Donnerstag, 11. Juli 2019
Was für ein Vertrauen – Kurzkrimi in vier Teilen – 4. Teil
Sie schlug die waz auf, fand die gleichen Spekulationen wie in den Ruhrnachrichten. Sogar die Kirchentagszeitung hatte vorsichtig gemutmaßt, dass hier möglicherweise eine neue Dimension des modenenden Islamismus und Antisemitismus oder aber des Naziterrors entstand. Gestern hatten sie zusätzlich noch Linksradikale im Visier gehabt, Morde an Besuchern des Kirchentages, fanden so ganz durchgeknallte Antiimperialisten, die das Feindbild Kirche pflegten, vielleicht akzeptabel. Aber ein durch Regenbogen-Anstecker deutlich erkennbarer Homosexueller, der gerade auf dem Rückweg einer Veranstaltung der HuK war, das passte in kein Linkes Profil, auch kein noch so durchgeknalltes.
Sie grinste in sich hinein. Die hatten ja sowas von keine Ahnung. Aber es ärgerte sie auch. Fiel denn niemandem auf, auf welchen Abgrund die Gesellschaft zuraste? Wie die Kirche im Begriff war, sich selbst abzuschaffen? Die falschen Propheten machten sich überall breit, insbesondere auf dem Kirchentag. Überall Multikulti und als interreligiöser Dialog deklariertes Anbiedern an Religionsgemeinschaften, die sich ihrerseits alles andere als Toleranz auf die Fahne schrieben. Schwule und Lesben bekamen Gottes Segen in völliger Ignoranz von Levitikus 18,22 und sie bekamen sogar eine Plattform auf dem Kirchentag, um für sich zu werben.
Die erste, die sie sich vorgenknöpft hatte, das war noch zufällig geschehen. Sie hatte in der U-Bahn erklärt, wie sehr sie sich freue, dass sie sich nicht mehr fremdschämen müsse für die Kirchentagslieder absingenden christlichen Imperialisten, die den kirchenfernen Bewohnern der Gastgeber-Stadt ihre Spiritualität aufoktroyierten. Dann hatte sie begeistert von ihrem Kabarett-Abend berichtet. Auch so eine Seuche. Überall auf dem Kirchentag traten Kabarettisten auf, die die Kirche, die Christen und ihre zentrale Veranstaltung verhöhnten und dafür auch noch Beifall ernteten. Da war der Entschluss in ihr gereift, endlich aktiv zu werden und aufzuräumen. Weg mit den Nestbeschmutzern, Irrläufern und inneren Feinden. Sie war der Lästertasche bis in die Unterkunft gefolgt, hatte sich mit dem falschen Mitarbeiterausweis hineingemogelt und gewartet, bis es still wurde. Als die Tante ihr kabarettistisches Bier wegbringen musste, war sie ihr hinterher geschlichen. Ein beherzter Klimmzug über die Toilettentrennwand und schon hatte sie sie überrascht, als sie sich gerade wieder die Hose hochgezogen hatte. Wie gut, dass sie immer ihr klappbares Gemüsemesser dabei hatte, es hatte eine höllisch scharfe Klinge und so ein Schnitt durch die Halsschlagader war schnell erledigt.

Am nächsten Morgen war sie dann gezielt zu der jüdisch-christlich-islamischen Bibelarbeit gegangen und war nach dem gleichen, bewährten Muster vorgegangen.

Bei der HuK war es schwieriger gewesen, viel zu viel Betrieb auf den Toiletten und außerdem wollte sie auch mal einen Mann erwischen. Darum hatte sie sich an die Fersen dieser offensichtlich stockschwulen Regenbogentucke geheftet und war schneller zum Zug gekommen, als sie es erwartet hätte. Der Überraschungsmoment war auf ihrer Seite gewesen, als sie ihm von hinten die Lederschnur ihres Assisi-Kreuzes um den Hals schlang und so lange zuzog, bis er nicht mehr zuckte. Sie war doch überrascht, wieviel Kraft sie in Händen und Armen hatte. Dann hatte sie ihm seinen Schal um den Hals geknotet und ihn damit an der Haltestange aufgehängt. Das war schon deutlich schwieriger gewesen, aber der Kerl hatte keinen Mumm in den Knochen, darum auch nur wenig Muskeln und war erstaunlich leicht gewesen. Zum Glück war niemand zugestiegen und sie hatte die Bahn bei der übernächsten Haltestelle verlassen können, ohne dass jemand den Wagen betreten hatte.

Als nächstes wüde sie sich den Referenten von „Generation Lobpreis“ vornehmen. Diese arroganten Besserwisser, die die endlich wieder aufkeimende Frömmigkeit der jungen Generation mit allen Mitteln zu bekämpfen suchten. Sie stieg aus der Bahn und schlenderte beschwingt über das Messegelände. Als sie die Halle erreicht hatte, griff sie in der linken Jackentasche nach ihrem Mitarbeiterausweis. Da war er nicht. Sie suchte in der rechten Tasche, im Rucksack, in den Hosentaschen. Er war verschwunden und eine eiskalte Erkenntnis überkam sie, als ihr bewusst wurde, bei welcher Gelegenheit er ihr höchstwahrscheinlich aus der Tasche gerutscht war...

ENDE

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Was für ein Vertrauen – Kurzkrimi in vier Teilen – 3. Teil
Gero war noch ganz gefangen von den Eindrücken. „Bibel-Bitches“, das hatte ihm gefallen und wie sie es geschaft hatten, in der fast als homoerotisches Rührstück angelegten Neuauflage der Geschichte von David und Jonathan eine kabarettistische Linie durchzuziehen, die zudem noch treffsicher und punktgenau die aktuellen homophobischen Restposten in der Evangelischen Kirche aufs Korn nahm, das war schon ganz goßes Kino. Darum merkte er auch nicht, dass sich seit dem Ende der Veranstaltung eine Peson an seine Fersen geheftet hatte, die ihn nicht aus den Augen ließ. Nicht einmal, als er beschäftigungslos an der nahezu verlassenen Haltestation auf die nächste U-Bahn wartete.

War ein super Konzert, fand René und fragte Carl nun schon zum dritten Mal: „Ey, Kalle, war doch'n super Konzert, oder etwa nicht?“
Aber Carl antwortete nicht, er war tief versunken im Tequila-Sunrise-Land, denn er hatte nicht nur seine eigene 1-Liter-Thermoskanne weggebechert sondern auch noch mehr als die Hälfte von Janas Cocktail vernichtet, die vertrug ja nichts und hatte schon die Flagge gestrichen, als sie erste Anzeichen eines Schwipses an sich bemerkte. Alle andern waren auch gut drauf, darum würden sie es auch hinbekommen, Carl unbeschadet in die Schule zu schaffen. Falls er sich übergeben musste, tat er das hoffentlich noch bevor sie ihren Schlafraum erreichten und bitte auch außerhalb der U-Bahn.

Gero war erleichtert. Endlich fuhr seine Linie ein, erstaunlich leer, genau wie der Haltepunkt. War ja klar, dass der Veranstaltungsort der HuK – Homosexuelle und Kirche – weit raus an den Stadtrand verlegt worden war, in die Schmuddelecke, damit kein anständiger Jugendlicher sich hier her verirrte. War eben nicht nur Putin, der Toleranz heuchelte und Hass lebte. Aber ihm sollte es recht sein. Konnte er wenigstens noch ein bisschen in Ruhe vor sich hin träumen. Er betrat einen leeren Wagen und setzte sich entspannt gleich auf den erstbesten Platz. Mit dem Rücken zur Tür, damit Zusteigende ihn nicht von seinen Gedanken ablenkten und direkt am Gang, damit kein unangenehmer Mensch sich neben ihn setzte. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben.

Es waren noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Carl lag mittlerweile zusammengerollt wie eine Katze am Boden und rührte sich nicht mehr. Er war zwar kein Hundert-Kilo-Brocken, eher ein dünnes Hemd, aber wenn er da so lag wie ein Mehlsack, würde es ein hartes Brot, ihn in die Bahn zu hiefen. René schüttelte ihn und schrie ihn an. Allmählich packte ihn die Panik. Erst als die Bahn endlich einfuhr, begannen Carls Augenlider zu flattern. Mit vereinten Kräften zogen sie ihn auf die Füße und schoben ihn in den nächsten Wagen. Hier riss Carl plötzlich die Augen auf, genau wie alle anderen. An der obersten Haltestange war ein lebendig grüner Kirchentagsschal befestigt. Am anderen Ende hing ein Mensch mit hervorquellenden Augen und blauer Zunge. Wären sie nicht so betrunken gewesen, hätten sie ihn vielleicht noch losgemacht, doch starr vor Anst, schafften sie es nicht einmal, aus der Bahn zu flüchten. Schreiend und zitternd warteten sie auf die nächste Gelegenheit, die Bahn wieder zu verlassen und dann, wenn sie in Sicherheit waren, die Polizei zu informieren. Carls Mageninhalt drängte nach draußen und dann sah es so aus, als habe der Erhängte der Nachwelt zum Abschied ein säuerlich riechendes Geschenk hinterlassen.

Forsetzung folgt

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Freitag, 5. Juli 2019
Was für ein Vertrauen – Kurzkrimi in vier Teilen – 2. Teil
Eine großartige Bibelarbeit war das gewesen: drei Frauen, drei Religionen und drei Perspektiven auf ein- und diesselbe Geschichte: die Opferung Isaaks – oder Ismaels. So viel Neues hatte sie erfahren: dass aus der jüdischen Sicht die Geschichte viel Raum für Interpretation lässt und man auch mit einer gehörigen Portion Humor und großer Skepsis dem Wahnsinn begegnet, dass ein Vater den eigenen Sohn opfern will, weil er glaubt, Gott habe es ihm aufgetragen, um seinen Gehorsam zu prüfen. Dass die Christen das viel weniger hinterfragen und den Blick auf den Glauben richten, dass Gott trägt, begleitet und das Dilemma selbst löst, auch das Leid in der Welt, von Menschen verursacht, die die Freiheit haben, sich zu entscheiden, auch dafür, Fehler zu begehen.
Dass Muslime so weit gehen, zu behaupten, Gott habe die Welt so erschaffen wie sie ist, mit allem, was dazu gehört, auch Leid und Kriege. Aber er tröstet auch, heilt und rettet. Er ist nicht so, wie wir ihn gern hätten, sondern gewaltig, wild und unberechenbar.
Und was der Jüdin als erstes auffiel, war, dass Sarah, die Mutter Isaaks, oft nicht in den Blick genommen wird, die, nachdem sie von dem geplanten Opfer erfuhr, vor Gram starb. Da blieb etwas schlimm und wurde nicht aufgelöst.
Dass sowohl in der jüdischen als auch in der islamischen Tradition der Sohn bereits erwachsen ist und an der Entscheidung beteiligt wird. Und dass sich laut islamischer Überlieferung vermutlich nicht einmal der Versuch der Opferung tatsächlich ereignet hat, sondern nur ein Traum war.
Hier im Opernhaus gab es sicher ausgezeichnete Toiletten, wo sie sich noch einmal frisch machen konnte, bevor sie die Veranstatung zum Bibliolog aufsuchte. Noch begeisterter war sie, als sie feststellen durfte, dass keine meterlange Schlange vor der Tür stand; bei den meisten hatte sich nach dem letzten Toilettengang vor dem Aufbruch noch nicht so viel in der Blase angesammelt.
Eine Frau wusch sich eben die Hände und nur eine Kabine war besetzt. Sie zog sich hinter eine der Türen zurück, ließ die Hosen herunter und nahm entspannt auf der blitzsauberen Brille Platz. Seltsame Geräusche drangen aus der Kabine nebenan an ihr Ohr. Es kratzte und rumpelte an der Trennwand. Sie war noch damit beschäftigt, sich unendlich zu wundern, da breitete sich ein Schatten über ihr aus und im nächsten Moment stürzte eine gewaltige Körpermasse auf sie herab und begrub sie unter sich. Den Schnitt durch die Kehle wurde sie nicht mehr gewahr, denn kurz zuvor war ihr Genick gebrochen...

FORTSETZUNG FOLGT

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Freitag, 28. Juni 2019
Was für ein Vertrauen – Kurzkrimi in vier Teilen – 1. Teil
Sie sah die Menschenmassen immer noch vor sich: sportlich beschuhte Füße, mit bedruckten, grünen Baumwollschals dekorierte Rucksäcke, drahtig alternde Frauen mit energischer Studienrätinnenmiene, kauzige Frührentner, die optisch unverkennbar ihrer Pfadfinder-Jugendzeit nachtrauerten, lebenshungrige Jugendliche und ebenso hungrige alte Menschen. Sie hatte noch das Gemurmel im Ohr, die Gesprächsfetzen: „Bei der nächsten müssen wir aussteigen.“ , „Ich hab' schon elf Perlen, mir fehlt nur noch die Bierperle.“, „Da will ich morgen auch hin, aber die Halle ist sicher schon eine Stunde vorher überfüllt.“

Jetzt sollte die Müdigkeit ihren Job machen, auch wenn die Füße schmerzten und irgendjemand ein paar Isomatten weiter leise schnarchte. Aber sie spürte, dass das dritte alkoholfreie Weizenbier, das sie zum Absacken im Nachtcafé getrunken hatte, seinen Tribut forderte.
Schon wieder über die endlosen Flure huschen, um sich erneut Erleichterung zu verschaffen? Vielleicht ging es ja bis zum Wecken. Waren ja nur noch ein paar Stunden. Sie versuchte, den unangenehmen Blasendruck zu verdrängen. Es ging nicht. Stöhnend schälte sie sich aus dem Schlafsack, schlüpfte in die Sandalen und machte sich auf den Weg.

Die Notbeleuchtung und die warmen Erdtöne der Fußbodenfliesen ließen sie fast vergessen, dass sie in einem Schulgebäude unterwegs war. Wie viel anders die Atmosphäre wohl an einem gewöhnlichen Vormittag war, wenn lärmende Schülerinnen und Schüler hier vor und nach dem Unterricht umher wuselten. Jetzt war es dämmrig, still und die warme Luft stand zwischen den Wänden wie Gallert.

Grell war dagegen das Licht im Toilettenraum, hier war die Stille weniger einschläfernd, wenn auch genauso wohltuend. Das war ja das Schöne am Kirchentag, dass man sich überall sicher und geborgen fühlte, selbst in der größten und wildesten Großstadt.
Das schützte sie allerdings nicht vor der obligatorischen Reiseobstipation. Ihr Bauch war so kugelrund wie in der 22. Schwangerschaftswoche, und obwohl sie den ganzen Tag fast nur Berge von Obst und Gemüse veschlang, behielt sie alles bei sich und fühlte sich wie ein zu fest aufgeblasener Mediziball, rund und schwer und kurz vorm Platzen. Sie würde die gegenwärtige Einsamkeit nutzen, um durch entspanntes und beharrliches Sitzen dem Stuhlgang eine Chance zu geben. Unter den gegebenen Umständen hatte sie keine Hemmungen, der Natur ihren Lauf zu lassen.
Etwas regte sich in der Kabine neben ihr. Erst ein Rascheln, dann ein Röcheln. War da nebenan jemand auf dem Klo eingeschlafen? Oder gar kollabiert? War ja nicht unwahrscheinlich bei all den ihre Erschöpfungsgrenzen ständig überschreitenden Alten.
„Hallo?“, fragte sie ängstlich. „Brauchen Sie Hilfe?“
Es war weiterhin nicht mehr als ein Röcheln zu hören. Sie riss eilig die Hose hoch, spülte instinktiv und trat vor die Tür der Nachbarkabine. Sie war nicht verschlossen. Fatalerweise ging die Toilettentür nach innen auf und die röchelnde Person schien am Boden zu liegen. Immer wieder drückte sie kraftvoll gegen die Tür, es war eine gewaltige, träge Masse, gegen die sie ankämpfte und ihre Kräfte waren begrenzt. Immer wieder schob sie, um die Lücke zwischen Tür und Rahmen auf ein Maß zu drücken, das es ihr erlaubte, sich hindurchzuzwängen und nach der offenbar hilflosen Person zu sehen. Der Schweiß lief ihr längst in Strömen den Rücken herunter und ihr Kopf fühlte sich fiebrig heiß an, als sie es endlich schaffte, in die Kabine zu gelangen.

Eine blutüberströmte Frau im reifen Alter lag da gekrümmt am Boden. Sie hatte eine klaffende Wunde am Hals, ihre Kleidung hatte sich vollgesaugt und trotzdem lag sie in einer hellroten Pfütze. Noch lebte sie, aber ein sehr blasses Dreieck um Kinn, Mund und Nase gab zu erkennen, dass es jeden Augenblick vorbei sein würde...

FORTSETZUNG FOLGT.

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Freitag, 14. Juni 2019
Teufels Werk und Gottes Auftrag – ein Peter Margo Dreiteiler – Teil 3
Ich trieb mich den gesamten Vormittag im Baumarkt herum. Lauter wortkarge Brummelbärte waren da unterwegs – misanthropisch oder arrogant oder argwöhnisch oder alles auf einmal. Doch dann tauchte Malte auf. Malte sah gut aus: schlanke Silhouette, definierte Muskeln, kräftiges, volles Haar, klassisch kurz geschnitten, glatt rasiertes Gesicht, himmelblaues Polo-Shirt, Markenjeans, Turnschuhe und er trug dazu ein Gesicht, in dem Bescheidwissermiene, Aggressionsbereitschaft, Selbstgefälligkeit, Anständigkeit und Sehnsucht nach Anerkennung und Bestätigung um die Vorherrschaft rangen. Ein bizarres Muskelspiel, dessen er sich offensichtlich nicht bewusst war.

„Suchen Sie auch einen kompetenten Berater, der ausnahmsweise der deutschen Sprache mächtig ist?“, fragte ich ihn unter Vorspiegelung echter Männersolidarität.
„Ja, die sterben aus.“, antwortete er. „Im Baumarkt können die Schwarzköpfe ihre Brut noch unterbringen, hier muss man ja nicht wirklich was können. Nur so tun als ob.“
Volltreffer. Punktlandung. Ich war meinem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen.
„Man fragt sich echt, was passiert ist.“, sagte ich. „Früher wurde man doch noch überall anständig beraten. Warum schaffen die das nicht mehr?“
„Weil die gut ausgebildeten Leute da hin gehen, wo sie richtig Geld verdienen. Gibt schon lange nicht mehr genug deutsche Azubis und darum auch kaum noch entsprechende Fachkräfte.“
„Mittlerweile“, wandte ich ein, „kann ich mich gar nicht mehr erinnern, wann die Welt für mich das letzte Mal noch vollkommen in Ordnung war.“
„Ich schon.“, antwortete Malte und tappte prompt in die von mir gestellte Falle.
„Als man noch aus dem Haus gehen konnte, ohne die Tür abzuschließen. Als beim Schützenfest die Schwarzhaarigen noch blaue Augen hatten und als der Eurovision Song Contest noch Grand Prix hieß, wo nur richtige Europäer mitmischten und richtige Lieder sangen und nicht so einen Techno-Porno-Müll wie heute. Als Frauen mit Kopftüchern noch Omas mit Lockenwicklern waren und anständige Leute noch einen Job kriegten, von dem sie leben konnten, auch wenn sie vielleicht nicht die Hellsten waren. Als die Kinder in der Grundschule noch alle Deutsch sprachen und die Mädels noch Mini-Röcke tragen konnten, ohne gleich die Hand von irgendeinem Abdullah im Schritt zu haben.“

Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht reflexartig zu erwidern, dass man schon in den Siebzigern – und vorher natürlich auch – seine Haustür abschließen musste, um nicht beklaut zu werden, dass es auch unter Mitteleuropäern viele Schwarzhaarige mit braunen Augen gab und die Augenfarbe nichts über die menschlichen Qualitäten preisgab, dass Israel schon immer beim Grand Prix mitgewirkt hatte und die Musik eher im Barbie-sexy-Schlagermillieu anzusiedeln war, dass es vollkommen irrelevant war, welche Frau sich warum ein Stück Stoff um den Kopf bindet, dass die passabel bezahlten Hilfsarbeiter-Jobs der fortschreitenden Automatisierung zum Opfer gefallen waren, die kein einziger Einwanderer zu verantworten hatte, dass es früher die Landbevölkerung war, die in der Schule erst einmal Deutsch lernen musste und dass das sprachliche Unvermögen in den prekären Ghettos wohl mit der wirtschaftlichen Verelendung zusammenhänge und dass die Mädels in den Siebzigern erheblich mehr Hände im Schritt hatten und nicht nur Hände und nicht nur, wenn sie einen Minirock trugen und dass es ihnen wohl herzliche egal war, ob der Kotzbrocken dann Abdullah, Giuseppe, Horst-Günther oder Malte hieß, aber damit hätte ich das Gespräch sofort beendet. Stattdessen fragte ich: „Womit hat das bloß angefangen, dass alles so den Bach runter ging?“
„Vielleicht schon mit den Gastarbeitern.“, überlegte Malte. „Wir hätten unsere Probleme allein lösen müssen. Hätten wir keine Einwanderer gehabt, wären wir auch für Flüchtlinge nicht interessant gewesen. Erst kamen die Italiener, die Spanier und die Türken, dann die Hippies und als nächstes die Grünen mit ihren ganzen Pestideen, dann Kohl mit seinen leeren Versprechungen von blühenden Landschaften, dann Schröder mit seinem verdammten Hartz 4 und schließlich Merkel mit ihrem Wir-schaffen-das. Alle reden viel und machen Versprechungen, aber keiner tut was. Und wenn sie sich mal bewegen, dann in die falsche Richtung.“
Nun war ich auch nicht schlauer als vorher. Ich wusste noch immer nicht, was den Schalter in seinem Kopf umgelegt hatte, außer vielleicht die großen Fluchtbewegungen, die ja sogar bei denjenigen Ängste ausgelöst hatten, die entschlossen waren, die in Bedrängnis Geratenen aufzunehmen und zu unterstützen. Hier kam das Tier im Menschen durch, der Kampf ums Revier, die Ressourcen und sogar darum, wer die Weibchen begatten durfte.

Ich verabschiedete mich von Malte, dem Heimat-Idylliker und schlenderte zum Bus, um mich auf den Weg in mein Büro zu machen. Ich würde Gott mit dem Systemfehler im menschlichen Bauplan konfrontieren, sollte er doch für ein Update sorgen.
Doch ich kam gar nicht bis zu meinem Büro, als ich von der Bushaltestelle aus durch den Stadtwald lief, saß er da auf einer Parkbank und klopfte auf den freien Platz zu seiner Rechten.
„Setzen Sie sich zu mir. Ich spüre, dass Sie Neuigkeiten haben und hier im Grünen plaudert es sich angenehmer als in Ihrem begehbaren Nikotinpflaster.“
Mein Büro hatte in der Tat mal wieder einen frischen Anstrich nötig und hier draußen konnte ich ja auch rauchen, ohne dass meine Kundschaft sich belästigt fühlte.

Ich setzte mich und kam direkt zur Sache: „Der Auslöser für die verbreitete Panik ist meines Erachtens der eklatante Anstieg der Zahl flüchtender Menschen, der ja 2015 besonders dramatische Züge annahm. Es gibt da so einen Webfehler in der menschlichen Seele, dessen Sie sich einmal annehmen müssten.“
„Was für ein Webfehler?“, fragte Gott und hörte interessiert zu.
„Na, so eine anfällige Konstruktion, als hätten Sie ein wenig gepfuscht wie die Ingenieure bei VW und jetzt müssen alle Exemplare nachgerüstet werden, weil sie zu viele Schadstoffe ausstoßen.“
„Wie soll ich denn diese Metapher verstehen?“
„Sobald wir Menschen uns auch nur vorstellen, wir könnten in unserer Existenz bedroht sein, weil jemand versucht, uns unser Revier streitig zu machen oder sich an den Ressourcen zu bedienen, die wir für uns in Anspruch nehmen, kommt das Tier in uns zum Vorschein, mit dem klaren Denken ist es vorbei, wir gleiten in den Kampfmodus.“
„Ja, das musste ich so machen“, erwiderte Gott, „wegen des ökologischen Gleichgewichts. Man will ja nicht vier-und-zwanzig Stunden am Tag Wildkräuter zupfen, der Garten Erde soll von allein im Lot bleiben.“
„Das ist er aber schon ganz lange nicht mehr. Ich glaube, Sie müssen etwas tun, sonst geht alles kaputt.“
„Ich denke, ich überlasse das den Menschen.“, entgegnete Gott.
„Aber Sie sehen doch, dass wir es nicht hinbekommen!“, protestierte ich. „Wir bringen uns gegenseitig um, sorgen dafür, dass die Erde sich aufheizt, vergiften das Wasser, verwandeln blühende Landschaften in Wüsten, lassen tausende von Arten sterben, verpesten die Luft und verbrauchen heute schon die Reserven von übermorgen. Sie müssen endlich eingreifen!“
„Einen Teufel werde ich tun.“, sagte Gott. „Dann lernt Ihr ja nichts aus Euren Fehlern.“
„Das haben wir noch nie getan.“, entgegnete ich.
„Doch, das habt ihr. Nicht alle, aber immer einige von euch. Wie sonst erklären Sie sich, dass die Menschheit auf mittlerweile mehr als sieben Milliarden angewachsen ist? Dass sie das Wettrüsten beendet und das Waldsterben gestoppt haben? Dass sie in einer Demokratie leben statt in einer Monarchie? Dass ihre Leute Wale retten, verschmutzte Flüsse wieder sauber kriegen, Kranke und Verletzte heilen? Dass die Schwachen getragen werden und überall Menschen bereit sind, mit anderen zu teilen? Der Mensch ist gut, er hat nur noch einen langen Weg vor sich. Jetzt, wo ich den Grund für das Abdriften der Europäer kenne, wird mir schon etwas einfallen, womit ich die vielen verirrten Nachtschwärmer zurückhole ins Licht. Ich danke Ihnen für Ihre Mühe – behalten Sie den Vorschuss und nutzen Sie ihn in meinem Sinne.“

Ich wollte noch etwas erwidern, aber da hatte die Gestalt sich schon aufgelöst. Und ich fragte mich, ob er oder es wirklich der war, der er sein würde, Jahwe, Elohim, El Schaddai, HaShem, der Schöpfer, der uns alle in der Hand hatte. Ich wusste es nicht, mir war nur etwas leichter ums Herz geworden, wegen einer leisen Hoffnung, die sich in mir regte – und wegen des vollen Geldbeutels, der mich entspannt in die nahe Zukunft blicken ließ.

ENDE

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Teufels Werk und Gottes Auftrag – ein Peter Margo Dreiteiler – Teil 2
In Harrys Bar saßen die gewohnten Gestalten, doch statt wie üblich mit ein bis zwei Islay-Scotch mein sirrendes Gehirn zu betäuben, bestellte ich mir einen erfrischenden Mojito und zwar einen alkoholfreien.
„Steigst du jetzt auf Kinder-Cocktails um?“, fragte Harry mit einem schiefen Grinsen.
„Ich brauche heute Abend einen klaren Kopf“, rechtfertigte ich mich, „und außerdem tut die eine oder andere Scotch-Pause meiner Leber auch ganz gut.“

An der Theke saß Struppi, der eigentlich Thorsten hieß, aber das hatten die meisten seiner Bekannten längst vergessen. Er blickte trübe in sein Bierglas und nahm hin und wieder einen Schluck.
„Und?“, fragte ich. „Wo hast du bei den letzten Wahlen dein Kreuz gemacht?“
„Hier, auf dem Deckel.“, antwortete er, ohne mich anzusehen.
„Du gehst nicht hin?“
„Nicht mehr.“
„Warum nicht?“
„Weil das Kapital regiert und die Politiker nur als Marionetten benutzt. Das will ich nicht auch noch mit meiner Stimme legitimieren.“
„Und was tust du stattdessen?“
„Trinken.“
„Verstehe.“

Struppi war fertig mit dieser Welt und es gab auch keine andere, mit der er hätte neu anfangen können. War auch ein blöder Ansatz, die Leute zu fragen, was sie gewählt hatten, darum ging es ja nicht. Gut, mich interessierten vorzugsweise die Ängste derer, die dem rechten Lager zusprachen, aber ob gerade die mir bereitwillig Auskunft gaben? Und ob die sich überhaupt in Harrys Bar verliefen?

„Was sind das eigentlich für Leute, die plötzlich die Rechtspopulisten wählen, als hätten sie all die Jahre auf diese Gelegenheit gewartet?“, murmelte ich vor mich hin.
„Und da fragst du mich, wo ich mein Kreuzchen gemacht habe?!“
Struppí sah mich wütend an. „Traust du mir so etwas entsetzlich Dummes zu? Meinst du, ich hab' mir die Birne jetzt komplett weggeballert?“
„Nein, natürlich nicht.“, entschuldigte ich mich. „Ich hab' nicht richtig nachgedacht.“
„Eben.“, schnaubte Struppi. „Sind doch diese akkuraten Vollblut-Rollrasen-Verleger mit den gestärkten Hemdkragen und den getrimmten Vollbärten, die immer allen erklären müssen, wie man es richtig macht. Die die Schnauze voll davon haben, dass nie jemand auf sie hört, obwohl sie doch längst für alles die Lösung haben. Und dann kommt ein blonder Björnd und verspricht feierlich, dass sie endlich ernstgenommen werden.“
„Und was ist mit dem abgehängten Präkariat?“, fragte ich.
„Die sind harmlos.“, erwiderte Struppi. „Nix im Kopf und nix im Ärmel. Die gehen beim nächsten Mal nicht hin oder wählen die Tierschutzpartei.“

Bei der Aussicht auf Recherchen im mittelständischen Bildungsverweigerungsmillieu brauchte ich doch noch einen Scotch als Absacker. Scheiß auf Hochsommer, scheiß auf Leberwerte, dachte ich. Anders halte ich das nicht aus.
Ich schlief schlecht in dieser Nacht, träumte wirres Zeug von zitternden Scheitelglatzen, die in randvollen Hosen mit dem Barttrimmer ihren Rollrasen gegen das Gesindel verteidigten. Das Gesindel waren Struppi und ich und Samir aus der schäbigen Dönerbude mit der ausgeblichenen Bosporus-Fototapete.
Ein fieses Bohren und Stechen im Oberbauch schrie nach Haferschleim und Kamillentee, aber für so etwas hatte ich keine Zeit. Ein starker Kaffee und eine einer jungfräulichen Packung entnommene Zigarette mussten vorerst reichen.
„Scheiß Auftraggeber!“, fluchte ich vor mich hin.
„Nanana.“, hörte ich eine blass klingende Stimme. „Diese Beschimpfung ist aber definitiv nicht gegendert.“
„Oh Gott!“, rief ich. „Wo soll ich denn nach diesen Rasierwasser-marinierten Vertikutierer-Fetischisten suchen?“
„Im Baumarkt.“, schlug Gott vor und materialisierte sich allmählich im Türrahmen.
„Und dann?“, fragte ich. „Frage ich, ob er irgendwelchen Rechtspopulisten seine Stimme geben würde und wenn ja, woher seine Übervorteilungsängste kommen?“
„Darauf muss ich nicht wirklich antworten, oder?“, fragte Gott.
„Nein, ich weiß selbst, dass das nicht funktioniert. Besser ich stelle eine unauffällige Fangfrage, um herauszufinden, ob jemand zur Zielgruppe gehört und dann muss ich das Gespräch irgendwie dahin lenken, die Person zu fragen, wann sie zum letzten Mal in ihrem Leben das Gefühl hatte, dass die Welt für sie in Ordnung ist.“
„Und dann?“, fragte Gott.
„Dann kann ich aus dem verlorenen Idyll, nach dem sie sich sehnt, Rückschlüsse über die Ursachen ziehen und was genau das Gefühl ausgelöst hat, die Sicherheit und Geborgenheit verloren zu haben.“
Ich wartete auf Antwort, aber Gottes Gestalt hatte sich bereits wieder aufgelöst. War das alle echt oder litt ich an Wahnvorstellungen? Ich lief ins Bad und zog meine Brieftasche aus der Brusttasche des gestrigen Oberhemdes. Der üppige Vorschuss ließ sie prall und deformiert erscheinen. Wahnvorstellungen zahlten keine Vorschüsse.

Fortsetzung folgt.

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