Samstag, 7. Juli 2018
Bracciano - zweiteiliger Kurzkrimi - 1. Teil
Noch drei Monate, maximal ein halbes Jahr, hatte der Onkologe gesagt. Immerhin, das fünfte Lebensjahrzehnt hatte sie vollendet, jedoch zu viel mehr reichte es nun wohl nicht. Aber es gab da etwas, das sie vor dem Ende unbedingt noch erledigen musste: Die Sixtinische Kapelle und den Lago Bracciano ein letztes Mal bereisen. Einundzwanzig Jahre war es her, dass sie zum letzten Mal dort gewesen war. Früher war sie ständig durch Italien getourt. Einmal hatte sie sich sogar beim Centro Diaconale della Chiesa Waldese in Palermo vorgestellt, um dort ein Praktikum zu absolvieren, aber sie hatte sich das Prozedere viel zu einfach vorgestellt und so war es bei einem Kurzbesuch geblieben. Im damaligen Jahr hatte sie das Ritual vollzogen, zu dem man üblicherweise griff, wenn man nach Rom zurückkehren wollte, und 1997 hatte sie zu ihrem 30. Geburtstag die spanische Treppe gefegt und dann hatte sie es versäumt. Sie hatte einfach nicht daran gedacht, eine Münze über die Schulter in die Fontana di Trevi zu werfen, jenen berühmten Brunnen, in dem einst Anita Eckberg in dem Fellini-Film „La Dolce Vita“ gebadet hatte. Seitdem war sie nicht mehr nach Rom zurückgekehrt – und auch nicht zum Lago Bracciano, einem malerischen See vulkanischen Ursprungs dreißig Kilometer nördlich von Rom. Der Tag, den sie dort allein verbracht hatte, war schon ein schönes Erlebnis gewesen. Sie hatte in der Sonne gefaulenzt, sich mit einem herumlungernden Schäferhund angefreundet, mit jungen Männern geflirtet und in Ruhe die Eindrücke der lärmenden Großstadt verarbeitet. Wenn sie die Augen geschlossen hielt, hatten immer noch die halbnackten Männerkörper mit den definierten Muskeln aus Michelangelos Jüngstem Gericht vor ihren Augen getanzt. So etwas Beeindruckendes wie dieses sieben mal acht Meter große Wimmelbild in der Sixtinischen Kapelle hatte sie nie zuvor gesehen. Wenn man die Szenerie betrachtete, begannen die Figuren, sich zu bewegen, so lebendig hatte der Künstler sie auf den frischen Putz gebannt. Sie hatte sich damals geschworen, unbedingt an diesen Ort zurückzukehren, koste es, was es wolle, denn dort konnte man sich hemmungslos der Illusion hingeben, bereits im Himmel zu sein. Diese virilen Leiber mit den italienischen Gesichtern, egal in welche Richtung man blickte, das war das hetera-weibliche Pendant zum Paradies der Dschihadisten.
In Bracciano dagegen war – abgesehen von ein paar Einheimischen und einigen wenigen Touristen – nur pittoreske Natur um sie herum gewesen, die glatte, tiefblaue Oberfläche des Sees, umgeben von üppig belaubten Wäldern und Gärten, oberhalb der kleine Ort Bracciano, mit einer mittelalterlichen Burg, einem Bahnhof, einem Hotel, ein paar Restaurants und Geschäften, kaum mehr als ein Dorf, aber mit allem ausgestattet, was man benötigte.
Ein Jahr darauf war sie mit ihrem Liebsten über Ostern dort gewesen. Am Karfreitag hatte es gestürmt. Der See hatte Wellen geschlagen wie die Brandung der Ozeane und viele Italiener waren eigens mit dem Auto gekommen, um sich gegenseitig vor der ungewöhnlichen Kulisse zu fotografieren. Am Samstag hatten sie Gärten inspiziert, am Sonntag den Wald erkundet und am Montag ein nicht ganz ernst gemeintes Mittelalterfest auf der Burg besucht, und irgendwann hatte sie entdeckt, wo der herumlungernde Schäferhund vom Vorjahr seinen festen Wohnsitz hatte.
Der Pastore Tedesco war längst im Hundehimmel, aber der See lag sicher immer noch genauso klar und glänzend da, und noch war sie in der Verfassung, zu reisen. Zu dumm, dass die Krankheit sie auch ins soziale Elend geworfen hatte. Sie bezog zwar Krankengeld, aber da sie seit über zwanzig Jahren immer nur in Teilzeit gearbeitet hatte, konnte sie damit keine großen Sprünge machen. Sie brauchte dringend kurzfristig ein paar tausend Euro, denn sie konnte nicht wie in jungen Jahren im Zug schlafen ode rsich in Rom mit Schlafsack und Isomatte in einem Park ablegen. Sie konnte auch nicht günstig m Internet buchen, dazu hatte sie keine Zeit mehr.

Schon lange war er nicht mehr so erschöpft gewesen. Wie gut, dass er die Möglichkeit hatte, sich in zwei Jahren in den Ruhestand zu verabschieden. Am liebsten hätte er sofort aufgehört zu verarbeiten, aber die Abzüge waren dann doch zu arg und nach so einem langen, bewegten und anstrengenden Arbeitsleben seine restliche Zeit in Altersarmut zuzubringen, wäre geradezu schauderhaft. Außerdem wollte er sein Projekt mit der neuen Zweigstelle des Hospizes unbedingt zu Ende bringen, das betrachtete er als sein Lebenswerk, das Meisterstück seiner Ägide, dafür sollte kein frisch examinierter Jungspund die Lorbeeren einheimsen – und erst recht keine feministische Theologin mit Pagenkopf und Au-Pair-betreuten, verhaltensauffälligen Kindern. Doch jetzt würde er den Sonntag genießen, gut essen, ein Schläfchen machen und danach spazieren gehen – allerdings nicht hier, er würde ein wenig rausfahren, um nur keiner der zahlreichen Festgesellschaften seiner neu konifrmierten Schützlinge über den Weg zu laufen; und erst recht nicht der seit zwei Jahren an Krebs erkrankten Jugendreferentin. Er hatte sie nie wirklich ausstehen können, und trotz der Schwere ihres Schicksals machte es ihn aggressiv, wenn sie von Zeit zu Zeit wie zufällig durch den Stadtteil schweifte und wie ein Fleisch gewordener Vorwurf die Folgen der Chemo-Therapie zur Schau stellte. War es etwa seine Schuld, dass es sie getroffen hatte? Was konnte er dafür, dass er , obwohl er neun Jahre älter war als sie, noch immer kerngesund war, nichts Ernstes jedenfalls, nur ein bisschen schwach – und ein bisschen einsam, aber damit hatte er sich längst eingerichtet.
Er schob den Gedanken an die unliebsame Mitarbeiterin beiseite, genoss Knödel mit Sauerbraten und glitt danach zufrieden in den wohlverdienten Mittagsschlaf.

Sie brauchte mindestens dreitausend, besser fünftausend Euro, und ihr war klar, dass sie die nicht auf legalem Wege beschaffen konnte.
Für einen Tankstellenüberfall war sie viel zu hinfällig und kreative Betrüger-Tricks hatte sie auch nicht drauf.
Sie würde danach keinem von ihnen mehr ins Gesicht sehen können, aber das würde sie wohl auch nicht müssen.
An diesem Wochenende fanden zwei Konfirmationen statt, inklusive Rüstgottesdienste. Die Kollekten würden bis Montag im Safe lagern. Sie überschlug die Zahlen und kam auf etwa tausend Euro. Das reichte nicht, aber die Kita hatte am Sonntag einen umsatzstarken Flohmarkt veranstaltet. Da waren immer so um die zweitausend Mücken zusammengekommen, und auch dieses Geld wurde im Safe gelagert. Den Code hatte ihr die Bürokraft einmal in einem unachtsamen Moment verraten, als sie sagte: „Die Zahlenkombination vom Safe könnte ich mir auch nicht merken, wenn das nicht zufällig Winfrieds Geburtstag wäre.“
Winfrieds Geburtstag kannte sie auch: 7.1.58.
Sie würde dafür sorgen müssen, dass Anneke nicht in Verdacht geriet. Vielleicht sollte sie ein Testament verfassen, in dem sie sich schuldig bekannte. Drei Monate Knast würde Anneke schon überleben.
FORTSETZUNG FOLGT

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Samstag, 30. Juni 2018
Konfi-Camp-Vorlauf – Kurzkrimi, auch als Black Story geeignet*
Wenn sie gewusst hätte, dass Rike längst in den Startlöchern saß, hätte sie keine Schuld auf sich geladen.

Einige Tage zuvor:
Diesmal würde es klappen, ganz bestimmt. Mit fünfzehn war sie eh noch zu jung gewesen, mit sechzehn hatte sie die JuLeiCa-Schulung verpasst, mit siebzehn war sie krank gewesen und dann hatte es geheißen: Ja klar, du wärst ja eigentlich auch mal dran, aber wir haben hier gerade so eine harmonische Teamer-Clique, die wollen wir ungern auseinanderreißen. Sie hatte sich regelrecht betrogen gefühlt, aber dann hatte Jacky aus der Nachbargemeinde die geniale Idee gehabt, dass sie übers Orga-Team mitfahren könnte.
Die Mail an die Camp-Leitung hatte sie abgeschickt und jetzt wartete sie aufgeregt auf die Bestätigung. Sie würde jede Menge Spaß haben, tagsüber Sonne tanken, nachts heimlich im See baden und Jacky wäre die ganze Zeit dabei.
Jacky war schon immer cool drauf gewesen, hatte aber in jedem Jahr an Schönheit und Charme gewonnen. Es hatte immer an Gelegenheiten gefehlt, sich näher kennenzulernen und nun sah sie es vor sich wir überreife Kirschen, die direkt vor dem offenen Mund in der Sonne glänzten. Die warme Luft, die durchs offene Fenster hereinströmte, roch nach Verheißung, und ein Hochgefühl bemächtigte sich ihres ganzen Körpers.
Ping! Da war das langersehnte Geräusch, die Zusage aus dem Jugendreferat. Ihr Herz machte einen Satz und sie wechselte auf die geöffnete Seite ihres E-Mail-Accounts. Da stand:
Hallo Lena!
Toll, dass Du Dein Interesse bekundet hast, aber leider sind alle Mitarbeiter-Plätze belegt. Vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr.
Liebe Grüße, Jochen

Waaas? Das konnte doch nicht wahr sein! Die eingebildete Luca war doch auch noch ins Orga-Team gerutscht, obwohl sie schon dreimal mitgefahren war. Das Leben war so ungerecht! Es war wie eh und je das Gleiche. Immer hatten die Anderen den ganzen Spaß und sie musste in die Röhre gucken.

Und was, wenn sie es diesmal einfach nicht hinnähme? Wenn sie an entscheidender Stelle den Stecker zog, statt klaglos und störungsfrei Energie einzuspeisen? Jemand würde den Platz für sie räumen müssen und sie hatte schon entschieden, dass Luca ihre Wunschkandidatin war. Luca hatte alles, was Lena nicht hatte: ein Hingucker-Gesicht, eine Model-Figur, Pfirsichhaut und seidiges Haar, ein Einser-Abi, große Zukunftschancen, jede Menge Freunde und massenhaft Sex. Aber sie hatte noch etwas, das Lena nicht hatte: eine Erdnuss-Allergie. Und die war ganz besonders vertrackt, denn schon kleinste Spuren von Erdnüssen konnten einen lebensbedrohlichen, anaphylaktischen Schock auslösen. Lena fand ja, dass Luca sich mit ihrer Allergie wichtig tat und wie immer überall in den Mittelpunkt rückte. Dies sollte ihr nun zum Verhängnis werden.

Es war nicht schwierig, nach dem Mitarbeitendenkreis am Dienstag ging Luca immer joggen. Sie kam schon in ihrer unverschämt gut sitzenden Bodyshaper-Lauf-Montur zur Gruppe, um danach direkt durchzustarten. Auch so ein peinlicher Akt der Selbstinszenierung.

An diesem Abend wurde nicht nur Organisatorisches besprochen; es gab auch ein paar Team-Bildungs-Spiele. Beim langwierigen Blinden Hürdenlauf klagte Lena plötzlich über so ein Grummeln im Bauch, sie müsse mal verschwinden. Sie rannte eilig zum Klo und weil eine der Kabinen besetzt war, stürmte sie die freie Toilette und imitierte eklige Durchfall-Geräusche. Sie stöhnte und jammerte, und ihre Nachbarin suchte zügig das Weite. Sie würde alle anderen vor infernalischen Gerüchen warnen, und Lena öffnete ein Fenster, um den Mythos vom Flatterschiss aufrecht zu erhalten. Dann schlich sie vorsichtig in den Mitarbeiterraum und sah sich nach Lucas Laufrucksack um. Wie erwartet befand sich darin eine schicke Trinkflasche mit Lucas selbst gemixtem, isotonischen Getränk; auch so etwas , womit sie gerne angab. Sie schraubte den Verschluss ab und atmete tief durch. Wenn jetzt jemand hereinkäme, wäre sie geliefert. Nur die Ruhe bewahren und zügig arbeiten, umso größer die Chance, unentdeckt zu bleiben und Erfolg zu haben. Sie stellte die Flasche auf einen Stuhl und schraubte das Fläschchen mit dem Erdnussöl auf, das sie in der großräumigen Seitentasche ihrer Cargo-Hosen verstaut hatte. Ein paar Tropfen sollten genügen. Rasch verschloss sie das Öl und steckte es blitzschnell wieder ein, dann zog sie ein Fläschchen mit Emulgator hervor. Auch hiervon reichten ein paar Tropfen. So verhinderte sie, dass das Öl obenauf lag und sofort von Luca bemerkt worden wäre. Sie war gerade dabei, die Trinkflasche wieder sorgfältig zu verschließen, als sie Schritte auf dem Flur hörte. Ihr blieb keine zeit mehr, gründlich zu schütteln und so musste sie darauf setzen, dass das Getränk während des Laufens ausreichend gerüttelt und gemixt würde.
Sie ließ die Flasche zurück in Lucas Tasche gleiten und huschte hinter die Theke. Als die Tür geöffnet wurde, gab sie vor, gerade einen Becher Wasser geleert zu haben und sie hielt sich demonstrativ mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch.
„Oh, du Ärmste!“, rief Luca mit gespieltem Bedauern aus. Die Anteilnahme sollte ehrlich rüberkommen, aber Lena wusste, dass es Luca egal war, ob sie Bauchweh hatte. Sie würde sich eh von ihr fernhalten, um sich nicht anzustecken.
„Seit wann geht es dir denn so schlecht?“, fragte sie nach.
„So schlecht erst seit eben.“, log Lena. „Aber mir war heute Morgen nach dem Aufstehen leicht schwindlig. Ich hoffe, das ist kein Virus. Ich will ja niemanden anstecken.“
„Nee, das wär' doof.“, pflichtete Luca ihr bei und nestelte an ihrem Rucksack herum. Verdammt! Wollte sie etwa jetzt schon etwas trinken? Dann bekäme sie ja sofort Hilfe und die ganze Mühe wäre umsonst gewesen. Doch Luca suchte nur ein Taschentuch und ihre merkwürdigen Blicke in Lenas Richtung verrieten ihre Gedanken: - Besser noch einmal gründlich die Hände waschen, damit ich mir dieses Virus nicht einfange. -
- Wenn du wüsstest, Bitch – feixte Lena innerlich und bedauerte beinahe, dass sie ihr nachher nicht beim Sterben zusehen konnte.

In der Nacht bekam sie tatsächlich Durchfall. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Schuld schlug ihr auf die Därme. Fieber kam auch dazu. Als sie nach ein paar Tagen wieder zu Kräften kam, nahm sie sich die Nachrichten auf dem Smartphone vor. Die letzte Nachricht kam von Rike:
Kann mich gar nicht richtig freuen. Obwohl ich so gerne mit ins Konfi-Camp wollte, aber Lucas Tod, das ist wie ein großer Schatten, der jeden Sonnenstrahl verschluckt.

* Als Black Stories bekannt wurden Rätsel-Geschichten, in denen von einer/einem Eingeweihten ein einziger Satz in den Raum gestellt wird und die Mitspielenden müssen die Geschichte, die dahinter steckt, rekonstruieren, indem sie der/dem Eingeweihten Alternativfragen stellen, also solche, die ausschließlich mit Ja oder Nein beantwortet werden können.

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Freitag, 22. Juni 2018
Warte, bis es dunkel wird
„Die bescheuerte Alte habe ich erstmal eiskalt auflaufen lassen. Einfach so getan, als wenn sie nicht da wäre, ist sie fast an die Decke gegangen. Erst tut sie immer so best friends-mäßig und wenn sie merkt, dass sie damit nicht landen kann, macht sie auf Gangster-Rapper, aber voll schlecht, echt nur peinlich und dann brüllt sie irgendwann nur noch rum. Aber was will sie machen? Die kann mir ja nichts.“

Sie hatte es gehört, rein zufällig, weil sie eben bei der Toilettenkontrolle ein paar formidable Bremsspuren entdeckt hatte, bei den Jungs, wo sonst. Die schrubbte gerade die Keramik, als die unflexiblen Stehpisser von Morgen sich am Urinal versammelten und ihre hirn- und respektlosen Väter nachäfften.
Von wegen, ich kann dir nichts – dachte sie. Dir zeig ich schon , wo der Hammer hängt und zwar heute noch. Warte, bis es dunkel wird.

Sie wusste, dass er nach dem Konfi-Unterricht zum Fußballtraining ging und dass das zwei Stunden dauerte. Sie wusste wo er wohnte und dass sein Weg mit dem Rad durch den stillen Park führte, der schon bei Tageslicht ziemlich verwaist da lag. Es war wie bei einem Nachtgeländespiel: Keine scharfen Geschosse, sie plante nur einen frontalen Hieb mit der Pool-Nudel.

Scheiß Trainer – dachte er. Ich könnte Stürmer, wenn die Ratte mich nur nicht die ganze Zeit so anglotzen würde, als wenn er förmlich darauf wartet, dass ich irgendwas falsch mache. Marvin grätscht dauernd rein, Lukas pennt fast ein auf dem Weg zum Tor und Sebastian haut die ganze Zeit miese Sprüche raus, aber die kriegen nie Lack. Nee, ich muss ja Vorbild sein, schließlich ist Super-Nobby mein Dad, muss ich ja auch super sein. Und wenn ich beim nächsten Spiel wieder nicht aufgestellt werde, ist die neue Playstation gestrichen, verdammt. Und dann nervt Mama noch, weil ich meinen Englisch-Vokabeltest verhauen habe und beide machen Stress, dass ich aufräumen soll und nie lässt mich einer in Ruhe! Aber selber hängen sie den ganzen Abend vor der Glotze und gucken Talk-Shows, Serien und Dokus. Ich geh gleich in meine Bude und schließe ab. Die sollen sich alle mal doppelt ficken. Was...?!

Sie hat ihn voll erwischt und er ist zu Boden gegangen. Einen Moment ist es still, dann hört sie ihn wimmern. Hat sich vielleicht den Arm gebrochen, soll ja vorkommen bei Stürzen, sogar bei Jugendlichen.
„Wusste gar nicht, dass du so 'ne Muschi bist.“, raunzt sie.
„Was?...Wer?...“, stammelt er nur.
„Willst du etwa behaupten, du weißt nicht, wer dich hier gerade vom Fahrrad geholt hat?“, fragt sie angriffslustig.
„Nee? Wieso überhaupt? Was soll das?“
„Ja, das ist schlau von dir, denn wenn du zugibst, dass du mich erkannt hast, könnte ich ja auf die Idee kommen, sonst was mit dir anzustellen. Aber erzähl ruhig Mama und Papa, wer dir gerade eine verapsst hast. Das glauben die zu Hause dir sowieso nicht.“
Er zuckt zusammen und verzieht das Gesicht. „Aua, mein Arm.“
„Aua, aua“, äfft sie ihn nach. „Der arme Arm. Soll ich ihn dir noch einmal brechen? Dann hast du Grund zu Wimmern.“
„Aber was hab' ich denn gemacht?“
„Gar nichts, gar nichts du Unschuldslamm. Du warst doch höchstens ein bisschen respektlos, ein bisschen zu laut, ein bisschen zu albern, ein bisschen zu nervtötend, du weißt schon. Aber das Problem ist, von allem ein bisschen, das ist irgendwann entschieden zu viel. Wer meine Nerven zu sehr strapaziert, der löst ein Gewitter in meinem Kopf aus und das entlädt sich dann in donnernden Rückschlägen, da kann ich gar nichts machen, das kommt dann einfach so. Ich kann dir nicht einmal sagen, was ich als nächstes tun werde. Vielleicht zupfe ich dir nur ein paar Haare aus, vielleicht aber auch einen Zahn, wenn du verstehst, was ich meine.“
Sein Überlebenswille gewann die Oberhand über seine Angst. Wer auch immer ihn hier fertig machen wollte, er müsste ihn zuerst fertigmachen. Doch er hatte die Rechnung ohne seine Gegnerin gemacht, denn die kannte ihn ja. Bevor er seinen Plan zu Ende denken konnte, hatte sie seine Beine zusammengetaped und ihm danach den Mund mit Gafferband verschlossen. Trotz der Dunkelheit konnte sie die Panik in seinen Augen sehen. Sicher hatte er sie längst erkannt und verstanden, worum es ging. Sie würde ihn so lange auf die Folter spannen, biss er sich in die Hosen machte, dann würde sie ihn laufen lassen.
Er begann zu weinen. Zuerst kullerten nur ein paar Tränen, dann drangen Schluchzer durch den verklebten Mund. Sie saß auf einer Bank und beobachtete ihn schweigend. Sie ließ ihn schmoren, sollte er ruhig ein bisschen nachdenken.
Als ihr langweilig wurde, sah sie nach, d.h., sie näherte sich und roch schon, dass ihre Rechnung aufgegangen war. Zeit ihn zu erlösen, aber nicht, ohne ihm reichlich Stoff zum Nachdenken mit auf den Weg zu geben.
„Vielleicht hast du jetzt verstanden, dass man, egal was man anderen antut, irgendwann alles zurück kriegt, manchmal auch doppelt und dreifach.“
Sie löste die Fesseln um seine Knöchel und zog ihn an seinem gesunden Arm auf die Füße, dann riß sie mit einem Ruck das Tape von seinen Lippen. Er schrie auf.
„Sei nicht so eine Muschi.“, höhnte sie und verschwand im Gebüsch.

Er schlich nach Hause. Die würden ihm das wirklich nicht glauben. Er hatte keine Ahnung, was er erzählen würde, nur dass der Zorn in ihm gerade ins Unermessliche gewachsen war.

Sie war ausgezogen, um Seelen zu retten. Sie wusste es noch nicht, aber an diesem Abend hatte sie ihre Seele verloren.

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Freitag, 15. Juni 2018
Allerleirauh – scheinbar nur ein Märchen
Es war einmal ein König. Also nicht der König eines großen Reiches, mehr so ein Herr König und der lebte auch in keinem Schloss, nur in einem schmucken Einfamilienhaus. Er hatte eine schöne Frau mit langen, goldblonden Haaren und eine ebenso hübsche, heranwachsende Tochter, die das goldblonde Haar von ihrer Mutter geerbt hatte.

Zur Konfirmation hatte die Königstochter doch tatsächlich so etwas wie eine Aussteuer bekommen. Ihre Großmutter hatte hochwertige, leinene Geschirrtücher bestickt – eins mit einem Spinnrad, damit solle sie die feinen Fäden spinnen, mit denen sie ihren späteren Mann einfinge, eins mit einem Haspel, damit solle sie die Fäden aufwickeln und den Mann ganz nah an sich heranziehen und schließlich eins mit einem Ring, der ihre Initialen umschloss und den Platz für ein weiteres Paar Anfangsbuchstaben bereit hielt, damit solle sie ihren Auserwählten endgültig an sich binden. Die Tücher bewahrte sie weit hinten im Kleiderschrank auf, wo sie auf den Tag warteten, an dem sie ihre magische Wirkung entfalten sollten.
Alles war schön im Hause König bis, nun ja, bis eines furchtbaren Tages die Frau des Königs starb. Eigentlich starb sie nicht wirklich und es geschah auch nicht an einem einzigen Tag, es geschah mehr so allmählich, Schritt für Schritt, dass ihre Gefühle für ihren Ehemann erkalteten und sie ihr Herz an andere Dinge hängte als an die eheliche Liebe.
Der König war untröstlich und ertränkte seinen Kummer in allerlei gehaltvollen Getränken, doch wenn er am Morgen erwachte, war der Schmerz wieder da und schlimmer als zuvor. Er war damals so stolz gewesen auf sein gertenschlankes Mädchen mit den goldblonden Seidenhaaren und hatte geschworen, nie wieder eine andere zu lieben. Er wollte auch jetzt keine andere, doch seine Gattin erstarrte immer mehr zu Stein.
Da sah er eines schönen Sommertages seinem einzigen Kind, der heranwachsenden Königstochter beim Yoga-Programm im Garten zu und von Stund an wurde er nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht: Mit der eigenen Tochter noch einmal von vorn anzufangen, mit der einzigen, die seiner frostigen Ehefrau das Wasser reichen konnte. Er umwarb sie, schmeichelte ihr, machte ihr Geschenke und liebkoste sie bei zahlreichen Gelegenheiten. Er kaufte ihr wunderschöne Kleider, die sie sich selbst ausgesucht hatte: eines aus leichter Baumwolle so goldgelb wie Sonnenblumen, eines aus mondsilbrig glänzendem, sanft fließenden Satin und ein enganliegendes, dunkelblaues Etuikleid für winterliche, festliche Anlässe, durch und durch mit bunt glitzerndem Lurex durchzogen wie ein funkelnder Sternenhimmel. Die Königstochter, zunächst durchaus nicht befremdet sondern eher hocherfreut über die besondere Zuwendung durch den Vater fühlte sich mit der Zeit immer unwohler, spürte sie doch, dass da etwas nicht stimmte und so stahl sie sich davon, nicht in einer einzigen Nacht, sondern durch beständiges Fernbleiben. Sie suchte Zuflucht in der Kirchengemeinde, d.h., zuerst hatte sie täglich so lange wie möglich im Wald herumgelungert, aber dann hatte der Pfarrer sie kurz nach der Konfirmation angesprochen, ob sie nicht Mitarbeiterin werden wollte und hier sah sie ihre Chance, den Greifarmen des entfesselten Vaters auch in der kalten Jahreszeit zu entkommen. Um ihre Schönheit zu verbergen, legte sie sich eine Sammlung unkombinierbarer Kleidungsstücke zu, die sie so unmöglich aussehen ließen, dass man sie in der Kirchengemeinde nur noch „Allerleirauh“ nannte, wie die Königstochter im Märchen, die einen Mantel aus hunderten verschiedenen Tierfellen trug.
Die Kantorin nahm sie unter ihre Fittiche, sie hatte so eine fürsorgliche Ader, vielleicht spielten dabei auch dunklere Motive eine Rolle, aber diejenigen, die das dachten, behielten es lieber für sich, man wusste ja nichts, nicht einmal was das für eine seltsame Ahnung war, die man da spürte.
Allerleirauh hatte längst ihren Liebsten erwählt. Als nun das gemeindliche Osterfrühstück nahte und die Kantorin sich beklagte, dass sie immer dieses englische Teebrot backen müsse, das der Pfarrer so gern esse, bot Allerleirauh sich an, ihr diese Arbeit abzunehmen. Sie ließ sich das Rezept geben und die Kantorin wies sie an, sich unbedingt akribisch daran zu halten, sonst sei der Pfarrer am Ende beleidigt, dass sie ihm diesmal nicht sein Brot gebacken hatte. Eigentlich befürchtete die Kantorin nur, es könne besser schmecken als das ihre und dem Pfarrer könne auffallen, dass er diese Köstlichkeit einer anderen und vor allem reizvollerin Bäckerin zu verdanken hatte.
Allerleirauh hielt sich an das Rezept, zumindest fast. Sie nahm nur Buttermilch anstelle von Milch, das machte das Brot saftiger. Sie zog das leichte, sonnengelbe Baumwollkleid an, das ihre schmale Taille betonte und ihre schlanken Knie umspielte. Auf dem Weg zur Kirche schlug sie das frische Brot in das Geschirrtuch mit dem Spinnrad ein und dem Pfarrer schmeckte es diesmal außerordentlich gut. Später, als er gemeinsam mit dem Mädchen in der Küche stand und die Teller abtrocknete, erklärte er: „Das Brot hat diesmal viel saftiger geschmeckt als sonst. Ich muss die Kantorin doch einmal fragen, was sie an dem Rezept verändert hat.“ Das Mädchen verriet nichts und freute sich heimlich. Am meisten freute sie sich jedoch, dass der Pfarrer sie die ganze Zeit wohlwollend zur Kenntnis nahm und bevor sie nach Hause ging, sagte er: „Dein sonnengelbes Kleid, das strahlt ja wie der Frühling!“
Als sie nach dem Geschirrtuch mit dem Spinnrad griff, schien der Pfarrer plötzlich zu begreifen, wer das Brot gebacken hatte, sagte aber nichts dazu.

Später stellte die Kantorin sie zur Rede: „Ich hatte Dir doch gesagt, du sollst es genauso backen, wie es im Rezept steht. Was hast du da hinein getan?“
„Nichts anderes.“, log das Mädchen. „Vielleicht lag es am Backofen.“
„Schon möglich.“ erwiderte die Kantorin. „Beim Sommerfest backe ich es wieder selbst.“

Das Sommerfest kam, doch die Kantorin hatte wieder keine Zeit zum Backen. Ihr Keller war bei einem Wolkenbruch voller Wasser gelaufen und so bat sie Allerleirauh zum zweiten Mal, das Teebrot zu backen und wenn es in ihrem Backofen saftiger würde, dann sei das ja keine schlechte Sache.
Diesmal ersetzte das Mädchen nicht nur die Milch durch Buttermilch sondern knetete Butter unter das Mehl, bevor sie den Teig ansetzte. Für das Sommerfest wählte sie das silbergraue, weich fließende Satinkleid, das ihre Haut streichelte und ihre Sinnlichkeit betonte. Das Brot wickelte sie diesmal in das Leinentuch mit der Haspel-Applikation. Beim Händeschütteln nach dem Gottesdienst glitten die Blicke des Pfarrers über ihren ganzen Körper. Als er sich später etwas Brot vom Buffet holte und es kostete, staunte er: „Das ist nicht nur wieder so saftig wie beim letzten Mal, das schmeckt auch viel aromatischer. Hat die Kantorin ein anderes Mehl verwendet oder hat am Ende jemand Anderes dieses köstliche Brot gebacken?“
Es entging ihm nicht, dass es wieder Allerleirauh war, die das Tuch an sich nahm, in das das Brot eingeschlagen gewesen war.
Am Montag in der Chorprobe nahm die Kantorin sich Allerleirauh zur Brust: „Diesmal hast Du ganz bestimmt etwas Anderes hinein getan. Der Herr Pfarrer schöpft schon Verdacht.“
„Nein“, log das Mädchen. „Vielleicht lag es an der hohen Luftfeuchtigkeit.“
Die Kantorin gab sich zufrieden und erklärte: „Zur Weihnachtsfeier backe ich es jedenfalls wieder.“

Als die Adventszeit zu Ende ging und die Weihnachtsfeier näher kam, erwischte die Kantorin ein hartnäckiger Magen-Darm-Infekt. Und so buk Allerleirauh zum dritten Mal das köstliche Teebrot. Diesmal gab sie neben Buttermilch und Butter auch ein wenig Zucker hinzu, mit der Süße wollte sie sich in sein Herz stehlen. Das fertige Brot schlug sie ein in das Leinentuch mit dem Ring, der ihre Initialen umrahmte. Sie trug das dunkelblaue Etuikleid, dessen Lurexfäden so glitzerten wie ein funkelnder Sternenhimmel. Das passte zum festlichen Anlass und ganz besonders zu Weihnachten.
Der Pfarrer lobte das Brot in höchsten Tönen, diese Süße, sei ihm nie zuvor aufgefallen. Und er saß den ganzen Abend neben ihr, ihre Beine berührten sich unter dem Tisch und sie neckten sich und scherzten miteinander, so dass die Wangen des Mädchen zu glühen begannen und der Pfarrer seine helle Freude daran hatte.
Das Brot wurde diesmal nicht alle, zu viel köstliches Gebäck stand auf der Tafel und als es ans Aufräumen ging, bemerkte der Pfarrer: „Das Tuch, in dem das Brot eingewickelt ist, trägt ja Deine Initialen, Alexis!“
„Das ist ja auch mein Tuch.“, erwiderte Allerleirauh.
„Dann hast Du wohl auch dieses köstliche Brot diesmal gebacken?“
„Ja.“, antwortete das Mädchen. „Schon zum dritten Mal.“
„Wir sollten es unbedingt aufessen, bevor es trocken wird, dafür ist es zu schade. Was hältst du davon, es mal in Verbindung mit Rotwein zu probieren?“
„Wir haben hier keinen Rotwein.“
„Ich habe welchen im Keller. Komm, ich lad' dich ein.“
Und die Königstochter schwebte wie auf Wolken ins Pfarrhaus, die Pfarrersgattin war mit den Kindern zu ihrer kranken Mutter gereist und so kam es, wie es kommen musste: erst Brot und Wein und danach das Blutopfer, er schrie und sie weinte und der Fleck auf dem weißen Laken war riesig und sie konnte sich gar nicht erklären, was da gerade passiert war und warum es gerade ihr passiert war.
„Hör zu, Alexis.“, sagte er, als er wieder zu Atem kam. „Das, was hier gerade mit uns beiden geschehen ist, das war zwar wunderschön, aber davon darf keiner erfahren, wirklich niemand, sonst darf ich nie wieder als Pfarrer arbeiten. Das verstehst du doch, oder?“
Alexis sprach nicht mehr. Sie verstummte wie Allerleirauh, nachdem sie vom Vater geflohen war. Und der Pfarrer bekam es mit der Angst zu tun. Früher oder später würde jemandem auffallen, wie verstört das Mädchen war. Früher oder später würde irgendein Gesprächstherapeut die Wahrheit aus ihr herausholen und dann wäre sein Leben zu Ende. Wozu dieses Opfer? Das Mädchen war nicht stark genug gewesen, das tat ihm leid, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie würde es in diesem Leben ohnehin nicht mehr schaffen. Aber er, er hatte noch so viel vor...
Allerleirauhs Leben endete im Wald, dort wo der Pfarrer sie einst aufgelesen hatte. Er ging zur Polizei, nachdem er die vor zwölf Stunden Verstorbene vom Ast eines Baumes herabhängend gefunden hatte, zufällig beim allmorgendlichen Spaziergang. Für die Todeszeit hatte er ein Alibi: Die Kantorin war bei ihm gewesen, um das Zusammenspiel von Teebrot und Rotwein zu erproben.

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