Samstag, 26. Dezember 2020
Besitzstandswahrung
Einfach mal eine Sandburg platttreten. Nein, nicht eine, die Kinder nah am Wasser gebaut haben, um zu beobachten, wie die Flut langsam die Gräben füllt und Wetten abzuschließen, wie lange das Bauwerk die Gewalt der Gezeiten überlebt. Auch kein organisches Sandgebilde des berühmten Land-Art-Künstlers Andy Goldsworthy, das nur für den flüchtigen Augenblick und die photographische Dokumentation gemacht und demütig dem baldigen Verfall überlassen wird.
Nein, es geht um diese Festungen an deutschen Nordsee-Badestränden, um den gemieteten Strandkorb gezogene Bannmeilen, mit dem Spaten einen Meter tiefergelegt, ein mit der Kelle hochgezogener, aus feuchtem Sand glattgestrichener Wall wie aus Beton gegossen, akkurat, stabil, ein Meersand gewordener Jägerzaun. Außen ein Schriftzug in „Copperpot“, mosaikiert aus bleichen Herzmuscheln: Fam. Radewig – Holzwickede, Westf., in einem zylindrischen Mauerelement stecken zwei stolze Fahnen: die deutsche Flagge und das Banner des favorisierten Fußballvereins. Ins Innere der Burg gelangen die Bewohnenden über eine sauber geschaufelte und in Form geklopfte Treppe, mit exakt gleich hohen Stufen zur Vermeidung von Stolperunfällen auf einen esstrichgleichen, ordentlich mit der Wasserwaage ausgerichteten Fußboden.
Ach ja, in den Siebzigern waren das noch Einzelfälle, ernteten rückhaltlose Bewunderung für Kreativität, Tatkraft und Originalität. Aber dann wurden die Burgen Standard. Jetzt baut jeder eine um sein Strandsofa. Wie eine Fuchsbaustadt verbaut die Wabenhausidylle den Zugang zum Ozean. Strandeingang, ein paar Meter durch den fluffigen, heißen Sand stapfen und da, wo das Gehen wieder leichter fiele, und das erfrischende Nass der hereinrollenden Wellen in greifbare Nähe rückt: totale Sackgasse. Jeder Burgwall grenzt an den nächsten. Das Betreten der Bergkämme wird umgehend mit empörtem Gebrüll geahndet. Gewaltbereite, rotgesichtige Bierathleten mit Nabbelhut* drohen mit dem Hütehund oder der grünpinken Plastik-Pumpgun, während die gepflegt dahinwelkende Gattin das halbleinene Geschirrtuch über dem Camping-Klapptisch ausbreitet und mit frisch erworbenem Gebäck unfreiwillig hungrige Möwen anlockt.

Oder einfach mal im Spaßbad ein Reservierungshandtuch von einer Liege nehmen, achtlos auf den Boden fallen lassen und sich behaglich ausstrecken. Wenn dann der oder die Handtuchbesitzer*in nörgelt, erwidern: „Das ist ein Liegestuhl für Menschen, nicht für Handtücher. Ich hätte mich natürlich auch einfach auf Ihr Handtuch legen können, falls Ihnen das lieber ist.“

Nee, das kann man von der Bütt aus erzählen, aber nicht von der Kanzel. Doch wie bringt man Menschen nahe, dass es nicht in Ordnung ist, einfach ein Territorium zu besetzen und diesen aggressiven Akt umgehend mit legitimem Besitz gleichzusetzen? Natürlich tun Menschen das seit Jahrtausenden: ein Revier auswählen, einzäunen und „Meins!“ schreien – und das auch meinen. Egal, ob es sich um ein Stück Land handelt, Raubkunst aus Übersee, mit dem Blut lohngedumpter Bangladeshis gefertigte Billigkleidung oder ganz legal unversteuerte Riesengewinne aus staatlich subventionierter Produktion. Das Sich-Aneignen, einfach weil es geht, ist eine widerwärtige Perversion einer seit langem nicht mehr notwendigen, uralten Überlebensstrategie.

Eine Mutter ruft an. Ob ich nicht vielleicht doch einmal eine gruppenbildende Maßnahme für die neuen Konfis anbieten könne. Was sie sich eigentlich denkt, frage ich sie. Wir haben Kontaktverbot. Wir haben Corona. Sie faselt von Videokonferenzen. So weit kommt das noch. Ich halte nichts von dieser seelenlosen Technik. Das sage ich ihr auch. Stiehlt mir meine wertvolle Lebenszeit, diese Helicopter-Mutter, während ich über meiner Predigt brüte. Sehe ich gar nicht ein, mich derartig von meinem Job schlauchen zu lassen, dass ich im Ruhestand nur noch beim Arzt sitze. Sonst sind die Konfis doch auch froh, wenn der kirchliche Unterricht ausfällt und die Eltern winseln dauernd rum, dass das arme Kindchen jetzt gar nicht mehr pünktlich zum Fußball-Training gehen kann. Aber klar, das findet ja jetzt auch nicht statt. Ist aber nicht mein Problem. Ich muss diesen Text fertig kriegen und dann auf die Rennmaschine, meine Blutgefäße durchputzen. Lesen will ich heute auch noch. Ich habe jedenfalls keine Zeit für diesen Online-Tingeltangel – und keine Nerven. Soll sich doch der Jugendreferent drum kümmern. Dann ist der jetzt eben mal dran. Brüstet sich doch eh dauernd mit seinen tollen Events.

Beim Radeln kommen einem doch die besten Gedanken. Was passiert eigentlich wenn die Heli-Mama beim Sup anruft? Ach wenn der Kollege und der Jugendreferent nur nicht so ekelhaft engagiert wären in ihrem aktionistischen Übereifer. Natürlich stehe ich als moderat arbeitender Pflichterfüller sofort als Dienst-nach-Vorschrift-Kandidat am Pranger. Es sei denn, sie würden plötzlich ausfallen. Infiziert mit Corona. Kann ja mal passieren, bei einer Präsenz-DB. Ich besuche morgen mal Frau Faller. Tu so, als hätte ich das mit der Quarantäne vergessen. Mit der FFP3 Maske bin ich ja wohl sicher. Muss mir nur noch einen passenden Nährboden besorgen und dann stelle ich das den beiden unter die Nase. Die mit ihren selbstgehäkelten Recycling-Masken, die werden sich schon was einfangen. Thomas, in seinem deutlich fortgeschrittenen Alter, Jens mit seinem Bronchialasthma und der Immunschwäche… dann nervt mich keiner mehr mit Kinkerlitzchen. Und bis die beiden wieder einsatzfähig – oder die Stellen neu besetzt sind, ist der Corona-Wahnsinn gelaufen.

(*Baumwoll-Sonnenhut nach dem Vorbild der englischen Tweed-Buckets, mit herabhängender Krempe und Reißverschlusstasche in Zigarettenschachtelgröße, zu hundert Prozent Ballermann-kompatibel)

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