Freitag, 17. Februar 2017
Pest oder Cholera
Milchig weiß quält sich die Sonne durch die dunstige Suppe des Novembernebels. Wie gern hätte Andrea sich heute morgen im Bett noch einmal umgedreht, sich gegen elf zuerst in die Badewanne und dann mit Milchkaffee und Schnittchen aufs Sofa gelümmelt, gelesen und gelegentlich aus dem Fenster gelinst. Statt dessen hat sie um sieben der Wecker aus den Träumen gerissen, ein Gefühl, als sei es mitten in der Nacht, schließlich war es noch dunkel draußen und die Dusche war nicht richtig heiß geworden. Ein schneller Kaffee, ein bisschen Müsli, die Autoscheiben freikratzen und dann frierend ins Kreishaus fahren, wo schon abgestandener Filterkaffee, lauwarmer Tee mit Schlieren, staubiges Fabrikgebäck und Remouladenschnittchen auf sie warten. Und erst die Kollegen, die lieben Brüder und Schwestern und die naiven Ehrenamtlichen, die heute antreten, um sich zwischen Pest und Cholera zu entscheiden.
Es ist Wintersynode, eine Legislaturperiode beendet, der alte Sup geht in den Ruhestand und für die Nachfolge haben sich nicht viele beworben. Warum auch? Wer reißt sich schon um die Verantwortung, für ein paar Kröten mehr auf dem Konto? Verprassen kann man die ohnehin nicht, denn während dessen hat man keine Zeit dazu und hinterher ist man so verbraucht, dass alles für Gesundheitsleistungen draufgeht. Aus Andreas Sicht sind es immer die Seltsamen, die sich um ein solches Amt bewerben: die Machthungrigen, die Selbstaufopferer, die Geltungsbedürftigen oder, wenn es ein absoluter Glücksfall ist, die Genies, die das alles aus dem Ärmel schütteln können und einfach überredet worden sind. Aber in diesem Jahr gibt es kein Genie. Da ist nur Pest: Roland Sackheim, einfältig, aber vielfältig manipulierbar, ein gefundenes Fressen für die Strippenzieher im Hintergrund, einer der den Kirchenkreis garantiert vor die Wand fahren wird und diejenigen, die davon profitieren, können dies in aller Stille und ohne drohende Konsequenzen tun.
Und dann ist da Cholera: Detlev Sundermann, gestaltungswillig, eloquent, hartnäckig. Er ist nicht nur ambitionierter Gemeindepfarrer, sondern auch ein leistungsstarker Freizeitsportler und Rotarier.
Auf dem Weg zu einem Sitzplatz fühlt Andrea sich, als würde sie sich durch Schlamm bewegen, durch eine Masse unförmiger, nachlässig gekleideter, unfrisierter Menschen. Dabei ist sie selbst keine Styling-Queen und auch kein Bodyshaping-Vorbild. Aber für einen wohlwollenden Blick fehlt ihr heute Morgen die manische Energie, die sie in ihren Beruf getrieben hat. Sie nimmt an einem der langen Tische Platz, die in ihrer Anordnung an die Speisesäle englischer Eliteschulen erinnern oder an die große Halle in Hogwarts aus den Harry-Potter-Filmen.
Singen, Beten, Tagesordnung abarbeiten, Mittagsimbiss, Smalltalk, Mundwinkel einfrieren, damit das Lächeln nicht verrutscht, durchhalten, durchhalten, durchhalten.
Dann kommt es zur Wahl. Andrea kann nicht wählen. Sie will sich weder am Ruin des Kirchenkreises schuldig machen, noch an seiner Verwandlung in eine totalitäre Vorhölle. Sie könnte schließlich hinterher kaum behaupten, sie habe das alles nicht gewusst. Sie weiß mehr, als ihr lieb ist. Sie enthält sich.
Auszählung. Spannung. Resignation. Es ist ja egal, ob nun Pest oder Cholera obsiegt. Dann das Ergebnis: Unentschieden. Ein Stöhnen geht durch die Reihen. Noch mindestens eine weitere Stunde Lebenszeitverschwendung. Eine halbe Stunde Pause bis zum zweiten Wahlgang. Geschäftiges Treiben bei den einen, gähnende Langeweile bei den anderen. Zigaretten vor der Tür.Toilettengänge. Brennende Mägen vom fünften lauwarmem Kaffee und zu viel Weißbrot mit Remoulade und Essig-Gürkchen. Und dann dieser markerschütternde Schrei. Andrea denkt augenblicklich an ein durchgebrochenes Magengeschwür. Dann sieht sie den Menschenauflauf vor der Herrentoilette. Alle reden aufgeregt durcheinander. Schließlich kommt ihr Henning entgegen. Leichenblass ist er, ihre Blicke treffen sich. „Was ist los?“, Flüstert sie.
„Sackheim wurde eben tot aufgefunden.“, antwortet Henning erschüttert. „Was?“, fragt Andrea ungläubig und Henning fährt fort: „Er liegt mit offener Hose vor dem Pissoir. Offensichtlich hat man ihn mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen, denn er hat eine frische Kopfwunde. Besonders merkwürdig ist, dass man ihm auch das Jackett ausgezogen und den Hemdsärmel aufgekrempelt hat. Ich hab ihn mir genauer angesehen, ich hab ihn ja gefunden. Da war ein roter Punkt in der Ellenbeuge. Ich denke, dem hat jemand etwas injiziert. Bernhard alarmiert gerade die Polizei.“
Alle rennen durcheinander. Andrea schämt sich, denn gleich nach dem ersten Schreck denkt sie: „Mist, das dauert jetzt sicher noch Stunden hier und wir müssen bei Junkfood und Magen reizendem Filterkaffee ausharren, dabei hätte ich wenigstens den frühen Abend noch entspannt im Wohnzimmer verbracht. - Aber wie bin ich eigentlich drauf? Ein Kollege wird ermordet und ich betrauere meinen verspäteten Feierabend. Gut dass keiner in meinen Kopf sehen kann.“
Die Polizei ist noch nicht eingetroffen. Andrea geht in den ersten Stock, denn dort gibt es eine Sitzgruppe mit gepolsterten Sesseln, eine Wartezone für den Publikumsverkehr. Hier oben ist es viel ruhiger, fast schon gespenstisch still. Am Ende des Flures irritiert ein dunkler Fleck. Andrea hat nicht den Hauch einer Idee, worum es sich handeln könnte. Hat da jemand seine Handtasche verloren? Sie geht darauf zu. Als sie fast angekommen ist, erkennt sie einen Herrenschuh, in dem ein Fuß steckt. Sie blickt um die Ecke und jetzt ist sie diejenige, deren Brust panische Laute entweichen, aber keine spitzen Schrei, eher ein Würgen, dann ein Brüllen, dann haltloses Schluchzen. Sundermann liegt seltsam verrenkt auf dem Rücken, in seiner Brust steckt ein martialischer Dreizack. Andrea muss sich erst wieder fangen, bevor sie in der Lage ist, ins Erdgeschoss zu laufen und Alarm zu schlagen. Sie läuft Godehard Mertens ins die Arme. Ausgerechnet diese schmierige Ratte. Sie kann kaum sprechen, stottert nur: „Sundermann...tot...“ und weist nach oben. Mertens fasst sie an den Ellbogen: „Zeigen Sie mir, wo er ist.“ Widerwillig führt sie Mertens zu ihrem grausigen Fund. Mertens wird leichenblass. So hat sie ihn noch nie gesehen, noch nie die nackte Angst in seinen sonst so eiskalten Augen bemerkt. Aber Mertens starrt nicht auf den toten Kollegen. Mertens starrt auf den Dreizack. Eine unkontrollierbare Assoziationskette schießt Andrea durch den Kopf: Dreizack – Teufelswaffe – Satanismus-Symbol – Geheimlogen – Sundermann – Rotary - Mertens. Ja Mertens ist ebenfalls Rotarier, das hat sie vor längerer Zeit in der Zeitung gelesen. Ist er der Nächste? Oder ist Sundermann übers Ziel hinaus geschossen und Mertens versteht die Botschaft, weil er zum inner Circle gehört? Andrea will es gar nicht wissen. Sie will nur weg hier, setzt einen Fuß vor den anderen, bis sie endlich die rettende Treppe erreicht hat. Als sie hinabsteigt denkt sie: „Alle beide weg. Pest und Cholera besiegt.“ Und diesmal schämt sie sich kein bisschen. „Und was kommt jetzt? Der stylische, selbstverliebte faule Egomane Rüdiger Wolf oder die total chaotische sich selbst aufopfernde und sich ständig verzettelnde Gutfrau Adriana Bulthaup-Meierjohann? Wir haben die Wahl. Die Wahl zwischen AIDS und Ebola.“

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Hehe, deine Geschichten können einem glatt die Kirche verderben ... ;o)

Vielleicht doch lieber Arztromane? Zu denen habe ich eh kein Vertrauen ... ;o)

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Bei Kirchens gibt's mehr Geschmacksrichtungen
Im Klinik- und Praxis-Alltag kenne ich mich nur so weit aus, als ich selbst in Behandlung war. Nun war ich schon einige Male in meinem Leben im Krankenhaus, auch mit schlimmeren Leiden als Blinddarm oder Bänderriss, aber Krankenhäuser haben so etwas Eindimendionales: Schwesternschülerin Nina wird von Doktor Pillermann verführt, der schon seit Jahren von der dahinwelkenden Schwester Kerstin heimlich verehrt wird und die Galle auf 135 raubt allen Bereitschaftskräften den Nachtschlaf. Viel mehr fällt mir dazu nicht ein.

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Ich habe da ein paar schöne Anekdoten auf Lager von damals als ich mit Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Da lagen wir in den Gängen, weil das eine richtige Epidemie war. Diverse merkwürdige Patienten und eine sehr ruppige Nachtschwester.

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erzähl mir mehr! :-)

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bis ich mal gerafft habe, dass "sup" kein name ist!
ich so: "um was für einen posten geht es denn? der altes sup (komischer name) soll also ersetzt werden, aber als was? zwei sind schon tot und alles was ich weiss, die waren vegetarier (seit wann ist das eine geheimloge?) und der eine hat vielleicht oder vielleicht auch nicht streng geheime vegetarier-geheimnisse ausgeplaudert. aber deshalb mit einer mistgabel entmannen?"

sorry, beim ersten mal lesen etwas unkonzentriert gewesen und mir das dann nochmal reingezogen und dann ich so: "aaaaaaaaahhhhh!"

wieder mal sehr schön grotesk alles, was ich mir gut vorstellen könnte wäre mal ein crossover ihres diabolischen kirchen-planeten mit den midsomer murders. die sind da auch alle so schön exzentrisch, nur nicht ganz so bösartig wie bei ihnen! ;)

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was ich sehr originell finde
kurz vor dem ende ein geheimnis anzudeuten, dass sich theoretisch unglaublich kompliziert entwickeln könnte, und dann dieses ende, wo die protagonistin ihren schock instantan abschüttelt und sich im geist dann doch eher ihrer seelenverwandschaft mit dem unbekannten täter hingibt. ich sag ja, die ist so hollywood-schizophren, so wie norman bates und war das irgendwie selber in verkleidung! ;)

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Hallo Christina, ich habe einen Post daraus gemacht.

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Hallo Dreadpan,
beim Lesen Deines ersten Kommentars habe ich mich schier bepisst und fühlte ich mich außerdem außerordentlich geschmeichelt, denn wir sind hier alle Barnaby-verrückt. Aber duzen wir uns nicht? Oder soll ich Sie siezen?
Zum zweiten: was heißt "instantan"? Aber die Interpretation fand ich überaus anregend. So weit habe ich gar nicht gedacht. Schön, wenn Anderen so etwas dazu einfällt :-)

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Hallo Birgit!
Habe gerade Deinen Beitrag gelesen - das sind zumindest schon einmal ein paar absonderliche Figuren, die ausbaufähig wären, das muss ich zugeben.
Ich hoffe Du hast das Trauma nunmehr verarbeitet ;-)

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ja wir duzen uns schon länger
ich bin heute wirklich etwas wirr. sorry!

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instantan heisst soviel wie
augenblicklich. glaube ich zumindest ;)

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Wie spricht man das dann aus?
eher lateinisch, also etwa inn-stan-taán

oder eher englisch, also etwas inn - stènn - ten

????

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Hallo Christina,
Jo, das Trauma ist verarbeitet denke ich, ist ja schon lange her. Das fiel mir nur wieder ein wegen des Arzt-Ambientes über das wir konversierten. Es war aber schon ein skurriles Erlebnis. Und wie so oft ist nichts nur gut oder nur schlecht ...

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