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Samstag, 13. April 2024
Spoiler 22
c. fabry, 15:06h
1997
Mehr als 24 Jahre war Raimund Ramöller nun schon auf der Welt, führte nahezu selbstständig einen Bauernhof, die die Mutter ihm beizeiten überschreiben würde, war erfolgreich, fleißig und stark und saß nun in den Startlöchern für den nächsten Schritt. Eine feste Partnerin war jedoch nicht in Sicht. Er lebte nicht in den Fünfzigern, wo er mit einem ordentlich geführten und reichlich ausgestatteten Hof noch eine gute Partie abgegeben hätte. Es brauchte mehr als wirtschaftliche Sicherheit. Raimund war bei der Weiblichkeit in der Umgebung als liebloser Rüpel verschrien, der ohne jegliche Empathie nur sein eigenes Vergnügen suchte. Ebenso hielt sich seine körperliche Attraktivität in Grenzen: die definierten Muskeln saßen nicht an den richtigen Stellen und aus dem vierschrötigen Bauerngesicht blickten nicht gerade die elektrisierenden Augen eines Brad Pitt.
Alle Zelt- und Spritzenhausfeste der vergangenen drei Jahre waren ergebnislos für ihn verlaufen, ihm blieben weiterhin nur harte Arbeit und Männerabende, sonst nichts. Doch sollte ihm ein gänzlich anderer ruraler Brauch in seinem 24. Frühling weiterhelfen. Die Landjugend übernahm in diesem Jahr die Wache beim Osterfeuer und Heike Sommer brachte ihre Schulfreundin Astrid aus Halle mit. Sie fiel ihm sofort auf, gertenschlank und vorteilhaft gekleidet wie sie war in ihrer Boyfriend-Jeans mit dem breiten Ledergürtel, der unter dem lässigen Kurzpulli hervor lugte.
Er machte ein paar unverfängliche Scherze, nahm neben ihr auf einem Strohballen Platz und fragte neugierig, wer sie sei und was sie so mache.
Astrid war 19 Jahre alt, schloss gerade ihre Ausbildung in der Krankenpflege ab, lebte noch bei ihren Eltern, plante jedoch, in Kürze mit einer Freundin zusammen zu ziehen, gern auf dem Land, weil die bezahlbaren Wohnungen hier oft großzügiger geschnitten waren und man sich in der Ruhe und Abgeschiedenheit besser von dem turbulenten Berufsalltag regenerieren konnte.
Sie betrachtete Raimund nicht mit der gewohnten Herablassung, hörte ihm aufmerksam zu, lachte über seine ausgewählten, harmlosen Witze, die er mit Bedacht gegen die üblichen derben Späße austauschte, um es nicht zu vermasseln. Er trank auch wenig Alkohol, um die Kontrolle zu behalten. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit hatte er so ein tiefschürfendes und freundliches Gespräch mit einem weiblichen Wesen geführt. In der Nacht ging sein Kopf auf Reisen in triefend kitschige Kulissen, aber auch in seine reale Umgebung, jedoch niemals allein, sondern immer mit Astrid.
Sie trafen sich schon bald darauf wieder, beim Tanz in den Mai, tanzten, scherzten, tranken, kamen sich näher. Es folgten Freizeitaktivitäten mit ausgewählten Mitgliedern der Landjugend: Bowling, Kartbahn, Spaßbad, sowie ein gemischter Himmelfahrtsausflug.
Im Juni ließ er es krachen und feierte eine Garagenparty, um den 24. Geburtstag vom unwirtlichen Februar in den lauen Frühsommer zu verlegen. Natürlich war Astrid ebenfalls eingeladen und natürlich nahm sie die Einladung an. Und praktischerweise blieb sie über Nacht. Er hielt sich dennoch zurück, drängte sich ihr nicht auf, um seine Chancen nicht zu verspielen. Am nächsten Morgen zeigte er ihr sein Elternhaus und sprach von seinen Umbauplänen für die Zukunft. Sie war äußerst interessiert, machte Vorschläge, empfahl ihm dieses und riet von jenem ab. Er war hingerissen. Als sie heimfuhr, verabredeten sie sich zu einem weiteren „Beratungstermin“ bei gepflegten Getränken.
Raimund hatte Zeichnungen angefertigt, die besprachen und überarbeiteten sie bei Campari-Orange. Sie tauschten sich aus über ihre Lebensträume: Er sprach über effektive Landwirtschaft, Synergieeffekte durch betriebliche Kooperationen, Spezialisierung und Arbeitsteilung, sie sprach über mobile Palliativ-Pflegedienste, insbesondere für Kinder, die es flächendeckend aufzubauen galt. Beide träumten von großzügigen Wohnräumen und glücklichen Kindern und von einer großen Reise in die Sonne.
Am Ende des Abends blieb sie nicht über Nacht, denn sie musste am nächsten Tag arbeiten, darum radelte sie nach Hause, doch zum Abschied kam es zu ersten Küssen, vorsichtig, zart, aber eindeutig.
Bereits eine Woche später lud Astrid ihn zu sich nach Hause ein, eine kleine Kellerparty, mit Raimund als einzigem Übernachtungsgast in ihrem Ein-Meter-Zwanzig-Bett, zu zweit. Es passierte, was passieren musste und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Raimund sich ganz und heil und richtig.
Von nun an waren sie ein Paar, trafen sich regelmäßig, rückten näher zusammen und trieben die Umbaupläne voran. Sie verlobten sich klassisch unterm Weihnachtsbaum, mit Solitär-Brillantring und Sekt zum Anstoßen. Heiraten wollten sie erst, wenn das neue Heim bezugsfertig war.
Ingrid war sich in diesem Tagen nicht im Klaren darüber, was sie fühlte. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Genugtuung, dass mit ihrem Sohn alles in Ordnung war, inklusive Enkelkindern, auf die sie sich freuen durfte und der nagenden Eifersucht, weil sie ihren Sohn künftig teilen musste und in seinem Leben auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Sie wurde zum Zaungast in ihrem eigenen Zuhause, so machtlos und der Gunst anderer hilflos ausgeliefert wie die längste zeit in ihrem Leben.
Mehr als 24 Jahre war Raimund Ramöller nun schon auf der Welt, führte nahezu selbstständig einen Bauernhof, die die Mutter ihm beizeiten überschreiben würde, war erfolgreich, fleißig und stark und saß nun in den Startlöchern für den nächsten Schritt. Eine feste Partnerin war jedoch nicht in Sicht. Er lebte nicht in den Fünfzigern, wo er mit einem ordentlich geführten und reichlich ausgestatteten Hof noch eine gute Partie abgegeben hätte. Es brauchte mehr als wirtschaftliche Sicherheit. Raimund war bei der Weiblichkeit in der Umgebung als liebloser Rüpel verschrien, der ohne jegliche Empathie nur sein eigenes Vergnügen suchte. Ebenso hielt sich seine körperliche Attraktivität in Grenzen: die definierten Muskeln saßen nicht an den richtigen Stellen und aus dem vierschrötigen Bauerngesicht blickten nicht gerade die elektrisierenden Augen eines Brad Pitt.
Alle Zelt- und Spritzenhausfeste der vergangenen drei Jahre waren ergebnislos für ihn verlaufen, ihm blieben weiterhin nur harte Arbeit und Männerabende, sonst nichts. Doch sollte ihm ein gänzlich anderer ruraler Brauch in seinem 24. Frühling weiterhelfen. Die Landjugend übernahm in diesem Jahr die Wache beim Osterfeuer und Heike Sommer brachte ihre Schulfreundin Astrid aus Halle mit. Sie fiel ihm sofort auf, gertenschlank und vorteilhaft gekleidet wie sie war in ihrer Boyfriend-Jeans mit dem breiten Ledergürtel, der unter dem lässigen Kurzpulli hervor lugte.
Er machte ein paar unverfängliche Scherze, nahm neben ihr auf einem Strohballen Platz und fragte neugierig, wer sie sei und was sie so mache.
Astrid war 19 Jahre alt, schloss gerade ihre Ausbildung in der Krankenpflege ab, lebte noch bei ihren Eltern, plante jedoch, in Kürze mit einer Freundin zusammen zu ziehen, gern auf dem Land, weil die bezahlbaren Wohnungen hier oft großzügiger geschnitten waren und man sich in der Ruhe und Abgeschiedenheit besser von dem turbulenten Berufsalltag regenerieren konnte.
Sie betrachtete Raimund nicht mit der gewohnten Herablassung, hörte ihm aufmerksam zu, lachte über seine ausgewählten, harmlosen Witze, die er mit Bedacht gegen die üblichen derben Späße austauschte, um es nicht zu vermasseln. Er trank auch wenig Alkohol, um die Kontrolle zu behalten. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit hatte er so ein tiefschürfendes und freundliches Gespräch mit einem weiblichen Wesen geführt. In der Nacht ging sein Kopf auf Reisen in triefend kitschige Kulissen, aber auch in seine reale Umgebung, jedoch niemals allein, sondern immer mit Astrid.
Sie trafen sich schon bald darauf wieder, beim Tanz in den Mai, tanzten, scherzten, tranken, kamen sich näher. Es folgten Freizeitaktivitäten mit ausgewählten Mitgliedern der Landjugend: Bowling, Kartbahn, Spaßbad, sowie ein gemischter Himmelfahrtsausflug.
Im Juni ließ er es krachen und feierte eine Garagenparty, um den 24. Geburtstag vom unwirtlichen Februar in den lauen Frühsommer zu verlegen. Natürlich war Astrid ebenfalls eingeladen und natürlich nahm sie die Einladung an. Und praktischerweise blieb sie über Nacht. Er hielt sich dennoch zurück, drängte sich ihr nicht auf, um seine Chancen nicht zu verspielen. Am nächsten Morgen zeigte er ihr sein Elternhaus und sprach von seinen Umbauplänen für die Zukunft. Sie war äußerst interessiert, machte Vorschläge, empfahl ihm dieses und riet von jenem ab. Er war hingerissen. Als sie heimfuhr, verabredeten sie sich zu einem weiteren „Beratungstermin“ bei gepflegten Getränken.
Raimund hatte Zeichnungen angefertigt, die besprachen und überarbeiteten sie bei Campari-Orange. Sie tauschten sich aus über ihre Lebensträume: Er sprach über effektive Landwirtschaft, Synergieeffekte durch betriebliche Kooperationen, Spezialisierung und Arbeitsteilung, sie sprach über mobile Palliativ-Pflegedienste, insbesondere für Kinder, die es flächendeckend aufzubauen galt. Beide träumten von großzügigen Wohnräumen und glücklichen Kindern und von einer großen Reise in die Sonne.
Am Ende des Abends blieb sie nicht über Nacht, denn sie musste am nächsten Tag arbeiten, darum radelte sie nach Hause, doch zum Abschied kam es zu ersten Küssen, vorsichtig, zart, aber eindeutig.
Bereits eine Woche später lud Astrid ihn zu sich nach Hause ein, eine kleine Kellerparty, mit Raimund als einzigem Übernachtungsgast in ihrem Ein-Meter-Zwanzig-Bett, zu zweit. Es passierte, was passieren musste und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Raimund sich ganz und heil und richtig.
Von nun an waren sie ein Paar, trafen sich regelmäßig, rückten näher zusammen und trieben die Umbaupläne voran. Sie verlobten sich klassisch unterm Weihnachtsbaum, mit Solitär-Brillantring und Sekt zum Anstoßen. Heiraten wollten sie erst, wenn das neue Heim bezugsfertig war.
Ingrid war sich in diesem Tagen nicht im Klaren darüber, was sie fühlte. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Genugtuung, dass mit ihrem Sohn alles in Ordnung war, inklusive Enkelkindern, auf die sie sich freuen durfte und der nagenden Eifersucht, weil sie ihren Sohn künftig teilen musste und in seinem Leben auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Sie wurde zum Zaungast in ihrem eigenen Zuhause, so machtlos und der Gunst anderer hilflos ausgeliefert wie die längste zeit in ihrem Leben.
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Freitag, 5. April 2024
Spoiler 21
c. fabry, 20:38h
1992 - Ingrid
Die Pflege ihrer Mutter hatte sie sich einfacher vorgestellt, so wie die Versorgung eines Angehörigen, der an Grippe erkrankt war: Tee kochen, etwas zu essen bringen, Fieber messen, einmal täglich das Bett aufschütteln und zwei tatkräftige Hände, die für ein bis zwei Wochen ausfielen.
Doch jedes Mal, wenn sie nach Lisbeth sah, beklagte die sich mit Blicken und aufgeregten, unartikulierten Lauten, so lange, bis Ingrid verstand, was sie brauchte: mal war es Durst, mal wollte sie umgelagert werden, dann war ihr kalt, dann zu warm, dann hing die Gardine schief, und vermutlich war sie grundsätzlich unzufrieden, weil sie so lange allein war. Aber Haus- und Stallarbeit machten sich nicht von allein und ihr Bruder Gerd verweigerte jegliche Unterstützung: "Du hast den Hof, dann ist es auch deine Aufgabe, die Alten zu versorgen."
Ingrid fragte sich, wie lange sie das wohl ohne Hilfedurchhalten würde. Sie tat wirklich alles, um am Ende nicht als treulose Tochter dazustehen, aber sie fragte sich täglich, ob sie ihrer Mutter diese aufopferungsvolle Pflege überhaupt schuldig war. Sie hatte sie nicht vor dem gewalttätigen Vater beschützt und sie zu einem Sonderling erzogen, isoliert von Gleichaltrigen und altersgemäßer Zerstreuung. Kindheit und Jugend hatte sie ihr gestohlen und jetzt würde sie sie um ihre besten Jahre bringen. Von Gerd wurde gar nichts verlangt. Der hatte einfach einen Batzen Geld kassiert und sich anderenorts ins gemachte Nest gesetzt.
Auf die Idee, Raimund um Unterstützung zu bitten, wäre sie nie gekommen. Er war noch immer ihr Herzblatt, das sie vor allem Ungemach beschützen musste. Er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren und wenn sie seine Hilfe in Anspruch nahm, dann ausschließlich in der Landwirtschaft.
So bemühte sie sich, durchzuhalten, mimte die fürsorgliche Tochter, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Doch sie fragte sich täglich, ob und wie lange sich dieses Arbeitspensum aufrechterhalten ließ. Sie konnte ja keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, dafür war das Geld zu knapp und ihr Bruder verweigerte auch in dieser Hinsicht jegliche Zuwendung. Bei so viel Herzenskälte war es auch mit Ingrids familiärer Loyalität zu Ende. Sie versäumte keine Gelegenheit, von der mangelnden geschwisterlichen Unterstützung zu berichten, und so gab es bald keine alteingesessenen Einwohner:innen mehr in Häger, die nicht wussten, wie Ingrid sich aufopferte und wie unfassbar gleichgültig ihr Bruder sich aus der Affäre zog. Nicht einmal zu Besuch kam Gerd, um nach seiner pflegebedürftigen Mutter zu sehen.
Es dauerte nur zwei Wochen, dann schloss Lisbeth gnädigerweise für immer die Augen. Ingrid hatte durchgehalten und alles richtig gemacht. Nur davon, dass sie dabei ihre schmutzige Wäsche überall im Dorf gewaschen hatte, waren manche befremdet. Die meisten hatten aber Verständnis, dass sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte und verachteten stattdessen Gerd, dem so mancher bei der Trauerfeier die Beileidsbekundung verweigerte.
Ingrid hatte Mühe, überzeugend die trauernde Tochter zu spielen, sie empfand Erleichterung und Befreiung und war innerlich nur noch von einem Gedanken erfüllt: dass ihr Leben nun endlich anfing.
1992 – Raimund
Auch Raimund spürte nicht einmal eine Spur von Trauer. Endlich konnte seine Mutter wieder ihren Anteil der Stallarbeit übernehmen und etwas Anständiges zu essen kochen.
Nur noch ein halbes Jahr, dann würde er die Lehre abgeschlossen haben. Er würde den Hof komplett übernehmen und auf Vordermann bringen. Mehr Schweine würde er anschaffen, die Pachtverträge kündigen, damit er wieder mehr Flächen für die Futtermittel zur Verfügung hatte. Seine Mutter würde den Haushalt schmeißen, bis er eine passende Frau gefunden hatte. Vermutlich würden sie dann das Wohnhaus umbauen und Ingrid könnte in ein eigenes Altenteil ziehen, damit sie ihnen nicht täglich zu nahe kam. Auch Raimund fühlte, dass es jetzt endlich losging.
Die Pflege ihrer Mutter hatte sie sich einfacher vorgestellt, so wie die Versorgung eines Angehörigen, der an Grippe erkrankt war: Tee kochen, etwas zu essen bringen, Fieber messen, einmal täglich das Bett aufschütteln und zwei tatkräftige Hände, die für ein bis zwei Wochen ausfielen.
Doch jedes Mal, wenn sie nach Lisbeth sah, beklagte die sich mit Blicken und aufgeregten, unartikulierten Lauten, so lange, bis Ingrid verstand, was sie brauchte: mal war es Durst, mal wollte sie umgelagert werden, dann war ihr kalt, dann zu warm, dann hing die Gardine schief, und vermutlich war sie grundsätzlich unzufrieden, weil sie so lange allein war. Aber Haus- und Stallarbeit machten sich nicht von allein und ihr Bruder Gerd verweigerte jegliche Unterstützung: "Du hast den Hof, dann ist es auch deine Aufgabe, die Alten zu versorgen."
Ingrid fragte sich, wie lange sie das wohl ohne Hilfedurchhalten würde. Sie tat wirklich alles, um am Ende nicht als treulose Tochter dazustehen, aber sie fragte sich täglich, ob sie ihrer Mutter diese aufopferungsvolle Pflege überhaupt schuldig war. Sie hatte sie nicht vor dem gewalttätigen Vater beschützt und sie zu einem Sonderling erzogen, isoliert von Gleichaltrigen und altersgemäßer Zerstreuung. Kindheit und Jugend hatte sie ihr gestohlen und jetzt würde sie sie um ihre besten Jahre bringen. Von Gerd wurde gar nichts verlangt. Der hatte einfach einen Batzen Geld kassiert und sich anderenorts ins gemachte Nest gesetzt.
Auf die Idee, Raimund um Unterstützung zu bitten, wäre sie nie gekommen. Er war noch immer ihr Herzblatt, das sie vor allem Ungemach beschützen musste. Er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren und wenn sie seine Hilfe in Anspruch nahm, dann ausschließlich in der Landwirtschaft.
So bemühte sie sich, durchzuhalten, mimte die fürsorgliche Tochter, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Doch sie fragte sich täglich, ob und wie lange sich dieses Arbeitspensum aufrechterhalten ließ. Sie konnte ja keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, dafür war das Geld zu knapp und ihr Bruder verweigerte auch in dieser Hinsicht jegliche Zuwendung. Bei so viel Herzenskälte war es auch mit Ingrids familiärer Loyalität zu Ende. Sie versäumte keine Gelegenheit, von der mangelnden geschwisterlichen Unterstützung zu berichten, und so gab es bald keine alteingesessenen Einwohner:innen mehr in Häger, die nicht wussten, wie Ingrid sich aufopferte und wie unfassbar gleichgültig ihr Bruder sich aus der Affäre zog. Nicht einmal zu Besuch kam Gerd, um nach seiner pflegebedürftigen Mutter zu sehen.
Es dauerte nur zwei Wochen, dann schloss Lisbeth gnädigerweise für immer die Augen. Ingrid hatte durchgehalten und alles richtig gemacht. Nur davon, dass sie dabei ihre schmutzige Wäsche überall im Dorf gewaschen hatte, waren manche befremdet. Die meisten hatten aber Verständnis, dass sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte und verachteten stattdessen Gerd, dem so mancher bei der Trauerfeier die Beileidsbekundung verweigerte.
Ingrid hatte Mühe, überzeugend die trauernde Tochter zu spielen, sie empfand Erleichterung und Befreiung und war innerlich nur noch von einem Gedanken erfüllt: dass ihr Leben nun endlich anfing.
1992 – Raimund
Auch Raimund spürte nicht einmal eine Spur von Trauer. Endlich konnte seine Mutter wieder ihren Anteil der Stallarbeit übernehmen und etwas Anständiges zu essen kochen.
Nur noch ein halbes Jahr, dann würde er die Lehre abgeschlossen haben. Er würde den Hof komplett übernehmen und auf Vordermann bringen. Mehr Schweine würde er anschaffen, die Pachtverträge kündigen, damit er wieder mehr Flächen für die Futtermittel zur Verfügung hatte. Seine Mutter würde den Haushalt schmeißen, bis er eine passende Frau gefunden hatte. Vermutlich würden sie dann das Wohnhaus umbauen und Ingrid könnte in ein eigenes Altenteil ziehen, damit sie ihnen nicht täglich zu nahe kam. Auch Raimund fühlte, dass es jetzt endlich losging.
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Samstag, 30. März 2024
Spoiler 20
c. fabry, 18:19h
1992 - Raimund
Es war eine willkommene Ausrede gewesen, die Arbeit auf dem zugigen Feld den Anderen überlassen zu dürfen und sich nach einer warmen Mittagsmahlzeit und einer Dosis Lieblingsmusik stattdessen der warmen, windgeschützten Stallarbeit zu widmen. Raimund schätzte seine Großmutter nicht sonderlich, sie verbreitete stets schlechte Stimmung und ihr Dasein brachte für ihn keinerlei Vorteile mit sich. Auch wenn seine Mutter in den folgenden Wochen täglich das Krankenhaus aufsuchte, änderte sich für ihn persönlich so gut wie nichts. Er war weiterhin auf dem Lehrhof, das Essen kam jetzt häufiger aus dem Imbiss oder der Tiefkühltruhe und das fand er ohnehin schmackhafter, als Omas traditionelle Hausmannskost.
An den Wochenenden ließ er sich auch im Krankenhaus blicken, saß seine Zeit am Bett der hinfälligen Greisin ab und fragte sich stets, wie lange es wohl noch dauern würde. Als sie dann nach drei Wochen entlassen wurde und im Pflegebett wieder Teil der täglichen Routine wurde, war er regelrecht enttäuscht. Es war Zeit, dass sie verschwand. Sie war nie auf seiner Seite gewesen, hatte ihn nur drangsaliert, ihn gefordert und ihm nichts gegönnt. Jetzt war sie nur noch eine Last, verwandelte seine Mutter in ein hohläugiges Nervenbündel und das Haus in eine Stätte immerwährender Düsternis. Sie sollte gehen. Sie war dran.
Lisbeth
Es waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens gewesen, dort auf dem kalten Kellerboden, zur Hilflosigkeit verdammt, frierend in einer empfundenen Ewigkeit. So musste sich die Hölle anfühlen. Als ihre Tochter sie schließlich gefunden und zunächst nur geschrien hatte wie am Spieß, hätte sie sie am liebsten geschüttelt und eine Ansage gemacht: "Jetzt reiß dich mal zusammen! Hilf mir lieber! Ich bin nämlich noch nicht tot."
Aber dann hatte sie ja etwas unternommen, Hilfe geholt, sie gewärmt und alles, was sie brauchte ins Krankenhaus gebracht.
Dort hatte sie anfangs noch gehofft, dass alles wieder gut würde, dass sie sie schon wieder hinbekämen. Sie hatten sie ja reichlich gequält mit Untersuchungen, Krankengymnastik und dem unsäglich faden Essen, mit dem sie sie wieder aufpäppeln wollten. Als sie dann austherapiert nach Hause entlassen wurde, freute sie sich zwar, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren, doch als sie das Pflegebett in ihrem eichenen Schlafzimmer erblickte, sank ihr Mut - diesen Raum würde sie nicht mehr lebend verlassen, daran änderten auch die frischen Blumen nichts,die jemand aus der Nachbarschaft vorbei gebracht hatte. Sie ergab sich in ihr Schicksal, was blieb ihr auch anderes übrig? Und so lag sie da, starrte abwechselnd die Zimmerdecke, den Kleiderschrank und den durchs Fenster sichtbaren Himmel an und wartete, dass es endlich aufhörte.
Es war eine willkommene Ausrede gewesen, die Arbeit auf dem zugigen Feld den Anderen überlassen zu dürfen und sich nach einer warmen Mittagsmahlzeit und einer Dosis Lieblingsmusik stattdessen der warmen, windgeschützten Stallarbeit zu widmen. Raimund schätzte seine Großmutter nicht sonderlich, sie verbreitete stets schlechte Stimmung und ihr Dasein brachte für ihn keinerlei Vorteile mit sich. Auch wenn seine Mutter in den folgenden Wochen täglich das Krankenhaus aufsuchte, änderte sich für ihn persönlich so gut wie nichts. Er war weiterhin auf dem Lehrhof, das Essen kam jetzt häufiger aus dem Imbiss oder der Tiefkühltruhe und das fand er ohnehin schmackhafter, als Omas traditionelle Hausmannskost.
An den Wochenenden ließ er sich auch im Krankenhaus blicken, saß seine Zeit am Bett der hinfälligen Greisin ab und fragte sich stets, wie lange es wohl noch dauern würde. Als sie dann nach drei Wochen entlassen wurde und im Pflegebett wieder Teil der täglichen Routine wurde, war er regelrecht enttäuscht. Es war Zeit, dass sie verschwand. Sie war nie auf seiner Seite gewesen, hatte ihn nur drangsaliert, ihn gefordert und ihm nichts gegönnt. Jetzt war sie nur noch eine Last, verwandelte seine Mutter in ein hohläugiges Nervenbündel und das Haus in eine Stätte immerwährender Düsternis. Sie sollte gehen. Sie war dran.
Lisbeth
Es waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens gewesen, dort auf dem kalten Kellerboden, zur Hilflosigkeit verdammt, frierend in einer empfundenen Ewigkeit. So musste sich die Hölle anfühlen. Als ihre Tochter sie schließlich gefunden und zunächst nur geschrien hatte wie am Spieß, hätte sie sie am liebsten geschüttelt und eine Ansage gemacht: "Jetzt reiß dich mal zusammen! Hilf mir lieber! Ich bin nämlich noch nicht tot."
Aber dann hatte sie ja etwas unternommen, Hilfe geholt, sie gewärmt und alles, was sie brauchte ins Krankenhaus gebracht.
Dort hatte sie anfangs noch gehofft, dass alles wieder gut würde, dass sie sie schon wieder hinbekämen. Sie hatten sie ja reichlich gequält mit Untersuchungen, Krankengymnastik und dem unsäglich faden Essen, mit dem sie sie wieder aufpäppeln wollten. Als sie dann austherapiert nach Hause entlassen wurde, freute sie sich zwar, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren, doch als sie das Pflegebett in ihrem eichenen Schlafzimmer erblickte, sank ihr Mut - diesen Raum würde sie nicht mehr lebend verlassen, daran änderten auch die frischen Blumen nichts,die jemand aus der Nachbarschaft vorbei gebracht hatte. Sie ergab sich in ihr Schicksal, was blieb ihr auch anderes übrig? Und so lag sie da, starrte abwechselnd die Zimmerdecke, den Kleiderschrank und den durchs Fenster sichtbaren Himmel an und wartete, dass es endlich aufhörte.
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Freitag, 8. März 2024
Spoiler 19
c. fabry, 23:57h
1992 - Ingrid
Die Kellertür stand offen und Lisbeth war nicht in der Küche, dabei wäre es längst zeit für das Mittagessen gewesen. Ingrid wollte die Tür schon einfach schließen, aber das brennende Licht neben der Treppe hielt sie zurück. Wobei hielt ihre Mutter sich so lange auf, dass sie darüber das Mittagessen vergessen hatte? Sie rief hinunter: „Mama? Was machst du?“
Als sie keine Antwort bekam, schritt sie mit einem mulmigen Gefühl die Stufen hinunter und entdeckte Lisbeth, starr auf der Seite liegend neben der Kartoffelkiste. Das Entsetzen brach aus ihr heraus und sie schrie aus Leibeskräften. Warum musste sie immer die soeben Verstorbenen auffinden? Sie hasste die kalte Fratze des Todes, das eisige Grauen, das durch jede Pore in ihren Körper kroch, ihr den Magen umdrehte und das Herz einzwängte, im Kopf ein bösartiges Kribbeln auslöste und Arme und Beine erstarren ließ. Mit dem Schrei stieß sie das Grauen aus sich heraus, machte sich frei davon, schaffte Distanz zwischen sich und dem Tod. Er hatte wieder zugeschlagen, aber sie wollte am Leben bleiben.
Kaum wahrnehmbar, aber doch stark genug, um es zu registrieren, hob und senkte sich Lisbeths Brustkorb. Sie atmete, sie war am Leben. Ingrid beugte sich über sie. „Mama? Hörst du mich?“
Ein unartikuliertes Stöhnen war die Antwort.
„Ich hole Hilfe.“, sagte Ingrid. „Ich bin gleich zurück.“
Sie stürmte nach oben, lief ins Wohnzimmer und rief einen Rettungswagen. Raimund war noch bei der Arbeit, also riss sie alle Türen auf, schnappte sich eine Decke und rannte zurück in den Keller, wo sie versuchte, ihre Mutter auf die Decke zu rollen. Das gestaltete sich weitaus schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte, weil Lisbeth nicht mithelfen konnte, obwohl sie doch klein und mager war. Es gelang ihr einigermaßen und sie versuchte, den ausgekühlten, alten Körper ein wenig aufzuwärmen. Lisbeth hatte sicher bereits zwei Stunden auf dem klammen, kalten Kellerboden zugebracht und während sie bei ihrer Mutter saß, dachte sie darüber nach, was als Nächstes zu tun sei, wenn der Notarzt seine Arbeit getan hatte. Das Vieh war für die nächsten Stunden versorgt, die Küche blieb heute kalt, abends könnte Raimund Pommes und Bratwurst aus einem Imbiss holen, aber wenn sie mit ins Krankenhaus fahren musste, dann würde keiner das Vieh am Abend versorgen. Sie musste auf dem Lehrhof anrufen. Raimund musste sich freischaufeln oder eine Vertretung organisieren.
Der Rettungswagen traft bereits nach wenigen Minuten ein. Die Sanitäter brachten Lisbeth ins nahe gelegene Krankenhaus nach Werther. Sie versicherten Ingrid, dass sie in den nächsten Stunden nicht viel tun könne, außer ein paar Sachen für ihre Mutter vorbei zu bringen. Also packte sie in Ruhe eine Tasche, rief bei Raimund Lehrstelle an, die ihn sofort nach Hause gehen ließen. Ingrid zauberte nun doch ein einfaches Mittagessen, ruhte sich kurz aus, wusch sich und wechselte die Kleidung. Dann machte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus und übertrug Raimund die Sorge um das Vieh.
Lisbeth blieb eine Weile dort. Sie hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und man hatte zunächst stabilisierende Maßnahmen eingeleitet. Ingrid schaute täglich vorbei, sprach mit den Schwestern, selten mit den Ärzten, ihre Mutter war ansprechbar, erkannte sie, konnte aber nicht sprechen und war halbseitig gelähmt. Es folgten eine Menge Untersuchungen und medikamentöse Einstellungen, aber schon bald betrachteten die Ärzte die alte Frau als austherapiert und dauerhaft pflegebedürftig. Die Unterbringung in einem Heim kam nicht infrage, also organisierte Ingrid mit Unterstützung aus dem Krankenhaus ein Pflegebett und jedes Zubehör, das sie für die Pflege ihrer Mutter benötigte. Nach drei Wochen lag Lisbeth wieder in ihrer vertrauten Umgebung.
Die Kellertür stand offen und Lisbeth war nicht in der Küche, dabei wäre es längst zeit für das Mittagessen gewesen. Ingrid wollte die Tür schon einfach schließen, aber das brennende Licht neben der Treppe hielt sie zurück. Wobei hielt ihre Mutter sich so lange auf, dass sie darüber das Mittagessen vergessen hatte? Sie rief hinunter: „Mama? Was machst du?“
Als sie keine Antwort bekam, schritt sie mit einem mulmigen Gefühl die Stufen hinunter und entdeckte Lisbeth, starr auf der Seite liegend neben der Kartoffelkiste. Das Entsetzen brach aus ihr heraus und sie schrie aus Leibeskräften. Warum musste sie immer die soeben Verstorbenen auffinden? Sie hasste die kalte Fratze des Todes, das eisige Grauen, das durch jede Pore in ihren Körper kroch, ihr den Magen umdrehte und das Herz einzwängte, im Kopf ein bösartiges Kribbeln auslöste und Arme und Beine erstarren ließ. Mit dem Schrei stieß sie das Grauen aus sich heraus, machte sich frei davon, schaffte Distanz zwischen sich und dem Tod. Er hatte wieder zugeschlagen, aber sie wollte am Leben bleiben.
Kaum wahrnehmbar, aber doch stark genug, um es zu registrieren, hob und senkte sich Lisbeths Brustkorb. Sie atmete, sie war am Leben. Ingrid beugte sich über sie. „Mama? Hörst du mich?“
Ein unartikuliertes Stöhnen war die Antwort.
„Ich hole Hilfe.“, sagte Ingrid. „Ich bin gleich zurück.“
Sie stürmte nach oben, lief ins Wohnzimmer und rief einen Rettungswagen. Raimund war noch bei der Arbeit, also riss sie alle Türen auf, schnappte sich eine Decke und rannte zurück in den Keller, wo sie versuchte, ihre Mutter auf die Decke zu rollen. Das gestaltete sich weitaus schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte, weil Lisbeth nicht mithelfen konnte, obwohl sie doch klein und mager war. Es gelang ihr einigermaßen und sie versuchte, den ausgekühlten, alten Körper ein wenig aufzuwärmen. Lisbeth hatte sicher bereits zwei Stunden auf dem klammen, kalten Kellerboden zugebracht und während sie bei ihrer Mutter saß, dachte sie darüber nach, was als Nächstes zu tun sei, wenn der Notarzt seine Arbeit getan hatte. Das Vieh war für die nächsten Stunden versorgt, die Küche blieb heute kalt, abends könnte Raimund Pommes und Bratwurst aus einem Imbiss holen, aber wenn sie mit ins Krankenhaus fahren musste, dann würde keiner das Vieh am Abend versorgen. Sie musste auf dem Lehrhof anrufen. Raimund musste sich freischaufeln oder eine Vertretung organisieren.
Der Rettungswagen traft bereits nach wenigen Minuten ein. Die Sanitäter brachten Lisbeth ins nahe gelegene Krankenhaus nach Werther. Sie versicherten Ingrid, dass sie in den nächsten Stunden nicht viel tun könne, außer ein paar Sachen für ihre Mutter vorbei zu bringen. Also packte sie in Ruhe eine Tasche, rief bei Raimund Lehrstelle an, die ihn sofort nach Hause gehen ließen. Ingrid zauberte nun doch ein einfaches Mittagessen, ruhte sich kurz aus, wusch sich und wechselte die Kleidung. Dann machte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus und übertrug Raimund die Sorge um das Vieh.
Lisbeth blieb eine Weile dort. Sie hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und man hatte zunächst stabilisierende Maßnahmen eingeleitet. Ingrid schaute täglich vorbei, sprach mit den Schwestern, selten mit den Ärzten, ihre Mutter war ansprechbar, erkannte sie, konnte aber nicht sprechen und war halbseitig gelähmt. Es folgten eine Menge Untersuchungen und medikamentöse Einstellungen, aber schon bald betrachteten die Ärzte die alte Frau als austherapiert und dauerhaft pflegebedürftig. Die Unterbringung in einem Heim kam nicht infrage, also organisierte Ingrid mit Unterstützung aus dem Krankenhaus ein Pflegebett und jedes Zubehör, das sie für die Pflege ihrer Mutter benötigte. Nach drei Wochen lag Lisbeth wieder in ihrer vertrauten Umgebung.
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