Freitag, 8. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 2. Silvia
c. fabry, 13:43h
Endlich raus aus diesem widerwärtigen Zeltlager, weg von Rudel-Duschen, stinkenden Klos, Feldküche und Dauerbeschallung. Sie fühlte sich allmählich zu alt für diese Camps mit Hunderten von Jugendlichen. Und laut waren die TEN SINGer sowieso. Lauter aufgedrehte Jugendliche im Hier-ist-alles-so-toll-und-wir-lieben-uns-alle-und-wir-haben-eine-großartige-Zukunft-vor-uns-Fieber. Die meisten kamen ja zu Hause wieder auf den Teppich. Aber mindestens zehn Prozent setzten sich aus zutiefst verstörten Teenagern zusammen, die ihre ganze Lebenshoffnung in diese Jugendarbeit legten. Sie hielten ihr drittklassiges Bühnensolo am Rande Prags für ihre Eintrittskarte in die Welt des Ruhms, des Glamours und des Glücks. Silvia bereitete sich schon innerlich aufs Scherben Fegen vor. Spätestens im November war es soweit. Wenn man wieder vom Traumpartner übersehen wurde, der schulische Erfolg ausblieb und die Waage einen folterte oder der Spiegel oder beides.
Aber heute durfte sie sich eine Auszeit gönnen. Einen halben Tag lang – und eine Nacht. Das hatte sie ausgehandelt: die kommende Nacht durfte sie in einem Hotel verbringen und musste erst zum Morgenprogramm um 10.00 Uhr zurück sein.
Dreißig Jahre war es her, dass sie die goldene Stadt zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war es – abgesehen vom Dach des Nationaltheaters an der Moldau – eher eine graue Stadt gewesen, aber sie hatte sie geliebt. Über allem hatte diese feine Melancholie gelegen, keine rasenden Autos, kein Massentourismus, alles war gnadenlos billig gewesen und die staubigen, grauen Fassaden, die zum Teil von maroden, hölzernen Baugerüsten verdeckt gewesen waren, hatten ihren einstigen Glanz erahnen lassen, was ihnen gerade diesen geheimnisvollen Charme verliehen hatte. Das Besondere hatte man entdecken müssen: das Schwarzlicht-Theater, Kammerkonzerte in barocken Kirchen, das jüdische Museum, das Goldgässchen auf dem Hradschin, die deutsche Buchhandlung, die urigen Kneipen und pittoresken Ecken am Flussufer. Damals hatte sie sich mit Tränen in den Augen geschworen, eines Tages zurückzukehren. Als Achtzehnjährige hatte sie davon geträumt, in Prag zu studieren. Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung gehabt, aber die Bilder in ihrem Kopf hatten ihr gefallen.
Mit Bus und Bahn fuhr sie zu ihrem Hotel in der Nähe der Innenstadt. Sie war überrascht von diesem völlig veränderten Stadtbild: liebevoll instandgesetzte Fassaden und aufwändig gepflasterte Gehwege, alle Farben des Regenbogens, Straßencafés und überall Menschen, wie sie auch in London, Paris oder Berlin herumliefen: bunt, individuell und stilbewusst. Vom ehemaligen Ostcharme war nichts geblieben. Einerseits gefiel es ihr, dass das Beklemmende, Depressive, Düstere und Farblose von einer solch ästhetischen und quirligen Lebendigkeit abgelöst worden war. Aber als sie mit der Tram in die Innenstadt fuhr, tat es ihr irgendwie weh, dass Prag sich nun kaum noch von all den westeuropäischen Hauptstädten unterschied. Sie stieg aus und schlenderte durch das Altstadtviertel rund um die Theinkirche. Überall war es hübsch und blitzsauber, aber aus allen Schaufenstern brüllte einem der gleiche Ramsch entgegen: böhmisches Glas, Matruschkas, Schnaps, Bier, Karlsbader Oblaten und als Kunst dargebotener Kitsch. Sie würde in Richtung Moldau flüchten, das war sicher noch ein magischer Ort.
Als sie das Tor der Karlsbrücke erblickte, schlug ihr Herz höher. Sie erinnerte sich dunkel an die gespenstischen Skulpturen, die das Brückengeländer säumten. Doch was hier los war, kannte sie so bisher nur von der Ponte Vecchio in Florenz: ein einziges Geschiebe und Gedränge vorbei an Verkaufsständen mit Schmuck, Malerei und Nippes. Reisegruppen verschiedenster Nationalitäten, die den Fähnchen ihres Führers folgten. Zuerst hatten die Deutschen Prag besetzt, dann waren die Panzer der Russen durch die Straßen gerollt und jetzt die Lawine des internationalen Tourismus. Auch wenn es ihr nicht gefiel – sie war ein Teil davon.
Trotz der Massen wanderte sie rauf zur Prager Burg, löste ein Ticket und betrat das Goldgässchen, das durch den Massentourismus auch viel von seinem Charme eingebüßt hatte. Sie hatte Hunger, aber hier oben gab es überall nur industriell gefertigte Mikrowellen-Sandwiches und so hielt sie noch eine ganze Weile durch und plante einen Imbiss nach dem Abstieg. Kurz vor der Karlsbrücke nahm sie Platz in einem der zahlreichen Touristen-Restaurants und verspeiste in Erinnerung an ihren Aufenthalt vor dreißig Jahren die böhmische Spezialität schlechthin: Gulasch mit Hefe-Knödeln und Rotkohl. Eigentlich etwas für kalte Tage, aber das Essen war so köstlich wie damals und sie bereute nicht, in einem Lokal Platz genommen zu haben, in dem vermutlich keine Einheimischen aßen.
Frisch gestärkt machte sie sich auf zu ihrem nächsten Ziel, sie wollte noch einmal vor dem prachtvollen Bau des Nationaltheaters stehen. Man sah die schwarz-goldene Kuppel mit der eigentümlichen Form von nahezu jedem Punkt der Innenstadt. Bei der Abschlussfahrt der Jahrgangsstufe 13 hatte ihnen dies als Orientierung gedient, hatte sich doch die Tram-Station, von wo sie damals zurück ins Hotel gefahren waren, ganz in der Nähe befunden. Die Schönheit des Theaters war ungebrochen. Aber heute zog sie nichts mehr in die Straßen, in denen sie damals von Kneipe zu Kneipe geschlendert waren, um sich mit dem leichten, aber würzigen Schwarzbier vollzukübeln. Sie selbst hatte sich nicht betrunken, aber etliche hatten damals den Bogen überspannt und waren an Peinlichkeit nicht zu übertreffen gewesen. Sie schlug die andere Richtung ein. Gegenüber des Nationaltheaters führte eine Brücke über die durch Stauwehre träge dahin strömende Moldau. In der Mitte des Flusses lag eine Insel und die war ihr Ziel. Damals hatte das Herbstlaub gelb geleuchtet, heute war alles grün und zu den Bäumen und Bänken hatten sich Spielplätze gesellt. Aber als sie die Wege entlang schlenderte, sah sie ihren Mitschüler Horsti vor sich. Horsti hatten sie ihn seines Nachnamens wegen genannt: Horstmeier. Sie hatte tatsächlich seinen Vornamen vergessen. Sie hatten sich über ihn lustig gemacht. Horsti war ein Intellektueller, ein Büchernerd, der eine Eins in Philosophie und Literatur hatte, eine Nickelbrille trug und sich betont unmodern kleidete. Er lebte das Klischee des einsamen Dichters und Denkers, von allen unverstanden, wo er doch selbst längst verstanden hatte, was die bürgerlichen Biertrinker hinter ihren Schlachthoffassaden niemals begreifen würden. In Prag war er auf den Spuren Kafkas gewandelt, hatte einen Koffer voller Bücher erstanden und man hatte ihm bei seinem Spaziergang auf der Moldauinsel deutlich angesehen, dass er in seiner Vorstellung selbst zu Kafka wurde und mit jedem Schritt den Fuß bewusst auf den Boden setzte, auf dem schon sein großes Vorbild die gleichen düsteren Gedanken spazieren geführt hatte.
Sie nahm auf einer der Bänke an der Spitze der Insel Platz und blickte hinüber zu den Lichtern der Prager Burg. Nachts sah alles so unversehrt aus. Sie dachte an Ralf, in den sie damals so verliebt gewesen war, der sie kaum eines Blickes gewürdigt hatte und schließlich mit Anja im Hotelzimmer rumgeknutscht hatte. Sie dachte an Heike und Martina, mit denen sie hier auf Entdeckungsreise gegangen war. Sie hatte seit mehr als zehn Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Die Menschen in ihrem Leben kamen und gingen und man wusste erst viele Jahre später, welche Rolle sie eigentlich gespielt hatten.
Sie erhob sich und ging ans Wasser. Einmal die Finger in die Moldau halten, einen Stein finden, ein Andenken, eine Verbindung zwischen damals, heute und morgen. Sie kniete vor dem gluckernden Wasser und suchte den nahen Grund nach Steinen ab, als sie plötzlich etwas drückte. Ihr Hals zog sich zu, sie bekam keine Luft, jemand drückte seine spitzen Knie in ihre Schulterblätter. Abwechselnd ruderte sie mit den Armen und versuchte, ihre Finger hinter das zu klemmen, das ihr die Kehle zuschnürte, sie hörte ihren eigenen Herzschlag, das Blut rauschte in ihren Ohren, der Kopf wurde heiß, die Lichter, die der Fluss reflektierte, funkelten von den Wellen, welchen Wellen? Und dann erloschen sie auch schon.
ENDE TEIL II – FORTSETZUNG FOLGT AM 15.09.
Aber heute durfte sie sich eine Auszeit gönnen. Einen halben Tag lang – und eine Nacht. Das hatte sie ausgehandelt: die kommende Nacht durfte sie in einem Hotel verbringen und musste erst zum Morgenprogramm um 10.00 Uhr zurück sein.
Dreißig Jahre war es her, dass sie die goldene Stadt zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war es – abgesehen vom Dach des Nationaltheaters an der Moldau – eher eine graue Stadt gewesen, aber sie hatte sie geliebt. Über allem hatte diese feine Melancholie gelegen, keine rasenden Autos, kein Massentourismus, alles war gnadenlos billig gewesen und die staubigen, grauen Fassaden, die zum Teil von maroden, hölzernen Baugerüsten verdeckt gewesen waren, hatten ihren einstigen Glanz erahnen lassen, was ihnen gerade diesen geheimnisvollen Charme verliehen hatte. Das Besondere hatte man entdecken müssen: das Schwarzlicht-Theater, Kammerkonzerte in barocken Kirchen, das jüdische Museum, das Goldgässchen auf dem Hradschin, die deutsche Buchhandlung, die urigen Kneipen und pittoresken Ecken am Flussufer. Damals hatte sie sich mit Tränen in den Augen geschworen, eines Tages zurückzukehren. Als Achtzehnjährige hatte sie davon geträumt, in Prag zu studieren. Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung gehabt, aber die Bilder in ihrem Kopf hatten ihr gefallen.
Mit Bus und Bahn fuhr sie zu ihrem Hotel in der Nähe der Innenstadt. Sie war überrascht von diesem völlig veränderten Stadtbild: liebevoll instandgesetzte Fassaden und aufwändig gepflasterte Gehwege, alle Farben des Regenbogens, Straßencafés und überall Menschen, wie sie auch in London, Paris oder Berlin herumliefen: bunt, individuell und stilbewusst. Vom ehemaligen Ostcharme war nichts geblieben. Einerseits gefiel es ihr, dass das Beklemmende, Depressive, Düstere und Farblose von einer solch ästhetischen und quirligen Lebendigkeit abgelöst worden war. Aber als sie mit der Tram in die Innenstadt fuhr, tat es ihr irgendwie weh, dass Prag sich nun kaum noch von all den westeuropäischen Hauptstädten unterschied. Sie stieg aus und schlenderte durch das Altstadtviertel rund um die Theinkirche. Überall war es hübsch und blitzsauber, aber aus allen Schaufenstern brüllte einem der gleiche Ramsch entgegen: böhmisches Glas, Matruschkas, Schnaps, Bier, Karlsbader Oblaten und als Kunst dargebotener Kitsch. Sie würde in Richtung Moldau flüchten, das war sicher noch ein magischer Ort.
Als sie das Tor der Karlsbrücke erblickte, schlug ihr Herz höher. Sie erinnerte sich dunkel an die gespenstischen Skulpturen, die das Brückengeländer säumten. Doch was hier los war, kannte sie so bisher nur von der Ponte Vecchio in Florenz: ein einziges Geschiebe und Gedränge vorbei an Verkaufsständen mit Schmuck, Malerei und Nippes. Reisegruppen verschiedenster Nationalitäten, die den Fähnchen ihres Führers folgten. Zuerst hatten die Deutschen Prag besetzt, dann waren die Panzer der Russen durch die Straßen gerollt und jetzt die Lawine des internationalen Tourismus. Auch wenn es ihr nicht gefiel – sie war ein Teil davon.
Trotz der Massen wanderte sie rauf zur Prager Burg, löste ein Ticket und betrat das Goldgässchen, das durch den Massentourismus auch viel von seinem Charme eingebüßt hatte. Sie hatte Hunger, aber hier oben gab es überall nur industriell gefertigte Mikrowellen-Sandwiches und so hielt sie noch eine ganze Weile durch und plante einen Imbiss nach dem Abstieg. Kurz vor der Karlsbrücke nahm sie Platz in einem der zahlreichen Touristen-Restaurants und verspeiste in Erinnerung an ihren Aufenthalt vor dreißig Jahren die böhmische Spezialität schlechthin: Gulasch mit Hefe-Knödeln und Rotkohl. Eigentlich etwas für kalte Tage, aber das Essen war so köstlich wie damals und sie bereute nicht, in einem Lokal Platz genommen zu haben, in dem vermutlich keine Einheimischen aßen.
Frisch gestärkt machte sie sich auf zu ihrem nächsten Ziel, sie wollte noch einmal vor dem prachtvollen Bau des Nationaltheaters stehen. Man sah die schwarz-goldene Kuppel mit der eigentümlichen Form von nahezu jedem Punkt der Innenstadt. Bei der Abschlussfahrt der Jahrgangsstufe 13 hatte ihnen dies als Orientierung gedient, hatte sich doch die Tram-Station, von wo sie damals zurück ins Hotel gefahren waren, ganz in der Nähe befunden. Die Schönheit des Theaters war ungebrochen. Aber heute zog sie nichts mehr in die Straßen, in denen sie damals von Kneipe zu Kneipe geschlendert waren, um sich mit dem leichten, aber würzigen Schwarzbier vollzukübeln. Sie selbst hatte sich nicht betrunken, aber etliche hatten damals den Bogen überspannt und waren an Peinlichkeit nicht zu übertreffen gewesen. Sie schlug die andere Richtung ein. Gegenüber des Nationaltheaters führte eine Brücke über die durch Stauwehre träge dahin strömende Moldau. In der Mitte des Flusses lag eine Insel und die war ihr Ziel. Damals hatte das Herbstlaub gelb geleuchtet, heute war alles grün und zu den Bäumen und Bänken hatten sich Spielplätze gesellt. Aber als sie die Wege entlang schlenderte, sah sie ihren Mitschüler Horsti vor sich. Horsti hatten sie ihn seines Nachnamens wegen genannt: Horstmeier. Sie hatte tatsächlich seinen Vornamen vergessen. Sie hatten sich über ihn lustig gemacht. Horsti war ein Intellektueller, ein Büchernerd, der eine Eins in Philosophie und Literatur hatte, eine Nickelbrille trug und sich betont unmodern kleidete. Er lebte das Klischee des einsamen Dichters und Denkers, von allen unverstanden, wo er doch selbst längst verstanden hatte, was die bürgerlichen Biertrinker hinter ihren Schlachthoffassaden niemals begreifen würden. In Prag war er auf den Spuren Kafkas gewandelt, hatte einen Koffer voller Bücher erstanden und man hatte ihm bei seinem Spaziergang auf der Moldauinsel deutlich angesehen, dass er in seiner Vorstellung selbst zu Kafka wurde und mit jedem Schritt den Fuß bewusst auf den Boden setzte, auf dem schon sein großes Vorbild die gleichen düsteren Gedanken spazieren geführt hatte.
Sie nahm auf einer der Bänke an der Spitze der Insel Platz und blickte hinüber zu den Lichtern der Prager Burg. Nachts sah alles so unversehrt aus. Sie dachte an Ralf, in den sie damals so verliebt gewesen war, der sie kaum eines Blickes gewürdigt hatte und schließlich mit Anja im Hotelzimmer rumgeknutscht hatte. Sie dachte an Heike und Martina, mit denen sie hier auf Entdeckungsreise gegangen war. Sie hatte seit mehr als zehn Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Die Menschen in ihrem Leben kamen und gingen und man wusste erst viele Jahre später, welche Rolle sie eigentlich gespielt hatten.
Sie erhob sich und ging ans Wasser. Einmal die Finger in die Moldau halten, einen Stein finden, ein Andenken, eine Verbindung zwischen damals, heute und morgen. Sie kniete vor dem gluckernden Wasser und suchte den nahen Grund nach Steinen ab, als sie plötzlich etwas drückte. Ihr Hals zog sich zu, sie bekam keine Luft, jemand drückte seine spitzen Knie in ihre Schulterblätter. Abwechselnd ruderte sie mit den Armen und versuchte, ihre Finger hinter das zu klemmen, das ihr die Kehle zuschnürte, sie hörte ihren eigenen Herzschlag, das Blut rauschte in ihren Ohren, der Kopf wurde heiß, die Lichter, die der Fluss reflektierte, funkelten von den Wellen, welchen Wellen? Und dann erloschen sie auch schon.
ENDE TEIL II – FORTSETZUNG FOLGT AM 15.09.
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