Freitag, 18. Dezember 2020
Seelenlos
Sie trug ein meerblaues Sommerkleid. Setzte sich direkt neben ihn. Freiwillig. Da war noch ein Platz zwischen einem Jugendlichen und einer älteren Dame frei. Sie setzte sich aber neben ihn, gegen die Fahrtrichtung. Er selbst saß am Gang. Die Fensterplätze waren immer zuerst weg.
Sie hatte runde Hüften, eine schmale Taille, wohlproportionierte Brüste und langes, braunes Haar. Das Gesicht war weniger beeindruckend, aber auch nicht gerade hässlich. Sie las in einem Buch. Sah ihn nicht an. Er sah sie nicht an, jedenfalls nicht direkt. Nur verstohlen, aus den Augenwinkeln, kaum wahrnehmbar für die anderen Mitreisenden.
Sie legte das Buch in den Schoß, ließ den Kopf zur Seite rollen, nicht in seine Richtung, schloss die Augen, begann zu dösen.
Die runde Hüfte dagegen hatte sie ihm zugewandt. Döste sie nur oder schlief sie schon? Ihr Brustkorb hob und senkte sich ruhig und regelmäßig. Es war heiß, er konnte ihr Parfum riechen, ein frischer Zitrusduft und ein bisschen Schweiß und noch etwas Anderes. Nervös kratzte er sich am Kopf. Eine alte Angewohnheit, die er einfach nicht ablegen konnte.
Er legte eine Hand neben seiner Hüfte ab, trommelte ein wenig mit den Fingern. Langsam bewegte er seine Hand auf ihre Hüfte zu, ganz nah an der Rückwand, unter der Armlehne, für niemanden sichtbar. Dann schob er seine Finger zwischen Rückenpolster und Frauenhintern. Niemand schien etwas zu bemerken. Er sah nicht hin. Stellte sich schlafend. Hauchzart tupfte er mit den Fingerkuppen über den fließenden Stoff. Sie merkte nichts. Er wagte etwas mehr, fuhr mit den Rückseiten seiner Finger, sanft über das warme Fleisch. Davon musste sie doch aufwachen. Sie schlief weiter. Oder stellte sie sich nur schlafend und genoss es heimlich? Waren doch alles Schlampen diese Weiber. Ließen sich einfach von fremden Männern anfassen, nahmen mit, was ihnen geboten wurde. Seine Verachtung wuchs mit seiner Erregung. In Gedanken zog er sie aus, erforschte ihren Körper, tat alles, wonach er sich schon so lange sehnte. Doch sie hatte kein Gesicht, keine Seele, war nichts als eine lebendige Puppe, Abschaum.

Der Zug hielt am Zielbahnhof. Sie mussten beide aussteigen. Er verließ den Zug, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Für solche Nutten verspürte er nur Verachtung. Er ging nach Hause, machte sich etwas zu Essen, ließ sich vom Fernsehprogramm berieseln, ging ins Bett. Morgen war Samstag und er würde endlich einmal ausschlafen.

Mitnichten. Bereits um acht Uhr morgens klingelte es an der Wohnungstür. Polizei. Er hatte seinen Führerschein im Zug verloren, war ihm aus der Tasche gerutscht, hatte er gar nicht bemerkt.
„Das ist aber nett, dass Sie mir den extra zu mir nach Hause bringen.“, sagte er, obwohl er eigentlich noch immer mürrisch und ungehalten wegen des unterbrochen Schlafes war, aber er war zu gut erzogen, um das zu zeigen.
„Leider geht es nicht nur im Ihre Fahrerlaubnis.“, erklärte einer der Beamten. „Dürfen wir kurz herein kommen?“
„Warum?“
„Wir brauchen eine ausführliche Zeugenaussage von Ihnen.“
Er ließ die Polizisten eintreten und bat sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
„Wo haben Sie gestern während der Bahnfahrt gesessen?“
„Am Gang, gegen die Fahrtrichtung.“
„Wer saß neben Ihnen?“
„Eine Frau.“
„Können Sie sie beschreiben?“
„Eine normale Frau. Im Kleid, lange Haare.“
„Farbe?“
„Das Kleid oder die Haare?“
„Beides.“
„Die Haare rot, blond oder braun. So genau habe ich nicht hingesehen. Das Kleid war, glaube ich, blau.“
„Wie alt war die Frau ungefähr?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Schätzen Sie.“
„Irgendwo zwischen fünfundzwanzig und vierzig.“
„Wann und wo sind Sie ausgestiegen?“
„Hier am Hauptbahnhof, so gegen sechs.“
„Und die Frau?“
„Ist auch ausgestiegen, glaube ich.“
„Wer war denn noch da?“
„Eine alte Frau, ein Jugendlicher und ein älterer Mann.“
„Wo sind Sie dann hingegangen?“
„Direkt nach Hause.“
„Haben Sie das Haus noch einmal verlassen?“
„Nein. Ich war gestern Abend hier. Bin früh schlafen gegangen.“
„Gibt es dafür Zeugen?“
„Nee, wieso, ich wohne allein hier. Was ist denn mit der Frau? Hat sie etwas ausgefressen?“
„Sie wurde ermordet.“
„Oh Gott.“
„Ja und Sie scheinen der zu sein, der sie als Letzter lebend gesehen hat. Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, es könnte sein, dass wir Sie noch einmal sprechen müssen.“

Die Beamten gingen. Ermordet, die Schlampe. Solche Weiber machten einem sogar Scherereien, wenn man nur still irgendwo saß und sie sich zufällig neben einen setzten. Bestimmt hatte sie jemanden auf die Palme gebracht, der endgültig die Nase voll hatte von ihr.

Zwei Tage später stand die Polizei wieder vor der Tür. Diesmal mit Haftbefehl. Sie hatten seine DNA an der Frau gefunden, eins seiner Haare an ihrem Kleid, obwohl sie sich im Zug nicht berührt hatten, das hatten alle anderen Mitreisenden bestätigt.

Er wusste nicht einmal, wie sie gestorben war und angesichts seiner Verachtung, war ihm das eigentlich auch egal.

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