassen? Reicht dir wohl nicht mehr, an dir selbst rumzuspielen. Und jetzt probierst du, das auf deinen Vater zu schieben? Eins sag' ich dir, Frollein, wenn du jetzt ein Kind unterm Kittel hast, dann schmeiß ich dich achtkantig raus! Mein Mann fällt nicht über seine Tochter her! Sowas hat der nicht nötig. Ab heute werden andere Saiten aufgezogen. Nach der Schule kommst du direkt nach Hause und du arbeitest nur noch unter meiner Aufsicht. Du bringst keine Schande über unsere Familie!"

Und so sank Ingrid in sich zusammen wie eine welkende Rose. Wenn nicht einmal die Mutter ihr glaubte, wem sonst sollte sie sich anvertrauen? Sie würde sich wappnen müssen und versuchen, es zu überleben, bis eines Tages der Eine käme, der sie aus ihrer Hölle erlöste.

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