Mittwoch, 21. Oktober 2020
Hahn im Korb
c. fabry, 13:44h
Man sprach schon über sie. Judith konnte sich nicht erklären, wie das Gerede zustande kam, aber Renate aus dem Kirchenchor hatte ihr gesteckt, dass da etwas die Runde machte, dass es rumorte.
Dabei gab es überhaupt keinen Anlass, keinen Hinweis darauf, dass sie und Jakob eine Affäre haben könnten und auch ihrerseits keine Grenzüberschreitung, die die Vermutung nahegelegt hätte, sie habe unlautere Absichten. Unlautere Absichten, aus welchem Jahrhundert hatte sie das nur herüber gerettet? Was wäre denn so unlauter an eventuellen Absichten? Wie kamen Menschen dazu, so etwas in andere hineinzuprojizieren? Judith hatte das schon einmal erlebt, vor vielen Jahren, auch damals hatte sie nicht eine Regel verletzt und trotzdem hatte sie das Gefühl gehabt, dass alle in ihren Kopf gucken konnten, in ihr Herz und dann hatten sie sie geschlachtet, in aller Öffentlichkeit, sie der Häme ausgesetzt, dem Gespött, der Verachtung. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen. Wenn das nicht aufhörte, würde sie diesmal dafür sorgen, dass es aufhörte. Nein, sie würde niemandem etwas antun – nur sich selbst.
Siemke brühte sich einen Kaffee auf, das hieß, sie ließ es die Hightech-Maschine für sich erledigen. Rüdiger hatte ja immer gemeint, French Press reiche völlig aus, aber Rüdiger gab sich auch mit Aufbackbrötchen zum Frühstück und Dosenravioli zum Abendessen zufrieden. War eigentlich besser, dass er aus ihrem Leben verschwunden war. Nur die Tatsache, dass die kleine Schlampe aus der Verwaltung mit ihm durchgebrannt war, dieses ungebildete Flittchen, diese Tatsache nagte nach wie vor an ihren Eingeweiden. Darum hatte sie auch auch nicht ertragen, wie ihr Kollege Jakob Hahn und seine Kantorin beim kreiskirchlichen Kantorei-Konzert umeinander geschlichen waren. Nicht genug, dass sie zusammen im Auto gekommen waren, die eingebildete B-Musikerin war den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen, als hätte sie längst den Platz seiner Ehefrau eingenommen. Da konnte man doch nicht tatenlos zusehen. Da musste jemand etwas unternehmen. Darum hatte Siemke so vielen Leuten wie möglich ihren Eindruck geschildert. Nun war es an denen, die tagtäglich mit der Organistin zusammenarbeiteten, dem Arbeitsplatzgeturtel ein Ende zu bereiten.
Dieses Mitarbeiterfest hätte Judith sich gern gespart. Immer dasselbe Nase-in-die-Menge- halten, damit niemand einem vorwerfen konnte, man sei nicht gern in der Gemeinde. Ekelhaft, diese Heuchelei bei halbtrockenem Discounter-Sekt, welken Schnittchen und aufgepimpter Konservensuppe. Der Sekt war heute besonders süßlich, dazu muffig-bitter im Abgang. Billiger Sekt schlug ihr immer auf den Magen, dieser hier aber ganz besonders. Er versetzte innerhalb kürzester Zeit ihre gereizten Schleimhäute in Flammen so wie Jakob ihr Herz. Doch im Gegensatz zum Feuer ihres Herzens bemerkte niemand das Brennen ihrer Magenschleimhaut, aller waren viel zu sehr mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt. Allmählich ging der brennende Schmerz in Übelkeit über und zur Vorsicht bewegte Judith sich in Richtung Toiletten.
Katharina verstand überhaupt nicht, warum in diesem Jahr auch die Mitarbeitenden aus ihrer Gemeinde hier zum Fest der Nachbargemeinde eingeladen wurden, wenn es nicht um langfristige Fusionspläne ging. Sie hätte sich sicher eine Ausrede einfallen lassen, aber sie hatte große Lust, ein bisschen mit Jakob Hahn zu flirten, der zartesten Versuchung, seit es Theologen gab und bei dieser Gelegenheit gleich die lästige Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Katharina passte ohnehin viel besser zu ihm als Judith, denn Jakob brauchte eine Frau voller Tatkraft, die die Richtung vorgab, Initiative zeigte, wusste was sie wollte, kombiniert mit einer aparten Erscheinung, schmaler Silhouette und ausdrucksvollen Augen und nicht so eine verhuschte, verträumte B-Musikerin, die nur in Tortenschlachten an vorderster Front kämpfte und sich ihm mäuschenhaft unterordnete. Das fand er für den Augenblick vielleicht ganz reizvoll, aber das tat ihm nicht gut. Katharina musste ihn vor Judith beschützen, ihn retten. Sie hatte immer gern etwas für ihn tun wollen, etwas ganz Großes, ganz exklusiv für Jakob und nun ergab sich die Gelegenheit. Praktischerweise hatte ihr Vater noch etwas von dem längst verbotenen Rattengift im Gartenhäuschen gehabt. Es war zwar nicht das ganz tückische Zeug, bei dem sich die Symptome erst nach Tagen einstellten, aber sie war ganz zufrieden mit der zügigen Wirkung, denn sie wollte schließlich etwas davon haben und das Schauspiel genießen. Eben gerade hatte Judith den Gemeindesaal verlassen, ganz grün im Gesicht war sie, es konnte nicht mehr lange dauern. Katharina musste nun nur gegen die Versuchung ankämpfen, ihr hinterher zu gehen, um ihr auf dem Klo beim Sterben zuzusehen. Aber es fiel ihr nicht schwer, als sie Jakob dort stehen sah, im Gespräch mit einer älteren Dame. Sie gesellte sich einfach dazu und wartete auf ihren Einsatz. „Ach, Arthritis? Ja, das hat meine Mutter auch. Ganz schlimm, schon seit Jahrzehnten. Der Verzicht auf Zucker würde eine deutliche Besserung bringen, aber dazu ist sie nicht bereit, da hält sie lieber die Schmerzen aus...“
Katharina redete einfach immer weiter, bis die ältere Dame aufgab und ihr den Pfarrer überließ. Und sie lachte siegesgewiss in sein wohlwollendes Gesicht.
Judith beugte sich über das Waschbecken und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Hatte ihr jemand etwas in den Sekt gekippt? Hatte er darum so muffig geschmeckt? Aber wer sollte das gewesen sein und warum?
Herrin über das Buffet und die Getränke war heute Petra, die Kirchmeisterin. Ausgerechnet Petra mit ihrem Hygiene-Fimmel und ihrem Landfrauen-Habitus, die würde so etwas doch eher verhindern, als jemandem die Gelegenheit dazu bieten. Aber sie war schon seltsam verändert in letzter Zeit. Hatte sie sich anfangs hartnäckig, ja fast schon übergriffig mit Judith anfreunden wollen, war sie zunehmend kurz angebunden in letzter Zeit. Immer häufiger schleuderte sie ihr Sätze entgegen wie zum Beispiel: „Wenn du die E-Mail aus dem Gemeindebüro aufmerksam gelesen hättest, wüsstest du, dass die Konfirmationstermine im nächsten Jahr teilweise auf den Samstag gelegt wurden.“
Aber auch unangenehme Zweideutigkeiten kamen ihr vermehrt über die Lippen. „Oh, ist das Röckchen nicht ein bisschen kurz für die Orgel? Aber Jakob ist ja unten im Altarraum unterwegs, dann muss ich mir wohl keine Sorgen machen.“
Petra schien sich auch längst in den Chor der üblen Nachrede eingereiht zu haben. Judiths Magen krampfte sich zusammen. War das nun eine Substanz oder das ganze Elend, von allen möglichen Frauen in der Luft zerrissen zu werden?
Petra war außer sich. Kaum verschwand diese eitle Kirchenmusikerin auf dem Klo, musste Jakob sich schon gleich wieder Sorgen um sie machen. Sie tat immer so unschuldig mit ihrem kuhäugigen Kleinmädchenblick. Verlogen wie sie war, hatte sie Petra anfangs freundschaftliche Gefühle vorgeheuchelt, aber nur aus Berechnung, schließlich wollte sie sich mit der Kirchmeisterin gut stellen, damit die nicht eines Tages ihre Stelle wegrationalisierte. In Wirklichkeit war sie ein arrogantes Bürgertöchterchen, hielt sich für etwas Besseres und schmiss sich wie ein Kätzchen an Jakob, dem das noch nicht einmal auffiel. Sie selbst kannte Jakob schon viel länger, war in seiner Vikariatszeit als Ehrenamtliche mit ihm auf Konfi-Wochenenden gefahren, dann hatten sie sich aus den Augen verloren, Petra war mit ihrer jungen Familie in die Vorstadt gezogen und eines Tages war der alte Pfarrer in den Ruhestand gegangen und Jakob war aufgetaucht. Sie hatte sich so gefreut; um der alten Zeiten willen und weil Jakob einfach ein Sonnenschein war. Und dann war Judith gekommen, mit ihren taillierten Walla-Walla-Kleidchen, ihrer von der Kosmetikerin perfektionierten Gesichtshaut, ihrer leisen Mädchenstimme und ihrer anmaßenden Überzeugung, so wahnsinnig viel mit Jakob gemeinsam zu haben.
In den Küchenschubladen fanden sich nirgends die Quirle für das Handrührgerät, hier herrschte ein einziges Tohuwabohu. Eine Schublade klemmte fürchterlich. Als sie schließlich nach mehrfachem Ruckeln die Ursache entdeckt hatte, wusste sie sofort, wer dafür verantwortlich war. Dieses dämliche Krimi-Dinner, das der Kirchenchor veranstaltet hatte. Petra war so wütend, dass ihr alles egal war. Sie griff sich das Gerät und stapfte zielstrebig zu den Toiletten. Judith hing kotzend über dem Waschbecken. „Oh, hast du nicht aufgepasst?“, entfuhr es ihr, sie konnte an gar nichts anderes denken als an Schwangerschaft.
„Mir ist schlecht.“, antwortete Judith nur. „Ich glaube ich brauche einen Arzt.“
„Das einzige was du brauchst ist Aufmerksamkeit.“, zischte Petra. „Männliche Aufmerksamkeit in großen Dosen. Sonst bist du nicht zufrieden. Wir werden jetzt keinen großen Wirbel um dich veranstalten. Du wirst dich jetzt hübsch zusammenreißen und für die Ehrenamtlichen da sein. Das ist nämlich der Sinn dieses Festes. Und von Jakob lässt du auch die Finger.“
„Nur kein Neid.“, stieß Judith hervor und würgte erneut.
„Was bildest du dir ein?“, schrie Petra und zog Judith mit dem Fleischklopfer eins über. Die schrie vor Schmerz und hob schützend einen Arm. Wäre sie einfach zu Boden gegangen, hätte sich Petras Gemüt wieder beruhigt, aber trotz der Übelkeit kämpfte Judith wie eine Wildkatze, versuchte den Fleischklopfer zu fassen zu kriegen und dann Petras Schlägen auszuweichen. Etwas brach sich Bahn im Inneren der Kirchmeisterin. Der gesammelte Zorn ihres ganzen Lebens brach auf einmal aus ihr heraus und entlud sich auf der sterbenden Kantorin. Auf dem gepflegten Gesicht, den seidigen Haaren, den filigranen Fingern. Am Ende lag da ein blutiger, stöhnender Haufen am Boden des Toiletten-Vorraums, Petra rang nach Luft und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen befreit. Wenn auch nur für sehr kurze Zeit.
Jakob Hahn war fassungslos. Judith erschlagen von Petra. Die freundliche Judith, mit der er so unkompliziert zusammenarbeiten konnte, wer mochte sie so hassen und warum? Und warum die patente Petra, die doch immer so fröhlich und hilfsbereit, einsatzfreudig und flexibel aufgetreten und außerdem eng mit Judith befreundet gewesen war? Über alles, was an Petra anstrengend und peinlich war, hatte Judith stets großzügig hinweg gesehen.
Katharina Gast, die Kantorin aus der Nachbargemeinde steuerte schon wieder auf ihn zu, um ihn mit ihren Angelegenheiten aus seinen Gedanken zu reißen. Das würde er diesmal nicht zulassen. Unter dem Vorwand, Unterlagen aus seinem Dienstzimmer holen zu müssen, verschwand er nach Hause, wo Birgit sich sehr wunderte und ihn im Arm hielt, als er von all den Schrecknissen berichtete. Gestärkt kehrte er zurück, half der Polizei bei ihren Ermittlungen, so gut er konnte und stellte erleichtert fest, dass Katharina Gast verschwunden war. Er ahnte nicht, was sie als nächstes im Schilde führte.
Dabei gab es überhaupt keinen Anlass, keinen Hinweis darauf, dass sie und Jakob eine Affäre haben könnten und auch ihrerseits keine Grenzüberschreitung, die die Vermutung nahegelegt hätte, sie habe unlautere Absichten. Unlautere Absichten, aus welchem Jahrhundert hatte sie das nur herüber gerettet? Was wäre denn so unlauter an eventuellen Absichten? Wie kamen Menschen dazu, so etwas in andere hineinzuprojizieren? Judith hatte das schon einmal erlebt, vor vielen Jahren, auch damals hatte sie nicht eine Regel verletzt und trotzdem hatte sie das Gefühl gehabt, dass alle in ihren Kopf gucken konnten, in ihr Herz und dann hatten sie sie geschlachtet, in aller Öffentlichkeit, sie der Häme ausgesetzt, dem Gespött, der Verachtung. Das konnte sie nicht noch einmal ertragen. Wenn das nicht aufhörte, würde sie diesmal dafür sorgen, dass es aufhörte. Nein, sie würde niemandem etwas antun – nur sich selbst.
Siemke brühte sich einen Kaffee auf, das hieß, sie ließ es die Hightech-Maschine für sich erledigen. Rüdiger hatte ja immer gemeint, French Press reiche völlig aus, aber Rüdiger gab sich auch mit Aufbackbrötchen zum Frühstück und Dosenravioli zum Abendessen zufrieden. War eigentlich besser, dass er aus ihrem Leben verschwunden war. Nur die Tatsache, dass die kleine Schlampe aus der Verwaltung mit ihm durchgebrannt war, dieses ungebildete Flittchen, diese Tatsache nagte nach wie vor an ihren Eingeweiden. Darum hatte sie auch auch nicht ertragen, wie ihr Kollege Jakob Hahn und seine Kantorin beim kreiskirchlichen Kantorei-Konzert umeinander geschlichen waren. Nicht genug, dass sie zusammen im Auto gekommen waren, die eingebildete B-Musikerin war den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen, als hätte sie längst den Platz seiner Ehefrau eingenommen. Da konnte man doch nicht tatenlos zusehen. Da musste jemand etwas unternehmen. Darum hatte Siemke so vielen Leuten wie möglich ihren Eindruck geschildert. Nun war es an denen, die tagtäglich mit der Organistin zusammenarbeiteten, dem Arbeitsplatzgeturtel ein Ende zu bereiten.
Dieses Mitarbeiterfest hätte Judith sich gern gespart. Immer dasselbe Nase-in-die-Menge- halten, damit niemand einem vorwerfen konnte, man sei nicht gern in der Gemeinde. Ekelhaft, diese Heuchelei bei halbtrockenem Discounter-Sekt, welken Schnittchen und aufgepimpter Konservensuppe. Der Sekt war heute besonders süßlich, dazu muffig-bitter im Abgang. Billiger Sekt schlug ihr immer auf den Magen, dieser hier aber ganz besonders. Er versetzte innerhalb kürzester Zeit ihre gereizten Schleimhäute in Flammen so wie Jakob ihr Herz. Doch im Gegensatz zum Feuer ihres Herzens bemerkte niemand das Brennen ihrer Magenschleimhaut, aller waren viel zu sehr mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt. Allmählich ging der brennende Schmerz in Übelkeit über und zur Vorsicht bewegte Judith sich in Richtung Toiletten.
Katharina verstand überhaupt nicht, warum in diesem Jahr auch die Mitarbeitenden aus ihrer Gemeinde hier zum Fest der Nachbargemeinde eingeladen wurden, wenn es nicht um langfristige Fusionspläne ging. Sie hätte sich sicher eine Ausrede einfallen lassen, aber sie hatte große Lust, ein bisschen mit Jakob Hahn zu flirten, der zartesten Versuchung, seit es Theologen gab und bei dieser Gelegenheit gleich die lästige Konkurrenz aus dem Weg zu räumen. Katharina passte ohnehin viel besser zu ihm als Judith, denn Jakob brauchte eine Frau voller Tatkraft, die die Richtung vorgab, Initiative zeigte, wusste was sie wollte, kombiniert mit einer aparten Erscheinung, schmaler Silhouette und ausdrucksvollen Augen und nicht so eine verhuschte, verträumte B-Musikerin, die nur in Tortenschlachten an vorderster Front kämpfte und sich ihm mäuschenhaft unterordnete. Das fand er für den Augenblick vielleicht ganz reizvoll, aber das tat ihm nicht gut. Katharina musste ihn vor Judith beschützen, ihn retten. Sie hatte immer gern etwas für ihn tun wollen, etwas ganz Großes, ganz exklusiv für Jakob und nun ergab sich die Gelegenheit. Praktischerweise hatte ihr Vater noch etwas von dem längst verbotenen Rattengift im Gartenhäuschen gehabt. Es war zwar nicht das ganz tückische Zeug, bei dem sich die Symptome erst nach Tagen einstellten, aber sie war ganz zufrieden mit der zügigen Wirkung, denn sie wollte schließlich etwas davon haben und das Schauspiel genießen. Eben gerade hatte Judith den Gemeindesaal verlassen, ganz grün im Gesicht war sie, es konnte nicht mehr lange dauern. Katharina musste nun nur gegen die Versuchung ankämpfen, ihr hinterher zu gehen, um ihr auf dem Klo beim Sterben zuzusehen. Aber es fiel ihr nicht schwer, als sie Jakob dort stehen sah, im Gespräch mit einer älteren Dame. Sie gesellte sich einfach dazu und wartete auf ihren Einsatz. „Ach, Arthritis? Ja, das hat meine Mutter auch. Ganz schlimm, schon seit Jahrzehnten. Der Verzicht auf Zucker würde eine deutliche Besserung bringen, aber dazu ist sie nicht bereit, da hält sie lieber die Schmerzen aus...“
Katharina redete einfach immer weiter, bis die ältere Dame aufgab und ihr den Pfarrer überließ. Und sie lachte siegesgewiss in sein wohlwollendes Gesicht.
Judith beugte sich über das Waschbecken und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Hatte ihr jemand etwas in den Sekt gekippt? Hatte er darum so muffig geschmeckt? Aber wer sollte das gewesen sein und warum?
Herrin über das Buffet und die Getränke war heute Petra, die Kirchmeisterin. Ausgerechnet Petra mit ihrem Hygiene-Fimmel und ihrem Landfrauen-Habitus, die würde so etwas doch eher verhindern, als jemandem die Gelegenheit dazu bieten. Aber sie war schon seltsam verändert in letzter Zeit. Hatte sie sich anfangs hartnäckig, ja fast schon übergriffig mit Judith anfreunden wollen, war sie zunehmend kurz angebunden in letzter Zeit. Immer häufiger schleuderte sie ihr Sätze entgegen wie zum Beispiel: „Wenn du die E-Mail aus dem Gemeindebüro aufmerksam gelesen hättest, wüsstest du, dass die Konfirmationstermine im nächsten Jahr teilweise auf den Samstag gelegt wurden.“
Aber auch unangenehme Zweideutigkeiten kamen ihr vermehrt über die Lippen. „Oh, ist das Röckchen nicht ein bisschen kurz für die Orgel? Aber Jakob ist ja unten im Altarraum unterwegs, dann muss ich mir wohl keine Sorgen machen.“
Petra schien sich auch längst in den Chor der üblen Nachrede eingereiht zu haben. Judiths Magen krampfte sich zusammen. War das nun eine Substanz oder das ganze Elend, von allen möglichen Frauen in der Luft zerrissen zu werden?
Petra war außer sich. Kaum verschwand diese eitle Kirchenmusikerin auf dem Klo, musste Jakob sich schon gleich wieder Sorgen um sie machen. Sie tat immer so unschuldig mit ihrem kuhäugigen Kleinmädchenblick. Verlogen wie sie war, hatte sie Petra anfangs freundschaftliche Gefühle vorgeheuchelt, aber nur aus Berechnung, schließlich wollte sie sich mit der Kirchmeisterin gut stellen, damit die nicht eines Tages ihre Stelle wegrationalisierte. In Wirklichkeit war sie ein arrogantes Bürgertöchterchen, hielt sich für etwas Besseres und schmiss sich wie ein Kätzchen an Jakob, dem das noch nicht einmal auffiel. Sie selbst kannte Jakob schon viel länger, war in seiner Vikariatszeit als Ehrenamtliche mit ihm auf Konfi-Wochenenden gefahren, dann hatten sie sich aus den Augen verloren, Petra war mit ihrer jungen Familie in die Vorstadt gezogen und eines Tages war der alte Pfarrer in den Ruhestand gegangen und Jakob war aufgetaucht. Sie hatte sich so gefreut; um der alten Zeiten willen und weil Jakob einfach ein Sonnenschein war. Und dann war Judith gekommen, mit ihren taillierten Walla-Walla-Kleidchen, ihrer von der Kosmetikerin perfektionierten Gesichtshaut, ihrer leisen Mädchenstimme und ihrer anmaßenden Überzeugung, so wahnsinnig viel mit Jakob gemeinsam zu haben.
In den Küchenschubladen fanden sich nirgends die Quirle für das Handrührgerät, hier herrschte ein einziges Tohuwabohu. Eine Schublade klemmte fürchterlich. Als sie schließlich nach mehrfachem Ruckeln die Ursache entdeckt hatte, wusste sie sofort, wer dafür verantwortlich war. Dieses dämliche Krimi-Dinner, das der Kirchenchor veranstaltet hatte. Petra war so wütend, dass ihr alles egal war. Sie griff sich das Gerät und stapfte zielstrebig zu den Toiletten. Judith hing kotzend über dem Waschbecken. „Oh, hast du nicht aufgepasst?“, entfuhr es ihr, sie konnte an gar nichts anderes denken als an Schwangerschaft.
„Mir ist schlecht.“, antwortete Judith nur. „Ich glaube ich brauche einen Arzt.“
„Das einzige was du brauchst ist Aufmerksamkeit.“, zischte Petra. „Männliche Aufmerksamkeit in großen Dosen. Sonst bist du nicht zufrieden. Wir werden jetzt keinen großen Wirbel um dich veranstalten. Du wirst dich jetzt hübsch zusammenreißen und für die Ehrenamtlichen da sein. Das ist nämlich der Sinn dieses Festes. Und von Jakob lässt du auch die Finger.“
„Nur kein Neid.“, stieß Judith hervor und würgte erneut.
„Was bildest du dir ein?“, schrie Petra und zog Judith mit dem Fleischklopfer eins über. Die schrie vor Schmerz und hob schützend einen Arm. Wäre sie einfach zu Boden gegangen, hätte sich Petras Gemüt wieder beruhigt, aber trotz der Übelkeit kämpfte Judith wie eine Wildkatze, versuchte den Fleischklopfer zu fassen zu kriegen und dann Petras Schlägen auszuweichen. Etwas brach sich Bahn im Inneren der Kirchmeisterin. Der gesammelte Zorn ihres ganzen Lebens brach auf einmal aus ihr heraus und entlud sich auf der sterbenden Kantorin. Auf dem gepflegten Gesicht, den seidigen Haaren, den filigranen Fingern. Am Ende lag da ein blutiger, stöhnender Haufen am Boden des Toiletten-Vorraums, Petra rang nach Luft und fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen befreit. Wenn auch nur für sehr kurze Zeit.
Jakob Hahn war fassungslos. Judith erschlagen von Petra. Die freundliche Judith, mit der er so unkompliziert zusammenarbeiten konnte, wer mochte sie so hassen und warum? Und warum die patente Petra, die doch immer so fröhlich und hilfsbereit, einsatzfreudig und flexibel aufgetreten und außerdem eng mit Judith befreundet gewesen war? Über alles, was an Petra anstrengend und peinlich war, hatte Judith stets großzügig hinweg gesehen.
Katharina Gast, die Kantorin aus der Nachbargemeinde steuerte schon wieder auf ihn zu, um ihn mit ihren Angelegenheiten aus seinen Gedanken zu reißen. Das würde er diesmal nicht zulassen. Unter dem Vorwand, Unterlagen aus seinem Dienstzimmer holen zu müssen, verschwand er nach Hause, wo Birgit sich sehr wunderte und ihn im Arm hielt, als er von all den Schrecknissen berichtete. Gestärkt kehrte er zurück, half der Polizei bei ihren Ermittlungen, so gut er konnte und stellte erleichtert fest, dass Katharina Gast verschwunden war. Er ahnte nicht, was sie als nächstes im Schilde führte.
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