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Samstag, 26. Dezember 2020
Besitzstandswahrung
c. fabry, 00:10h
Einfach mal eine Sandburg platttreten. Nein, nicht eine, die Kinder nah am Wasser gebaut haben, um zu beobachten, wie die Flut langsam die Gräben füllt und Wetten abzuschließen, wie lange das Bauwerk die Gewalt der Gezeiten überlebt. Auch kein organisches Sandgebilde des berühmten Land-Art-Künstlers Andy Goldsworthy, das nur für den flüchtigen Augenblick und die photographische Dokumentation gemacht und demütig dem baldigen Verfall überlassen wird.
Nein, es geht um diese Festungen an deutschen Nordsee-Badestränden, um den gemieteten Strandkorb gezogene Bannmeilen, mit dem Spaten einen Meter tiefergelegt, ein mit der Kelle hochgezogener, aus feuchtem Sand glattgestrichener Wall wie aus Beton gegossen, akkurat, stabil, ein Meersand gewordener Jägerzaun. Außen ein Schriftzug in „Copperpot“, mosaikiert aus bleichen Herzmuscheln: Fam. Radewig – Holzwickede, Westf., in einem zylindrischen Mauerelement stecken zwei stolze Fahnen: die deutsche Flagge und das Banner des favorisierten Fußballvereins. Ins Innere der Burg gelangen die Bewohnenden über eine sauber geschaufelte und in Form geklopfte Treppe, mit exakt gleich hohen Stufen zur Vermeidung von Stolperunfällen auf einen esstrichgleichen, ordentlich mit der Wasserwaage ausgerichteten Fußboden.
Ach ja, in den Siebzigern waren das noch Einzelfälle, ernteten rückhaltlose Bewunderung für Kreativität, Tatkraft und Originalität. Aber dann wurden die Burgen Standard. Jetzt baut jeder eine um sein Strandsofa. Wie eine Fuchsbaustadt verbaut die Wabenhausidylle den Zugang zum Ozean. Strandeingang, ein paar Meter durch den fluffigen, heißen Sand stapfen und da, wo das Gehen wieder leichter fiele, und das erfrischende Nass der hereinrollenden Wellen in greifbare Nähe rückt: totale Sackgasse. Jeder Burgwall grenzt an den nächsten. Das Betreten der Bergkämme wird umgehend mit empörtem Gebrüll geahndet. Gewaltbereite, rotgesichtige Bierathleten mit Nabbelhut* drohen mit dem Hütehund oder der grünpinken Plastik-Pumpgun, während die gepflegt dahinwelkende Gattin das halbleinene Geschirrtuch über dem Camping-Klapptisch ausbreitet und mit frisch erworbenem Gebäck unfreiwillig hungrige Möwen anlockt.
Oder einfach mal im Spaßbad ein Reservierungshandtuch von einer Liege nehmen, achtlos auf den Boden fallen lassen und sich behaglich ausstrecken. Wenn dann der oder die Handtuchbesitzer*in nörgelt, erwidern: „Das ist ein Liegestuhl für Menschen, nicht für Handtücher. Ich hätte mich natürlich auch einfach auf Ihr Handtuch legen können, falls Ihnen das lieber ist.“
Nee, das kann man von der Bütt aus erzählen, aber nicht von der Kanzel. Doch wie bringt man Menschen nahe, dass es nicht in Ordnung ist, einfach ein Territorium zu besetzen und diesen aggressiven Akt umgehend mit legitimem Besitz gleichzusetzen? Natürlich tun Menschen das seit Jahrtausenden: ein Revier auswählen, einzäunen und „Meins!“ schreien – und das auch meinen. Egal, ob es sich um ein Stück Land handelt, Raubkunst aus Übersee, mit dem Blut lohngedumpter Bangladeshis gefertigte Billigkleidung oder ganz legal unversteuerte Riesengewinne aus staatlich subventionierter Produktion. Das Sich-Aneignen, einfach weil es geht, ist eine widerwärtige Perversion einer seit langem nicht mehr notwendigen, uralten Überlebensstrategie.
Eine Mutter ruft an. Ob ich nicht vielleicht doch einmal eine gruppenbildende Maßnahme für die neuen Konfis anbieten könne. Was sie sich eigentlich denkt, frage ich sie. Wir haben Kontaktverbot. Wir haben Corona. Sie faselt von Videokonferenzen. So weit kommt das noch. Ich halte nichts von dieser seelenlosen Technik. Das sage ich ihr auch. Stiehlt mir meine wertvolle Lebenszeit, diese Helicopter-Mutter, während ich über meiner Predigt brüte. Sehe ich gar nicht ein, mich derartig von meinem Job schlauchen zu lassen, dass ich im Ruhestand nur noch beim Arzt sitze. Sonst sind die Konfis doch auch froh, wenn der kirchliche Unterricht ausfällt und die Eltern winseln dauernd rum, dass das arme Kindchen jetzt gar nicht mehr pünktlich zum Fußball-Training gehen kann. Aber klar, das findet ja jetzt auch nicht statt. Ist aber nicht mein Problem. Ich muss diesen Text fertig kriegen und dann auf die Rennmaschine, meine Blutgefäße durchputzen. Lesen will ich heute auch noch. Ich habe jedenfalls keine Zeit für diesen Online-Tingeltangel – und keine Nerven. Soll sich doch der Jugendreferent drum kümmern. Dann ist der jetzt eben mal dran. Brüstet sich doch eh dauernd mit seinen tollen Events.
Beim Radeln kommen einem doch die besten Gedanken. Was passiert eigentlich wenn die Heli-Mama beim Sup anruft? Ach wenn der Kollege und der Jugendreferent nur nicht so ekelhaft engagiert wären in ihrem aktionistischen Übereifer. Natürlich stehe ich als moderat arbeitender Pflichterfüller sofort als Dienst-nach-Vorschrift-Kandidat am Pranger. Es sei denn, sie würden plötzlich ausfallen. Infiziert mit Corona. Kann ja mal passieren, bei einer Präsenz-DB. Ich besuche morgen mal Frau Faller. Tu so, als hätte ich das mit der Quarantäne vergessen. Mit der FFP3 Maske bin ich ja wohl sicher. Muss mir nur noch einen passenden Nährboden besorgen und dann stelle ich das den beiden unter die Nase. Die mit ihren selbstgehäkelten Recycling-Masken, die werden sich schon was einfangen. Thomas, in seinem deutlich fortgeschrittenen Alter, Jens mit seinem Bronchialasthma und der Immunschwäche… dann nervt mich keiner mehr mit Kinkerlitzchen. Und bis die beiden wieder einsatzfähig – oder die Stellen neu besetzt sind, ist der Corona-Wahnsinn gelaufen.
(*Baumwoll-Sonnenhut nach dem Vorbild der englischen Tweed-Buckets, mit herabhängender Krempe und Reißverschlusstasche in Zigarettenschachtelgröße, zu hundert Prozent Ballermann-kompatibel)
Nein, es geht um diese Festungen an deutschen Nordsee-Badestränden, um den gemieteten Strandkorb gezogene Bannmeilen, mit dem Spaten einen Meter tiefergelegt, ein mit der Kelle hochgezogener, aus feuchtem Sand glattgestrichener Wall wie aus Beton gegossen, akkurat, stabil, ein Meersand gewordener Jägerzaun. Außen ein Schriftzug in „Copperpot“, mosaikiert aus bleichen Herzmuscheln: Fam. Radewig – Holzwickede, Westf., in einem zylindrischen Mauerelement stecken zwei stolze Fahnen: die deutsche Flagge und das Banner des favorisierten Fußballvereins. Ins Innere der Burg gelangen die Bewohnenden über eine sauber geschaufelte und in Form geklopfte Treppe, mit exakt gleich hohen Stufen zur Vermeidung von Stolperunfällen auf einen esstrichgleichen, ordentlich mit der Wasserwaage ausgerichteten Fußboden.
Ach ja, in den Siebzigern waren das noch Einzelfälle, ernteten rückhaltlose Bewunderung für Kreativität, Tatkraft und Originalität. Aber dann wurden die Burgen Standard. Jetzt baut jeder eine um sein Strandsofa. Wie eine Fuchsbaustadt verbaut die Wabenhausidylle den Zugang zum Ozean. Strandeingang, ein paar Meter durch den fluffigen, heißen Sand stapfen und da, wo das Gehen wieder leichter fiele, und das erfrischende Nass der hereinrollenden Wellen in greifbare Nähe rückt: totale Sackgasse. Jeder Burgwall grenzt an den nächsten. Das Betreten der Bergkämme wird umgehend mit empörtem Gebrüll geahndet. Gewaltbereite, rotgesichtige Bierathleten mit Nabbelhut* drohen mit dem Hütehund oder der grünpinken Plastik-Pumpgun, während die gepflegt dahinwelkende Gattin das halbleinene Geschirrtuch über dem Camping-Klapptisch ausbreitet und mit frisch erworbenem Gebäck unfreiwillig hungrige Möwen anlockt.
Oder einfach mal im Spaßbad ein Reservierungshandtuch von einer Liege nehmen, achtlos auf den Boden fallen lassen und sich behaglich ausstrecken. Wenn dann der oder die Handtuchbesitzer*in nörgelt, erwidern: „Das ist ein Liegestuhl für Menschen, nicht für Handtücher. Ich hätte mich natürlich auch einfach auf Ihr Handtuch legen können, falls Ihnen das lieber ist.“
Nee, das kann man von der Bütt aus erzählen, aber nicht von der Kanzel. Doch wie bringt man Menschen nahe, dass es nicht in Ordnung ist, einfach ein Territorium zu besetzen und diesen aggressiven Akt umgehend mit legitimem Besitz gleichzusetzen? Natürlich tun Menschen das seit Jahrtausenden: ein Revier auswählen, einzäunen und „Meins!“ schreien – und das auch meinen. Egal, ob es sich um ein Stück Land handelt, Raubkunst aus Übersee, mit dem Blut lohngedumpter Bangladeshis gefertigte Billigkleidung oder ganz legal unversteuerte Riesengewinne aus staatlich subventionierter Produktion. Das Sich-Aneignen, einfach weil es geht, ist eine widerwärtige Perversion einer seit langem nicht mehr notwendigen, uralten Überlebensstrategie.
Eine Mutter ruft an. Ob ich nicht vielleicht doch einmal eine gruppenbildende Maßnahme für die neuen Konfis anbieten könne. Was sie sich eigentlich denkt, frage ich sie. Wir haben Kontaktverbot. Wir haben Corona. Sie faselt von Videokonferenzen. So weit kommt das noch. Ich halte nichts von dieser seelenlosen Technik. Das sage ich ihr auch. Stiehlt mir meine wertvolle Lebenszeit, diese Helicopter-Mutter, während ich über meiner Predigt brüte. Sehe ich gar nicht ein, mich derartig von meinem Job schlauchen zu lassen, dass ich im Ruhestand nur noch beim Arzt sitze. Sonst sind die Konfis doch auch froh, wenn der kirchliche Unterricht ausfällt und die Eltern winseln dauernd rum, dass das arme Kindchen jetzt gar nicht mehr pünktlich zum Fußball-Training gehen kann. Aber klar, das findet ja jetzt auch nicht statt. Ist aber nicht mein Problem. Ich muss diesen Text fertig kriegen und dann auf die Rennmaschine, meine Blutgefäße durchputzen. Lesen will ich heute auch noch. Ich habe jedenfalls keine Zeit für diesen Online-Tingeltangel – und keine Nerven. Soll sich doch der Jugendreferent drum kümmern. Dann ist der jetzt eben mal dran. Brüstet sich doch eh dauernd mit seinen tollen Events.
Beim Radeln kommen einem doch die besten Gedanken. Was passiert eigentlich wenn die Heli-Mama beim Sup anruft? Ach wenn der Kollege und der Jugendreferent nur nicht so ekelhaft engagiert wären in ihrem aktionistischen Übereifer. Natürlich stehe ich als moderat arbeitender Pflichterfüller sofort als Dienst-nach-Vorschrift-Kandidat am Pranger. Es sei denn, sie würden plötzlich ausfallen. Infiziert mit Corona. Kann ja mal passieren, bei einer Präsenz-DB. Ich besuche morgen mal Frau Faller. Tu so, als hätte ich das mit der Quarantäne vergessen. Mit der FFP3 Maske bin ich ja wohl sicher. Muss mir nur noch einen passenden Nährboden besorgen und dann stelle ich das den beiden unter die Nase. Die mit ihren selbstgehäkelten Recycling-Masken, die werden sich schon was einfangen. Thomas, in seinem deutlich fortgeschrittenen Alter, Jens mit seinem Bronchialasthma und der Immunschwäche… dann nervt mich keiner mehr mit Kinkerlitzchen. Und bis die beiden wieder einsatzfähig – oder die Stellen neu besetzt sind, ist der Corona-Wahnsinn gelaufen.
(*Baumwoll-Sonnenhut nach dem Vorbild der englischen Tweed-Buckets, mit herabhängender Krempe und Reißverschlusstasche in Zigarettenschachtelgröße, zu hundert Prozent Ballermann-kompatibel)
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Freitag, 18. Dezember 2020
Seelenlos
c. fabry, 12:03h
Sie trug ein meerblaues Sommerkleid. Setzte sich direkt neben ihn. Freiwillig. Da war noch ein Platz zwischen einem Jugendlichen und einer älteren Dame frei. Sie setzte sich aber neben ihn, gegen die Fahrtrichtung. Er selbst saß am Gang. Die Fensterplätze waren immer zuerst weg.
Sie hatte runde Hüften, eine schmale Taille, wohlproportionierte Brüste und langes, braunes Haar. Das Gesicht war weniger beeindruckend, aber auch nicht gerade hässlich. Sie las in einem Buch. Sah ihn nicht an. Er sah sie nicht an, jedenfalls nicht direkt. Nur verstohlen, aus den Augenwinkeln, kaum wahrnehmbar für die anderen Mitreisenden.
Sie legte das Buch in den Schoß, ließ den Kopf zur Seite rollen, nicht in seine Richtung, schloss die Augen, begann zu dösen.
Die runde Hüfte dagegen hatte sie ihm zugewandt. Döste sie nur oder schlief sie schon? Ihr Brustkorb hob und senkte sich ruhig und regelmäßig. Es war heiß, er konnte ihr Parfum riechen, ein frischer Zitrusduft und ein bisschen Schweiß und noch etwas Anderes. Nervös kratzte er sich am Kopf. Eine alte Angewohnheit, die er einfach nicht ablegen konnte.
Er legte eine Hand neben seiner Hüfte ab, trommelte ein wenig mit den Fingern. Langsam bewegte er seine Hand auf ihre Hüfte zu, ganz nah an der Rückwand, unter der Armlehne, für niemanden sichtbar. Dann schob er seine Finger zwischen Rückenpolster und Frauenhintern. Niemand schien etwas zu bemerken. Er sah nicht hin. Stellte sich schlafend. Hauchzart tupfte er mit den Fingerkuppen über den fließenden Stoff. Sie merkte nichts. Er wagte etwas mehr, fuhr mit den Rückseiten seiner Finger, sanft über das warme Fleisch. Davon musste sie doch aufwachen. Sie schlief weiter. Oder stellte sie sich nur schlafend und genoss es heimlich? Waren doch alles Schlampen diese Weiber. Ließen sich einfach von fremden Männern anfassen, nahmen mit, was ihnen geboten wurde. Seine Verachtung wuchs mit seiner Erregung. In Gedanken zog er sie aus, erforschte ihren Körper, tat alles, wonach er sich schon so lange sehnte. Doch sie hatte kein Gesicht, keine Seele, war nichts als eine lebendige Puppe, Abschaum.
Der Zug hielt am Zielbahnhof. Sie mussten beide aussteigen. Er verließ den Zug, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Für solche Nutten verspürte er nur Verachtung. Er ging nach Hause, machte sich etwas zu Essen, ließ sich vom Fernsehprogramm berieseln, ging ins Bett. Morgen war Samstag und er würde endlich einmal ausschlafen.
Mitnichten. Bereits um acht Uhr morgens klingelte es an der Wohnungstür. Polizei. Er hatte seinen Führerschein im Zug verloren, war ihm aus der Tasche gerutscht, hatte er gar nicht bemerkt.
„Das ist aber nett, dass Sie mir den extra zu mir nach Hause bringen.“, sagte er, obwohl er eigentlich noch immer mürrisch und ungehalten wegen des unterbrochen Schlafes war, aber er war zu gut erzogen, um das zu zeigen.
„Leider geht es nicht nur im Ihre Fahrerlaubnis.“, erklärte einer der Beamten. „Dürfen wir kurz herein kommen?“
„Warum?“
„Wir brauchen eine ausführliche Zeugenaussage von Ihnen.“
Er ließ die Polizisten eintreten und bat sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
„Wo haben Sie gestern während der Bahnfahrt gesessen?“
„Am Gang, gegen die Fahrtrichtung.“
„Wer saß neben Ihnen?“
„Eine Frau.“
„Können Sie sie beschreiben?“
„Eine normale Frau. Im Kleid, lange Haare.“
„Farbe?“
„Das Kleid oder die Haare?“
„Beides.“
„Die Haare rot, blond oder braun. So genau habe ich nicht hingesehen. Das Kleid war, glaube ich, blau.“
„Wie alt war die Frau ungefähr?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Schätzen Sie.“
„Irgendwo zwischen fünfundzwanzig und vierzig.“
„Wann und wo sind Sie ausgestiegen?“
„Hier am Hauptbahnhof, so gegen sechs.“
„Und die Frau?“
„Ist auch ausgestiegen, glaube ich.“
„Wer war denn noch da?“
„Eine alte Frau, ein Jugendlicher und ein älterer Mann.“
„Wo sind Sie dann hingegangen?“
„Direkt nach Hause.“
„Haben Sie das Haus noch einmal verlassen?“
„Nein. Ich war gestern Abend hier. Bin früh schlafen gegangen.“
„Gibt es dafür Zeugen?“
„Nee, wieso, ich wohne allein hier. Was ist denn mit der Frau? Hat sie etwas ausgefressen?“
„Sie wurde ermordet.“
„Oh Gott.“
„Ja und Sie scheinen der zu sein, der sie als Letzter lebend gesehen hat. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, es könnte sein, dass wir Sie noch einmal sprechen müssen.“
Die Beamten gingen. Ermordet, die Schlampe. Solche Weiber machten einem sogar Scherereien, wenn man nur still irgendwo saß und sie sich zufällig neben einen setzten. Bestimmt hatte sie jemanden auf die Palme gebracht, der endgültig die Nase voll hatte von ihr.
Zwei Tage später stand die Polizei wieder vor der Tür. Diesmal mit Haftbefehl. Sie hatten seine DNA an der Frau gefunden, eins seiner Haare an ihrem Kleid, obwohl sie sich im Zug nicht berührt hatten, das hatten alle anderen Mitreisenden bestätigt.
Er wusste nicht einmal, wie sie gestorben war und angesichts seiner Verachtung, war ihm das eigentlich auch egal.
Sie hatte runde Hüften, eine schmale Taille, wohlproportionierte Brüste und langes, braunes Haar. Das Gesicht war weniger beeindruckend, aber auch nicht gerade hässlich. Sie las in einem Buch. Sah ihn nicht an. Er sah sie nicht an, jedenfalls nicht direkt. Nur verstohlen, aus den Augenwinkeln, kaum wahrnehmbar für die anderen Mitreisenden.
Sie legte das Buch in den Schoß, ließ den Kopf zur Seite rollen, nicht in seine Richtung, schloss die Augen, begann zu dösen.
Die runde Hüfte dagegen hatte sie ihm zugewandt. Döste sie nur oder schlief sie schon? Ihr Brustkorb hob und senkte sich ruhig und regelmäßig. Es war heiß, er konnte ihr Parfum riechen, ein frischer Zitrusduft und ein bisschen Schweiß und noch etwas Anderes. Nervös kratzte er sich am Kopf. Eine alte Angewohnheit, die er einfach nicht ablegen konnte.
Er legte eine Hand neben seiner Hüfte ab, trommelte ein wenig mit den Fingern. Langsam bewegte er seine Hand auf ihre Hüfte zu, ganz nah an der Rückwand, unter der Armlehne, für niemanden sichtbar. Dann schob er seine Finger zwischen Rückenpolster und Frauenhintern. Niemand schien etwas zu bemerken. Er sah nicht hin. Stellte sich schlafend. Hauchzart tupfte er mit den Fingerkuppen über den fließenden Stoff. Sie merkte nichts. Er wagte etwas mehr, fuhr mit den Rückseiten seiner Finger, sanft über das warme Fleisch. Davon musste sie doch aufwachen. Sie schlief weiter. Oder stellte sie sich nur schlafend und genoss es heimlich? Waren doch alles Schlampen diese Weiber. Ließen sich einfach von fremden Männern anfassen, nahmen mit, was ihnen geboten wurde. Seine Verachtung wuchs mit seiner Erregung. In Gedanken zog er sie aus, erforschte ihren Körper, tat alles, wonach er sich schon so lange sehnte. Doch sie hatte kein Gesicht, keine Seele, war nichts als eine lebendige Puppe, Abschaum.
Der Zug hielt am Zielbahnhof. Sie mussten beide aussteigen. Er verließ den Zug, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Für solche Nutten verspürte er nur Verachtung. Er ging nach Hause, machte sich etwas zu Essen, ließ sich vom Fernsehprogramm berieseln, ging ins Bett. Morgen war Samstag und er würde endlich einmal ausschlafen.
Mitnichten. Bereits um acht Uhr morgens klingelte es an der Wohnungstür. Polizei. Er hatte seinen Führerschein im Zug verloren, war ihm aus der Tasche gerutscht, hatte er gar nicht bemerkt.
„Das ist aber nett, dass Sie mir den extra zu mir nach Hause bringen.“, sagte er, obwohl er eigentlich noch immer mürrisch und ungehalten wegen des unterbrochen Schlafes war, aber er war zu gut erzogen, um das zu zeigen.
„Leider geht es nicht nur im Ihre Fahrerlaubnis.“, erklärte einer der Beamten. „Dürfen wir kurz herein kommen?“
„Warum?“
„Wir brauchen eine ausführliche Zeugenaussage von Ihnen.“
Er ließ die Polizisten eintreten und bat sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
„Wo haben Sie gestern während der Bahnfahrt gesessen?“
„Am Gang, gegen die Fahrtrichtung.“
„Wer saß neben Ihnen?“
„Eine Frau.“
„Können Sie sie beschreiben?“
„Eine normale Frau. Im Kleid, lange Haare.“
„Farbe?“
„Das Kleid oder die Haare?“
„Beides.“
„Die Haare rot, blond oder braun. So genau habe ich nicht hingesehen. Das Kleid war, glaube ich, blau.“
„Wie alt war die Frau ungefähr?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Schätzen Sie.“
„Irgendwo zwischen fünfundzwanzig und vierzig.“
„Wann und wo sind Sie ausgestiegen?“
„Hier am Hauptbahnhof, so gegen sechs.“
„Und die Frau?“
„Ist auch ausgestiegen, glaube ich.“
„Wer war denn noch da?“
„Eine alte Frau, ein Jugendlicher und ein älterer Mann.“
„Wo sind Sie dann hingegangen?“
„Direkt nach Hause.“
„Haben Sie das Haus noch einmal verlassen?“
„Nein. Ich war gestern Abend hier. Bin früh schlafen gegangen.“
„Gibt es dafür Zeugen?“
„Nee, wieso, ich wohne allein hier. Was ist denn mit der Frau? Hat sie etwas ausgefressen?“
„Sie wurde ermordet.“
„Oh Gott.“
„Ja und Sie scheinen der zu sein, der sie als Letzter lebend gesehen hat. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, es könnte sein, dass wir Sie noch einmal sprechen müssen.“
Die Beamten gingen. Ermordet, die Schlampe. Solche Weiber machten einem sogar Scherereien, wenn man nur still irgendwo saß und sie sich zufällig neben einen setzten. Bestimmt hatte sie jemanden auf die Palme gebracht, der endgültig die Nase voll hatte von ihr.
Zwei Tage später stand die Polizei wieder vor der Tür. Diesmal mit Haftbefehl. Sie hatten seine DNA an der Frau gefunden, eins seiner Haare an ihrem Kleid, obwohl sie sich im Zug nicht berührt hatten, das hatten alle anderen Mitreisenden bestätigt.
Er wusste nicht einmal, wie sie gestorben war und angesichts seiner Verachtung, war ihm das eigentlich auch egal.
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Freitag, 11. Dezember 2020
Videokonferenz mit Katze
c. fabry, 17:41h
War das zu glauben? Die Katze die bei dem einen Kollegen aus dem Bild gelaufen war, war bei der anderen Kollegin wieder aufgetaucht. Warum mir solche Details auffielen? Weil das Thema gerade mal wieder komplett an mir vorbeiging. Alle warfen mit von Konzernen erfundenen Pseudo-Fachtermini um sich und fühlten sich unglaublich professionell. Nervnasen. Mich interessierte das Leben. Das echte Leben. Und schon war ich mit den Gedanken woanders und raus.
Die Katzen meiner Mutter waren Meisterinnen des sozial verträglichen Ablebens: bevor sie altersbedingt horrende Tierarztkosten verursachten, warfen sie sich vors Auto, vor den Trecker oder unter den Hund. War auch kein Problem, gab immer wieder Nachschub. Meine Mutter wollte keine Katzen, aber sie zog sie magisch an, wie eine Wurzelfrau. Die Viecher rückten ihr auf die Pelle, mauzten herzzerreißend, bis sie sich ihrer erbarmte und ihnen eine Kleinigkeit zu essen reichte. Dann blieben sie. Nisteten sich ein. Zuerst durften sie ausschließlich im Fahrradschuppen residieren, dann kam das Futter regelmäßiger, dann durften sie auch mal für einen Moment ins Haus kommen, dann wurde doch anständiges Trockenfutter angeschafft, der alte abgeschnittene Eimer durch zwei ordentliche Tröge ersetzt – einer für die Brekkies, einer für das Wasser – und dann wurde es Winter und ach im ersten Jahr gab es dann eine ausgepolsterte Kiste im Fahrradschuppen, im zweiten Jahr durfte die Katze in den besonders kalten Nächten ins Haus. Das Katzenklo war auch längst angeschafft.
Dann, nach ein paar Jahren, suizidierte sich die Mieze oder verschwand spurlos. „Ich will keine neue Katze.“, sage meine Mutter täglich. Wie ein Mantra wiederholte sie es. Und wir wussten alle: es würde kein Jahr vergehen, bis der nächste Tiger sich in ihr Leben schlich.
„Heike, kannst Du noch einmal was zu Deinen Erfahrungen mit dem Kinderprogramm berichten?“
Ich zuckte zusammen. Was wollten sie hören? Meine ersten digitalen Gehversuche oder die analogen Alternativen? Da sie aber gerade noch in masturbatorischer Hingabe über diverse „tools“ schwadroniert hatten - diese Anglizismus-Fetischisten, konnten die nicht einfach Werkzeug sagen? - vermutete ich, dass es um meine Jungschar-Videokonferenzen ging. Also pokerte ich und erklärte: „Ich habe hier ja eine behütete, kleinbürgerliche Zielgruppe, wo die Eltern sich hingebungsvoll engagieren und ihren Kindern alles ermöglichen. Die sorgen dann dafür, dass die Kurzen zur passenden Zeit vor dem Laptop sitzen und eingewählt sind. Ich mache nur eine Stunde Programm, das reicht vollkommen und dann lasse ich erst einmal alle von sich erzählen, was sie gerade so loswerden wollen, da gibt es auch immer einen großen Bedarf, dann mache ich was mit Bewegung, zum Beispiel das Kaufhausspiel, wo man möglichst schnell einen bestimmten Gegenstand herbeischaffen muss, dann ein Ratespiel oder eben eine Basteleinheit, das Material habe ich den Kindern vorher persönlich vorbei gebracht und zum Schluss singe ich was vor oder lasse einzelne Kinder abwechselnd singen oder lese eine kurze Geschichte vor.“
Unbeeindrucktes Schweigen. Was zu erwarten war. Ich nutzte ja nur die Webcam. Na gut, auch das Whiteboard und den Chat, aber davon berichtete ich nicht, das war mir zu blöd. Ich schaltete mich stumm und entdeckte die Katze erneut. Aber die Kollegin fehlte. Ein Raunen tönte aus dem Computer. „Wo ist denn Lisa hin?“ Eckhart kicherte: „Ich glaube Lisa ist ‘ne Hexe und hat sich in eine Katze verwandelt.“
„Ein Animagus.“, präzisierte Oliver.
Die Katze sprang vom Stuhl.
„Lisa hat keinen Bock mehr.“, sagte Alex trocken.
Erst jetzt fiel mir auf, dass Henning vollkommen reglos vor dem Bildschirm saß, als wäre er eine Wachsfigur. Dann wurde der Bildschirm kurz schwarz, danach war er zurück.
„Sorry“, sagte Henning, die Verbindung ist instabil, ich war kurz eingefroren, hab‘ mich noch mal neu eingewählt.“
Die Katze sprang auf Hennings Schoß.
„Hallo Lisa:“, sagte Alex und kicherte. Henning zuckte zusammen. Da wusste ich was passiert war.
Ihr auch?
Die Katzen meiner Mutter waren Meisterinnen des sozial verträglichen Ablebens: bevor sie altersbedingt horrende Tierarztkosten verursachten, warfen sie sich vors Auto, vor den Trecker oder unter den Hund. War auch kein Problem, gab immer wieder Nachschub. Meine Mutter wollte keine Katzen, aber sie zog sie magisch an, wie eine Wurzelfrau. Die Viecher rückten ihr auf die Pelle, mauzten herzzerreißend, bis sie sich ihrer erbarmte und ihnen eine Kleinigkeit zu essen reichte. Dann blieben sie. Nisteten sich ein. Zuerst durften sie ausschließlich im Fahrradschuppen residieren, dann kam das Futter regelmäßiger, dann durften sie auch mal für einen Moment ins Haus kommen, dann wurde doch anständiges Trockenfutter angeschafft, der alte abgeschnittene Eimer durch zwei ordentliche Tröge ersetzt – einer für die Brekkies, einer für das Wasser – und dann wurde es Winter und ach im ersten Jahr gab es dann eine ausgepolsterte Kiste im Fahrradschuppen, im zweiten Jahr durfte die Katze in den besonders kalten Nächten ins Haus. Das Katzenklo war auch längst angeschafft.
Dann, nach ein paar Jahren, suizidierte sich die Mieze oder verschwand spurlos. „Ich will keine neue Katze.“, sage meine Mutter täglich. Wie ein Mantra wiederholte sie es. Und wir wussten alle: es würde kein Jahr vergehen, bis der nächste Tiger sich in ihr Leben schlich.
„Heike, kannst Du noch einmal was zu Deinen Erfahrungen mit dem Kinderprogramm berichten?“
Ich zuckte zusammen. Was wollten sie hören? Meine ersten digitalen Gehversuche oder die analogen Alternativen? Da sie aber gerade noch in masturbatorischer Hingabe über diverse „tools“ schwadroniert hatten - diese Anglizismus-Fetischisten, konnten die nicht einfach Werkzeug sagen? - vermutete ich, dass es um meine Jungschar-Videokonferenzen ging. Also pokerte ich und erklärte: „Ich habe hier ja eine behütete, kleinbürgerliche Zielgruppe, wo die Eltern sich hingebungsvoll engagieren und ihren Kindern alles ermöglichen. Die sorgen dann dafür, dass die Kurzen zur passenden Zeit vor dem Laptop sitzen und eingewählt sind. Ich mache nur eine Stunde Programm, das reicht vollkommen und dann lasse ich erst einmal alle von sich erzählen, was sie gerade so loswerden wollen, da gibt es auch immer einen großen Bedarf, dann mache ich was mit Bewegung, zum Beispiel das Kaufhausspiel, wo man möglichst schnell einen bestimmten Gegenstand herbeischaffen muss, dann ein Ratespiel oder eben eine Basteleinheit, das Material habe ich den Kindern vorher persönlich vorbei gebracht und zum Schluss singe ich was vor oder lasse einzelne Kinder abwechselnd singen oder lese eine kurze Geschichte vor.“
Unbeeindrucktes Schweigen. Was zu erwarten war. Ich nutzte ja nur die Webcam. Na gut, auch das Whiteboard und den Chat, aber davon berichtete ich nicht, das war mir zu blöd. Ich schaltete mich stumm und entdeckte die Katze erneut. Aber die Kollegin fehlte. Ein Raunen tönte aus dem Computer. „Wo ist denn Lisa hin?“ Eckhart kicherte: „Ich glaube Lisa ist ‘ne Hexe und hat sich in eine Katze verwandelt.“
„Ein Animagus.“, präzisierte Oliver.
Die Katze sprang vom Stuhl.
„Lisa hat keinen Bock mehr.“, sagte Alex trocken.
Erst jetzt fiel mir auf, dass Henning vollkommen reglos vor dem Bildschirm saß, als wäre er eine Wachsfigur. Dann wurde der Bildschirm kurz schwarz, danach war er zurück.
„Sorry“, sagte Henning, die Verbindung ist instabil, ich war kurz eingefroren, hab‘ mich noch mal neu eingewählt.“
Die Katze sprang auf Hennings Schoß.
„Hallo Lisa:“, sagte Alex und kicherte. Henning zuckte zusammen. Da wusste ich was passiert war.
Ihr auch?
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Freitag, 4. Dezember 2020
Ungelebtes Leben – oder ein Motiv
c. fabry, 00:26h
Ich wollte immer ganz viel Nähe
doch ich bekam nur einen Hauch
und dort wo ich sogar
auf der Flucht vor ihm war
holte er mich ein
nahm mir die Luft zum Atmen
versetzte mich in Todesangst
erstickte meine Wut
wurde zu Schlamm
zu Stein
zu Eisen
Der Hauch dessen
wonach ich mich sehnte
zog vorbei
ließ mich zurück
hinter Gittern
begraben unter Steinen
unter Schlamm
unter Gestank
doch ich bekam nur einen Hauch
und dort wo ich sogar
auf der Flucht vor ihm war
holte er mich ein
nahm mir die Luft zum Atmen
versetzte mich in Todesangst
erstickte meine Wut
wurde zu Schlamm
zu Stein
zu Eisen
Der Hauch dessen
wonach ich mich sehnte
zog vorbei
ließ mich zurück
hinter Gittern
begraben unter Steinen
unter Schlamm
unter Gestank
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