Freitag, 16. August 2019
Armbrust
Es war sein siebtes Leben. Er hatte schon immer gewusst, dass er eine alte Seele hatte. Schon als Kind hatte er deutlich gepürt, dass er mehr wusste, als alle anderen. Nicht mehr über Rechenwege, naturwissenschaftliche Zusammenhänge oder Grammatikregeln. Aber über das Große und Ganze, das Wesentliche, das Ursprüngliche und worauf es ankommt im Leben. Der Pfarrer hatte das instinktiv gespürt und ihn dafür gehasst. Im Kindergottesdienst hatte er ihn ignoriert, im Konfirmandenunterricht vorgeführt und als er nach der Konfirmation dem Verein den Rücken gekehrt hatte, hatte er ihn trotzdem weiterhin belästigt unter dem Vorwand, nur das Beste für ihn zu wollen.

Dieser Kleingeist wusste nichts, er stand erst am Anfang seiner irdischen Odyssee. Der Pfarrer kannte nicht die Entbehrungen des Jägers und Sammlers, der seine schützende Höhle gegen viele Konkurrenten mit steter Wachsamkeit und Bereitschaft zu exzessiver Gewalt verteidigen musste, um zu überleben. Der Pfarrer wusste nichts von den Offenbarungen in Frühjahrsvollmondnächten, in denen die Auserwählten, die nächste Generation der Welterschaffer zeugten. Der Pfarrer hatte sich nie verstecken müssen vor dem missgünstigen Pöbel, der nur allzu bereit war, die Wissenden an die eifersüchtigen Kirchenoberen und damit einem grausamen Tod auszuliefern. Der Pfarrer hatte nie als Kötter eines Großbauern auf dem Feld gewullackt und im Winter Kartoffelschalen gefressen, um nicht zu verhungern. Der Pfarrer kannte nicht den schwarzen Kohlenstaub, der sich in jeder noch so kleinen Körperöffnung festsetzte und das Leben derer radikal verkürzte, die sich für die Annehmlichkeiten der Langlebigen den Buckel krumm schufteten. Und Der Pfarrer war nicht im Kessel von Stalingrad scheibchenweise verhungert und erfroren, während um ihn herum Freunde und Weggefährten aus dem Leben schieden.

Nun, in seinem siebten Leben angekommen, hatte er genug gelernt, um mit denen, die ebenso alt und lebensklug waren, die Welt zu erneuern, sie neu zu erschaffen. Viele Nachkommen musste er zeugen. Vier Frauen hatte er nun schon in seinem Fahrwasser, aber drei sollten noch dazu kommen, nur hatte er die Erwählten noch nicht gefunden und ihm kamen allmählich Zweifel, ob seine dritte Entdeckung sich nicht doch als Fehleinschätzung erwies. Vielleicht wollte sie nur eine alte Seele sein, weil sie scharf auf seinen Körper gewesen war, denn er verfügte in der Tat über ein ansehnliches und athletisches Seelengefäß. Und natürlich fühlten Frauen sich allgemein zu charismatischen Persönlichkeiten hingezogen und er besaß ein natürliches Charisma, das war ja auch kein Wunder.

Die ersten beiden waren weise genug, seinen großartigen, schöpferischen Geist nicht mit Alltagsgetöse zu belasten. Sie hatten sich zusammengetan, um gemeinsam seine Kinder großzuziehen. Von Zeit zu Zeit besuchte er sie und sie hießen ihn immer herzlich willkommen.

So war es schon gewesen, als er die Dritte kennenlernte. Er hatte sich an ihr ergötzt, ihre Bewunderung aufgesogen, sich mit ihr gezeigt und sich von ihrer Lebendigkeit anstecken lassen. Aber er hatte gewusst, dass das Leben mehr von ihm verlangte und als er die Vierte mit nach Hause brachte, war die Dritte plötzlich zickig und uneinsichtig geworden. In nächtelangen Diskussionen hatte er geglaubt, sie endlich überzeugt zu haben, aber da schwelte etwas unter der Decke, er spürte, dass sie sich noch nicht gänzlich damit abgefunden hatte, dass er nicht ihr allein gehörte.

Die Vierte meisterte den Konflikt grandios, war die Ruhe selbst, immer ein Lächeln auf den vollendeten Lippen und den Schalk in den graublauen Augen. Sie war wunderschön und fruchtbar wie Terra Preta. Die Dritte dagegen würde keinem Welterneuerer das Leben schenken, obwohl sie mit ihren dreißig Jahren doch das Küken in seinem Hühnerhof darstellte.

Er würde es ihr sagen müssen, doch nicht heute, wo sie gerade so einen formidablen Abend für alle drei organisiert hatte, bereit sich zu ändern, die Eifersucht zu besiegen. Vor dem Theaterbesuch würden sie Tapas essen gehen, aber um das Geld zusammenzuhalten, schlug sie vor, den Aperitif im Pensionszimmer des bayrischen Urlaubsorts zu nehmen. Einen selbst gemixten Spritz, mit Campari statt Aperol, mehr Geschmack und mehr Alkohol. Sogar Eis hatte sie zum passenden Zeitpunkt besorgt und sich elegante Gläser von der Wirtin ausgeliehen.
Wie ein Engel sah sie aus, mit dem hüftlangen, welligen, kastanienbraunen Haar, auf das die Abendsonne glänzende Kupfereffekte zauberte. Das nachtblaue Seidenkleid umspielte ihre geschwungenen Hüften und als sie ihm den Aperitif reichte, war ihm, als schenke sie ihm das Elixier des ewigen Lebens oder der tiefen Erkenntnis. Vielleicht hatte er sich doch nicht in ihr getäuscht. Sie prosteten sich zu und tranken den köstlich sanft-bitteren Mix in tiefen Zügen. Die Vierte fasste sich an die Schläfe, eine ungewöhnliche Geste, doch er konnte sich ihr nicht zuwenden, hatte nur Augen für die Dritte, deren atemberaubende Sinnlichkeit immer betörender wirkte, so sehr, dass ihre Konturen verschwanden, ihr Bild sich in ein impressionistisches Aquarell verwandelte. Der Boden tat sich unter ihm auf und er sank in die Dunkelheit.

Die Dritte betrachtete die zu Boden Gesunkenen. Sie hatte vorher nicht gewusst, wie schnell die K.o.-Tropfen wirkten. Bei den anderen Beiden hatte sie noch den Fehler gemacht, sie nicht vorher zu betäuben, Gott, wie furchtbar sie geschrien und um ihr kleines Leben gezittert hatten. Als käme es darauf an, das nächste Dasein wartete doch schon. Derlei Unanehmlichkeiten würde sie sich dieses Mal sparen. Den Tropfen sei Dank konnte sie alles in Ruhe, sanft und sauber zu Ende bringen.

Im nächsten Leben würde er gelernt haben, dass er nur ihr allein gehörte, die Rivalinnen würden sich an andere Männer hängen und sie bekäme ein neues Seelengefäß, ein fruchtbares, keines, das der klerikale Großvater schon frühzeitig mit seiner Männlichkeit zerstören konnte. Der würde als Unberührbarer in Kalkutta darben, während sie endlich für immer mit ihrer großen Liebe vereint war. Den ersten Pfeil verpasste sie Nummer Vier. Sie sollte einen gehörigen Vorsprung bekommen, damit sie ihr nicht noch einmal in die Quere kam. Dann trank sie in aller Seelenruhe ihren Spritz. Sie streichelte den lebendigen, schlafenden Körper ihres Geliebten, die noch immer harten Muskeln, des über fünfzigjährigen Mannes, der ebenso wie sie ein Opfer ihres Großvaters gewesen war, wenn auch nicht in der gleichen Weise. Er wusste nichts von dieser Verbindung, aber er hatte genau wie sie gespürt, dass sie füreinander bestimmt waren. Und jetzt würden sie gemeinsam den Schritt in ein neues Leben wagen. Sie setzte die Armbrust direkt auf sein Herz. Der Pfeil drang tief ein und es brauchte ihre ganze Kraft, ihn wieder herauszuziehen, denn es musste unbedingt der gleiche Pfeil sein, sein Blut musste sich mit dem ihren vermischen. Ihr letzter Blick galt seinem geliebten Gesicht, dann schoss sie sich selbst in die Brust.

Nummer Fünf hatte Glück. Sie wären sich an diesem Abend zum ersten Mal begegnet.

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Erschütternde Begegnung
Wer ist das? Sieht aus wie der Bruder, der, der vor zehn Jahren an Krebs gestorben ist. Nur war er schmaler im Gesicht, gezeichnet von der Chemotherapie und die Haarstoppeln waren nur noch ein Kranz und bedeckten nicht den vorderen Kopf.
Und dann erkennt sie die Farbe der Iris, das Muttermal am rechten Nasenflügel, der Schwung der Augenbrauen und die verräterische kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Es ist ihr Gesicht, aber im falschen Rahmen, so als hätte jemand die Landschaft in Öl, die seit fünf-und-fünfzig Jahren im üppigen, gold lackierten Holzrahmen über dem Sofa hängt, in einen rahmenlosen Bildhalter mit steingrauem Passepartout gepresst.
Der Anblick erinnert an die Unglücklichen in den Jahren ihrer Kindheit, die man einer radikalen Behandlung unterziehen musste, weil Kopfläuse sich in ihrer Haarpracht eingenistet hatten. Aber sie hatte keine Kopfläuse, noch nie gehabt, im Leben nicht.

Mit Häftlingen hat man das früher auch getan, vor allem mit den Opfern der Nazis, die man in den Todeslagern behandelte wie Schlachtvieh in Massentierhaltung.

So lange sie denken kann, nein nicht ganz, seit ihrem vierten Hochzeitstag, hat sie ihr Haar ein-einhalb Finger lang getragen. Beim Friseur eine Dauerwelle legen lassen, nach einer Woche an jedem Samstag waschen, Festiger, Strähne für Strähne auf Wickler gedreht, dann eine halbe Stunde unter der Trockenhaube Kartoffeln geschält oder die Hände manikürt, Wickler gelöst, durchgekämmt, fertig und eine Woche lang Ruhe. Sie hat damit immer perfekt ausgesehen: in jungen Jahren brünett, später meliert, dann coloriert kaschiert und schließlich hat sie das silbergrau selbstbewusst und stolz getragen.

Selbst aufdrehen geht schon lange nicht mehr. Die Schwiegertochter hat sich beklagt, sie schaffe das nicht mehr mit den Haaren. Was die nur hat. Ins gemachte Nest hat sie sich damals gesetzt. Dabei hat sie sich schon immer gehen lassen. Farblos, ungepflegt, mit schlaffen Muskeln und teigiger Haut, Speckrollen und glanzlosem Haar. Sie schaffte es nicht einmal, sich anständig anzuziehen. Nur ihre zwei missratenen Kinder hat sie großgezogen, das Geld hat der Ehemann rangeschafft und das nicht zu knapp. Damals hat sie sich beklagt, sie wolle wieder arbeiten, aber das sei unmöglich, wenn ihr niemand die Kinder abnehme. Phantasielose Tranfunzel, das schafften ja sogar Alleinerziehende, ohne die Generation ihrer Mütter einzuspannen. Aber die Schwiegertochter war sogar mit ihrer kleinen Wohnung und ein wenig Gartenarbeit überfordert, sogar jetzt, wo die missratenen Kinder längst aus dem Haus sind. Eine halbe Stunde die Woche Haare aufdrehen, zu viel Arbeit, unfassbar.

Arglos hat sie sich dem ins Haus bestellten Friseur ausgeliefert. Sie hatten sie in dem Glauben gelassen, er mache ihr nur eben die Haare, dann müsse sie nicht extra mit dem Auto zu ihrer Stammfriseurin, wo sie immer noch ein paar Treppenstufen überwinden muss, was ihr zunehmend schwerfällt. Es war nicht die Schere, die sie irritiert hat, sondern das andere Gerät, das komische Summen und dieser harte Gegenstand so nah an der Kopfhaut, ein Gefühl, als werde man für die Hinrichtung vorbereitet.

Das ist nicht mehr sie selbst. Sie haben sie zum Sträfling gemacht, planen ja auch, sie in den Knast abzuschieben. Es nennt sich zwar Pflegezentrum, aber es unterscheidet sich in nichts von einem Gefängnis: totale Fremdbestimmung, keine Privatsphäre, liebloses Kantinenessen, gefangen in einer Zelle mit genormten Betten, geregelten Besuchszeiten und uniformiertem Personal, das einem die Leviten liest, wenn man nicht spurt. Das hat sie schon in der Kurzzeitpflege kennengelernt. Wenn sie also ohnehin in den Knast muss, dann will sie es sich wenigstens verdienen.

Mit der brüchigen Stimme einer vom Leben Gezeichneten kräht sie den Namen ihrer Schwiegertochter so lange, bis die gleichzeitig gelangweilt und verärgert im Türrahmen erscheint.
„Mir ist der Kamm runtergefallen, kannst du mir den mal aufheben?“
„Wozu brauchst du noch einen Kamm?“
„Der ist runtergefallen, der kann doch da nicht liegen bleiben.“
„Meinetwegen.“

Da ist noch immer der Riesenflacon mit Eau de Cologne, der lediglich zu dekorativen Zwecken auf der Fensterbank steht, ein uraltes Werbegeschenk, das die Schwiegertochter schon oft entsorgen wollte, dessen Verbleib die alte Frau aber bis jetzt erfoglreich verteidigt hat. Mit der letzten Kraft ihrer drei-und-neunzig Jahre greift sie nach der Flasche und zertrümmert sie auf dem dahinwelkenden Schädel der lebenslang verachteten Schwiegertochter. Das Aroma des billigen Kosmetikums vermischt sich mit dem metallischen Geruch des Blutes und des kalten Schweißes der Todesangst. Fast schon Konzeptkunst, angesichts der Fleisch gewordenen Geschmacklosigkeit, die die Schwiegertochter immer für sie verkörpert hat. Eine letzte Genugtuung, ein endültiger Sieg und die Gewissheit, dem geliebten Sohn die Erlösung auf dem Silbertablett serviert zu haben.

Wenn sie Glück hat, kann sie es als Unfall verkaufen.

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Freitag, 9. August 2019
Gott als Mörder
Die Erde liegt im Sterben und wir haben die Schuld. Jeder schiebt sie einem anderen zu, niemand will sie tragen.

„Ich muss doch Auto fahren, der öffentliche Personennahverkehr läuft nicht oder ist zu teuer und die Politiker handeln nicht.“
„Wir würden den öffentlichen Personennahverkehr ja fördern, aber die Wähler schreien nach Parkplätzen und zwar nach größeren.“

„Ich muss das Kraut totspritzen. Rauskratzen schaffe ich nicht und wenn ich es wachsen lasse, klagen die Nachbarn.“
„Man will ja Ordnung in der Nachbarschaft. Wer das nicht schafft, muss sich ein kleineres Grundstück kaufen.“

„Ich esse halt nicht nur gern Fleisch, ich neige auch zu Eisenmangel. Gibt ja schon genug, die auf Fleisch verzichten; ich verzichte dafür auf andere Dinge. Und Biofleisch? Das ist wirklich schrecklich teuer. Wenn artgerechte Tierhaltung endlich Gesetz würde, dann müssten das ja alle machen, dann wäre da mehr Konkurrenz und die Preise für Biofleisch würden sich auf ein normales Maß einpendeln, dann würde ich das auch kaufen.“
„Wenn Bio Standard würde, könnten wir gar nicht mehr die gesamte Bevölkerung versorgen. Und außerdem würden wir Bauern so wenig verkaufen, dass wir gar nicht davon leben könnten.“

Und Gott sieht an, was er gemacht hat und siehe, es ist nicht mehr sehr gut. Nicht einmal befriedigend. Nicht einmal ausreichend. Eine glatte Fünf für die Geschöpfe, die das Gesamtkunstwerk von innen heraus krank machen. Und sie sind resistent gegen Antibiotika, diese Parasiten, wappnen sich schon für den Umzug auf ein neues Wirtstier, Mars oder Mond, ernähren sich vom Leben der Anderen und nützen Niemandem, auch wenn sie das selbst von sich glauben.

Aber Gott hat längst eine Arznei für die sterbende Erde gefunden, das wird sie heilen und retten und von den widerlichen Parasiten erlösen. Er flößt ihnen etwas ein, das ihre ohnehin schon lästige Gier ins Unermessliche steigert. Die wird sie so beherrschen, dass sie sich gegenseitig umbringen, bevor sie die Erde auslöschen können. Alles haben und nichts dafür bezahlen. Tun, was man will und für nichts die Verantwortung übernehmen. Fressen bis zum Kotzen, Ficken bis zur Ohnmacht, Rausch bis ins Koma. Nur das Beste; einmal benutzen und wegwerfen, Töten aus Langeweile. Sie infizieren und eliminieren sich gegenseitig bis das Experiment Mensch abgeschlossen ist. Exitus. Ende und aus. Letztes großes Artensterben. Nichts weint dieser Art eine Träne nach. Außer die Katzen und Hunde. Die müssen sich jetzt selbst durchschlagen.

Und im Mondschein tanzen die Mäuse im Takt der Ratten, den neuen Herrschern der Welt.

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Freitag, 2. August 2019
Kein Entkommen
Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel, wie sie es schon immer getan hatte. Damals hatte sie sich immer eine exotische Figur gewünscht. Der Wunsch war in Erfüllung gegangen: Apfelsinenpo, Ananastaille, Bananenbrüste, Kiwikinn. Sie hätte damals präziser wünschen müssen, dann würde das Ergebnis heute mehr ihren damaligen Vorstellungen entsprechen.
Nun musste sie mit diesem Körper leben oder sich seiner und des eigenen Lebens entledigen, doch sie glaubte noch immer an Überraschungen, Wendungen, Wunder.

Sie steckte schon lange fest im Sumpf der Eintönigkeit und Mittelmäßigkeit, es gab in ihrem Leben keine helle Freude, keinen höheren Genuss, keine uferlose Extase. Wenn sie nicht gerade übersehen wurde, dann bemerkte sie in den Augen ihrer Betrachter bestenfalls Belustigung, im Wesentlichen jedoch Verachtung. Diese Verachtung galt nicht nur ihrem wenig aufregenden Körper, sondern auch ihrer Lebensleistung. Sie machte ihre Arbeit gerade mal so gut, dass man sie nicht rauswerfen konnte, aber niemand hätte ihr auch nur eine Träne nachgeweint. Sie verstand es nicht, ihre Mitmenschen in schwierigen Zeiten zu unterstützen, hatte nichts Interessantes zu berichten und war weder mit messerscharfer Intelligenz noch mit ansteckendem Humor gesegnet – ihre Witze waren nichts als flache, abgedroschene Sprüche, ihre Meinung ein einziger Gemeinplatz. Und doch hielt sie an ihrem Dasein fest wie ein Hungriger an einem Laib Brot. Sie wartete noch immer auf den Anteil, der ihr in diesem Leben zustand.

Dann kam sie eines Tages, die Gelegenheit, die Wegscheide, an der es galt, die richtige Entscheidung zu treffen. Und sie kam unvorbereitet und so plötzlich daher, dass es sie erwischte wie ein Faustschlag.

Ganz zufällig hatte sie mitangehört, wie sie sich vertraulich unterhalten hatten, der fiese Finanzheini und ihr Chef, den sie nach wie vor für einen freundlichen, anständigen Menschen hielt.
„Sind Sie sicher, dass wir das so machen können?“, hatte ihr Chef gefragt.
„Warum nicht?“, hatte der Finanzheini geantwortet. „Uns wird man ja kaum Vorteilsnahme unterstellen, wir schichten nur intern ein bisschen was um. Das geht doch keinen was an, das muss auch keiner wissen.“
„Und wenn die in Mühringen Einsicht in die Sachkonten verlangen?“
„Dann sagen wir, dass das aus buchhalterisch-datenschutztechnischen Gründen nicht möglich ist, weil sie sonst automatisch Einblick in die Sachkonten der anderen Gemeinden hätten und dass sie sich mit den Abschlüssen zufrieden geben müssen. Davon abgesehen, müssen die ja erst einmal darauf kommen und so schnell, wie die immer mit den Sitzungen fertig werden wollen, haben die gar keine Zeit, sich solche Fragen zu stellen. Wir machen das jetzt ein paar Jahre so, bis alle Konten wieder ausgeglichen sind und dann gucken wir uns das noch einmal an und verteilen neu. Das kriegt keiner mit.“

Aber er hatte nicht mit ihr gerechnet. Und sie wusste, wenn sie es dem Kirchmeister von Mühringen steckte, was sie da gehört hatte, würde den beiden der Skandal um die Ohren fliegen. Allerdings würde ihr Chef ebenfalls über die Klinge springen und das passte ihr gar nicht, denn wer konnte schon wissen, wer danach auf seinen Posten käme. Andererseits würde dieser Jemand sich gewiss vor ihr in acht nehmen, mit ihr wäre zu rechnen, sie würde bestimmt nicht mehr übersehen oder belächelt, eher gefürchtet.

Sie hätte mehr Vorsicht walen lassen sollen, leiser von dannen schleichen oder noch besser, sich im Verborgenen halten, bis die beiden Verschwörer verschwunden waren. So hatte der Finanzheini sie bemerkt und sofort verstanden, welches Risiko sie darstellte.

Die Bahn kam überpünktlich und der Lokführer würde sich den Rest seines Lebens dafür hassen, denn eine Minute später hätte sich der tragische Unfall womöglich gar nicht ereignet. Jetzt war eine Frau tot, eine ohne Familie, mit einem traurigen Leben ohne jede Chance, das Ruder noch einmal herumzureißen.

Der Kirchmeister von Mühringen war vielbeschäftigt und der Finanzheini regierte weiter, bis schließlich...

...aber das ist eine andere Geschichte.

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Freitag, 26. Juli 2019
Lebenslang - ein Siebentagegedicht, das täglich wachsen wird
Sie tritt in das Babyzimmer
kurzatmig und mit weichen Knien.
Hat ihr Kind da gerad' geschrien?
Hört nur noch eigenes Gewimmer.

Das Kind ist fort, das Bettchen leer.
„Eine Verwechslung“, meint die Schwester.
„Den gleichen Schreck hatten wir gestern.“
Doch schließlich glaubt sie's selbst nicht mehr.


Es gibt sie doch, die irren Frauen
mit krankem Kinderwunsch und dann
schmieden sie einen perfiden Plan,
machen sich auf, ein Kind zu klauen.

Der Mutter bricht das Herz entwei,
die Schwester beginnt zu verstehen
hier ist was Furchtbares geschehen
sie geht und ruft die Polizei.


Verzweifelt, weiblich, kinderlos,
wo fängt man da mit suchen an?
Wer hat sowas schon mal getan?
Die Suche erscheint uferlos.

Gab es einen Familienstreit?
Die Mutter ist ja selbst ein Kind,
der Vater auch, Großeltern sind
vielleicht zum Äußersten bereit?


Die Suche hat ein Ende,
das Kind, es ist entdeckt.
Es war zwar gut versteckt,
im offenen Gelände.

Doch hat's der Hund gerochen,
der zufällig dort lief
und laut sein Frauchen rief.
Der Schädel war zerbrochen.

Die Mutter denkt ganz weit zurück,
wie sie empfing, was sie geboren,
voll Lust und Neugier, frei von Sorgen,
ihr erstes Mal, das Herz voll Glück.

Im Wald beim Camp war es geschehen,
nicht ungeplant und an Verhütung hatten sie gedacht.
Doch hatte das Kondom sich dann davongemacht.
Und Bruni war dabei und musste Schmiere stehen.


Vom Bruni spricht die Mutter bald zur Polizei.
Die suchen ihn gleich auf, nehmen ihn mit.
Sie setzen ihn vor einen Tisch ins grelle Licht.
„Nun pack mal aus, du Bursche, du warst doch dabei.
Hättest das Mädel gern auch mal für dich gehabt.
Doch nur dein Kumpel kam zum Zug und dann
liefert er den Beweis für das, was er getan.
Da hast du dir in deiner Wut das Balg geschnappt!“



Die Jugendreferentin zittert wie Aspik.
Das fing schon an, als die drei verschwunden waren.
Da hatte sie gehofft, das sei nichts, nur Gebahren,
nur Angebergewäsch vom ersten Fick.

Als dann der Bauch der Minderjährigen so rund, ihr Blick so bang,
begann ihr Hirn ein schlimmes Bild zu malen,
sie wollt' nicht 27 Jahre Alimente zahlen.
Nun muss sie zittern und das wohl ein Leben lang.

ENDE

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