Montag, 23. Juli 2018
Freitag, der Dreizehnte – ein Konfi-Camp-Krimi in 8 Teilen – 4. Teil
Der Montag Vormittag stand ganz im Zeichen des letzten Abendmahls. Der Einstieg erfolgte mit einem Speisungs-Spiel, bei dem die Gruppe eine Packung Kekse und eine Flasche Saft miteinander teilen musste ohne zu sprechen. Das gelang erstaunlich gut im Gegensatz zu den folgenden Elementen, an denen die Konfis sich nur schwerfällig beteiligten, weil sie am dritten Unterrichtstag einfach keine Lust mehr auf konzentriertes Arbeiten hatten. Silvia bestand trotzdem darauf, zum Abschluss ein gemeinsames Abendmahl zu feiern, wenn man sich gerade damit befasst habe, auch wenn am Donnerstag ein weiteres Abendmahl mit allen gemeinsam anstand. Als Kilian das Brot mit den Worten „Das Brot des Lebens für Dich“ an Fritjof weiterreichte und dabei in seine unbewegten, kalten Fischaugen blickte, fühlte er sich an die Regungslosigkeit seines Blickes erinnert, die ihm schon am Sonntag bei der Tauferinnerung aufgefallen war. Alle hatten beim Zusprechen des Segens bewegt reagiert, die Liebe gespürt, die in dieser Geste lag, nur bei Fritjof war keine Resonanz gekommen und Kilian fragte sich, ob dieser Junge immun gegen positive Signale war oder ob er, Kilian so große Vorbehalte gegen ihn hatte, dass er seine Abscheu einfach nicht verbergen konnte und dass Fritjof das spürte.
Nach der Unterrichtseinheit sprach er Silvia darauf an. Sie erklärte: „Ich glaube nicht, dass das etwas mit dir zu tun hat, Kilian. Ich erreiche diesen Jungen auch nicht. Ich spüre nur, dass er jede Gelegenheit nutzt, die sich ihm bietet, alles was schön ist und gut läuft, zu boykottieren. Er steckt so voller Wut und Resignation, da läuft irgendetwas schief in seinem Elternhaus und ich weiß nicht was. Vielleicht wird er verprügelt, vielleicht auch einfach nur ständig von seiner Eltern erpresst oder unter Leistungsdruck gesetzt. Die sind beide sehr ehrgeizig und erfolgreich. Ich würde ihn gern aus seiner Dunkelheit herausholen, aber ich traue ihm auch nicht für fünf Pfennig über den Weg.“

Silvias Misstrauen war berechtigt. Beim Nachtgespräch in den Zimmern überschritt Fritjof eine Grenze: „Schick mir doch die Nadine noch zum Gute-Nacht-Kuss vorbei.“, forderte er Kilian mit einem schiefen Grinsen auf. „Kann sie auch gleich noch einen Blow-Job erledigen.“
Jetzt blieb Kilian wirklich die Spucke weg. Wie dreist war dieses Rotzblag eigentlich? Nadine opferte genau wie er ehrenamtlich ihre Ferien, um den Kids eine tolle Woche zu bereiten und er führte sich auf wie ein Menschenhändler. Er blickte Fritjof scharf an und sagte laut und deutlich: „Solche Sprüche gehen gar nicht, versuch dir das zu merken! Nadine ist Mitarbeiterin und du hast zu tun, was sie dir sagt, aber bestimmt nicht das Recht, so einen perversen Mist von ihr zu verlangen. Wenn du noch einmal so etwas bringst, machst du den Abflug, ist das klar?“
„Mann, jetzt hab' dich mal nicht so. War doch nur Spaß.“
„So was ist kein Spaß. Das ist Frauen verachtend. Also hör auf damit.“

Noch immer kreuzwütend stapfte Kilian zur Abschlussbesprechung. Zum Glück stand am Dienstag eine Tagesfahrt an, um dem Lagerkoller vorzubeugen. Dort würde Firtjof aber auch stundenlang unbeaufsichtigt durch die Stadt ziehen können, wenn auch in Begleitung seiner Altersgenossen. Kilian hatte zwar keine Vorstellung, welchen Schaden der Störenfried dort anrichten könnte, aber er befürchtete eine unangenehme Überraschung.

Fortsetzung folgt morgen.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Montag, 23. Juli 2018
Freitag, der Dreizehnte – ein Konfi-Camp-Krimi in 8 Teilen – 3. Teil
Als Kilian wieder zu sich kam, blickte er in die freundlichen Gesichter des Arztes und des Leiters der DLRG. „Alles gut.“, beruhigte ihn der Rettungsschwimmer. „Du bist in den Schlingpflanzen hängengeblieben und in Panik geraten. Normalerweise reißen die einfach ab, wenn du weiter schwimmst. Carsten checkt dich jetzt erst einmal durch, dann kannst du in dein Zimmer gehen und dich ausruhen.“
Kilian nahm alles wahr, als befände er sich im Inneren einer Seifenblase. Wenn Schlingpflanzen normalerweise einfach abrissen, warum hatten sie es dann in seinem Fall nicht getan?

Auf das Mittagessen verzichtete er, obwohl es Nudeln mit Hackfleischsauce gab, aber er war viel zu erschöpft, um in den Speisesaal zu gehen. Aus den „Connecting Games“ klinkte er sich ebenfalls aus; 20 Konfis beim Aufsuchen kooperativer Spielstationen zu begleiten, das konnte er seiner Pfarrerin auch allein zumuten und Silvia fügte sich ohne zu Murren in ihr Schicksal. Am Abend konnte er seine Mannschaft schon wieder beim MacAttack anfeuern, einer Mischung aus Brennball und Fußball, die während des Konfi-Camps als Turnier gespielt wurde.
Der restliche Samstag plätscherte entspannt dahin. Er hielt Ausschau nach Lucie, die sich schon während der JuLeiCa-Schulung in seinem Kopf festgesetzt hatte, mit ihren seidigen blonden Haaren und den unfassbar leuchtenden, blauen Augen. Er entdeckte sie schließlich in der Cocktail-Lounge, wo sie sich einen Ipanema genehmigte. Schon winkte er ihr von weitem zu und weil sie den Gruß nur mit mäßiger Begeisterung erwiderte, schlurfte er weiter zum Strand, setzte sich auf den Steg und sah den Kanufahrern zu.
Mit dem Abendabschluss war er diesmal dran. Die Jugendlichen hörten ihm kaum zu, und er fragte sich, ob es sein Fehler war oder ob sie in diesem Jahr einfach zu viele Arschlochkinder dabei hatten.
Die Durchsetzung der Nachtruhe gestaltete sich in der zweiten Nacht auch etwas schwieriger; trotz des wüstenartigen, nächtlichen Kälteeinbruchs huschten die Jungs immer wieder aus ihren Hütten, um in die Mädchenzimmer zu schlüpfen. Sogar Fritjof war dabei. Welches Mädchen wollte der wohl um den Finger wickeln mit seinem Thunfisch-Gesicht und dem Empathie-freien Blick?

Auch Der Sonntag Morgen startete mit strahlendem Sonnenschein und das Bibeltheater am See, in dem die Taufe Jesu inszeniert wurde, löste bei den Zuschauenden eine beeindruckende Stille aus. Johannes der Täufer erging sich in einer formidablen Publikumsbeschimpfung, hochpolitisch und brandaktuell aber Teenager-gerecht. Es ging um Schöpfungsverantwortung, Rücksicht, die Bereitschaft zu teilen und so weiter. Kilian hegte jedoch berechtigte Zweifel, dass die Mehrheit der Jugendlichen aus dieser Erfahrung irgendwelche Konsequenzen zog. Aber auch, wenn es nur zehn waren, war das doch besser als nichts. Fritjof gehörte sicher nicht zu den zehn Geläuterten. Er war vermutlich ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht.

Nach dem Mittagessen herrschte große Aufregung in Camp 3, wo Kilians Gruppe untergebracht war. Eins der Jungen-Zimmer war durchwühlt worden, die Smartphones waren an den irrsinnigsten Stellen im Zimmer versteckt worden und aus einem Portemonnaie fehlten fünf Euro. Ein Handy war komplett unauffindbar. Auch Fritjof war betroffen. - Schwacher Versuch, sich ein glaubwürdiges Alibi zu verschaffen – dachte Kilian grimmig. Fritjofs Bemühen, einen unschuldigen Blick aufzusetzen, war nicht direkt von Erfolg gekrönt, aber beweisen konnte man ihm natürlich nichts vielleicht tat Kilian ihm auch Unrecht.
Die Dreizehnjährigen verfielen augenblicklich in Ermittlungsfieber, phantasierten von organisierten Verbrechern, die Camps ausraubten, aber auch von rachsüchtigen Konfis aus der Nachbargemeinde, es hatte immerhin schon erste unschöne Auseinandersetzungen gegeben. Nur dass es einer von ihnen war, hielten sie für ausgeschlossen.
Während der nächtlichen Reflexion im Team waren sich alle einig, dass hier ein Insider am Werk gewesen war, denn Diebe, die auf Beute aus waren, hätten einfach alles mitgenommen. Hier wollte jemand Unruhe stiften, Zwietracht säen, die Gemeinschaft zerstören. Und alle hatten sie den gleichen Verdacht – aber auch nichts in der Hand.

Fortsetzung folgt morgen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Freitag, der Dreizehnte – ein Konfi-Camp-Krimi in 8 Teilen – 2. Teil
Die erste Showtime war etwas verhalten. Die Moderatoren und die Band gaben alles, aber der Funke sprang nur bei wenigen über. Die Konfis befanden sich noch in Schockstarre wegen der abgerockten Unterkünfte mit sandigen Fußböden und lumpigen Gardinen. Die Teamer waren bis eben noch immer panisch auf dem Gelände hin und her gerannt, weil so vieles bei der Ankunft bedacht werden musste und alle sich erst einmal orientieren mussten, wo sich eigentlich was auf dem Gelände befand. Und auch jetzt konnten Pfarrer, Gemeindepädagogen und ehrenamtlich Mitarbeitende sich nicht entspannt zurücklehnen, weil es erstens nichts zum Anlehnen gab und zweitens noch der Abendabschluss in der Konfi-Gruppe und die Durchsetzung der ersten Nachtruhe bevorstanden. Kilian betete stumm, dass seine bösen Vorahnungen nur Hirngespinste blieben.
Ein plötzlich auftauchendes, helles Licht über den Köpfen ließ ihn zusammenzucken. War das ein herabsinkendes Flugzeug? Oder eine Drohne, um sie auszuspähen? Doch das Bühnenprogramm verlief reibungslos und die Zuschauenden schwärmten aus in die Unterrichtszelte zum Abendabschluss.

Silvia hieß alle willkommen, lud zu einer Traumreise durch den Tag ein, erzählte etwas vom Anfang, dass es nun eine Woche lang um das Leben Jesu gehe, das ja wie jedes Leben mit der Geburt beginne und dass sie, die Konfis, heute ins Camp hineingeraten seien wie Neugeborene in die ihnen gänzlich unbekannte Welt. Das Leben Jesu und was Christen daraus gelernt haben, sollte ihnen Richtschnur für die kommende Woche sein.
- Dein Wort in Gottes Ohr. - dachte Kilian, begleitete ein ruhiges Lied auf der Gitarre und empfing den Abendsegen.

Um 23.00 Uhr lagen alle in den Betten, es war erstaunlich ruhig und während der Team-Besprechung konnten sie in den klaren Sternenhimmel blicken. Plötzlich war es 24.00 Uhr. Freitag, der Dreizehnte war vergangen, ohne dass sich etwas Furchtbares ereignet hatte. Beruhigt ging Kilian Zähne putzen und schlafen.

Gegen 7.00 Uhr klingelte der Wecker. Er fühlte sich zerstört, hatte in der Nacht Alpträume gehabt, doch als er durch den sonnendurchfluteten Wald zum Waschhaus torkelte, erwachten seine Lebensgeister. Dies würde eine tolle Woche. Spätestens in der Unterrichtseinheit kamen ihm jedoch berechtigte Zweifel. Immer, wenn er etwas in die Runde fragte, auf Wortmeldungen wartete und in Fritjofs kalte Fischaugen blickte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er wusste nicht genau warum, aber der Blick dieses Jungen ließ ihn frösteln, obwohl ihm doch eigentlich wegen der starken Hitze der Schweiß über die Rippen lief.

Noch vor dem Mittagessen suchte er die reinigende Kraft des Wassers, sprang in den See und schwamm bis zum anderen Ufer. In Rückenlage konnte er in den strahlend blauen Himmel blicken und das Wasser verschloss seine Ohren und blendete das Kreischen und Planschen am sich kontinuierlich entfernenden Strand aus. Allerdings verlor er beim Rückenschwimmen gern auch einmal die Orientierung und so kam er vom Kurs ab und wunderte sich, als er in die Bauchlage wechselte, dass das gegenüberliegende Ufer kaum näher gekommen war. Plötzlich packte ihn etwas am Fuß und hielt ihn fest. Er hielt dagegen, aber er kam nicht los. Die Angst explodierte unterhalb seines Brustbeins und schoss von da bis in die Finger- und Zehenspitzen. Sein Schädel drohte zu platzen. Er wollte um Hilfe schreien, aber er brauchte den Sauerstoff zum Überleben. Panisch schlug er mit den Armen um sich, um den Kopf über Wasser zu halten.
Fortsetzung folgt noch heute oder morgen.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Samstag, 21. Juli 2018
Freitag, der Dreizehnte – ein Konfi-Camp-Krimi in 8 Teilen – 1. Teil
Freitag, der Dreizehnte, was für ein dämlicher Aberglaube. Noch nie war ihm an einem Freitag, den Dreizehnten etwas Schlimmes passiert, keine Klausur verhauen, kein noch so kleiner Unfall, nicht einmal ein nennenswertes Missgeschick. Trotzdem war da dieses mulmige Gefühl, als Kilian in den Bus stieg. Er hatte sich seit einem Dreivierteljahr darauf gefreut, endlich als Teamer ins Konfi-Camp mitfahren zu dürfen, aber jetzt hatte er Angst. Es gab Busunglücke, Amokläufe, Naturkatastrophen, was da alles passieren konnte! Aber er wischte die düsteren Gedanken beiseite. Unfälle gab es täglich und auch Amokläufe und Naturkatastrophen fanden selten an einem Freitag, den Dreizehnten statt.

Die Busfahrt war lang, die Konfis laut und undiszipliniert. Na, das würde etwas geben, aber vielleicht wären sie am Ende die Allerbesten, weil sie einfach Lust hatten, zu feiern. Nach sechseinhalb Stunden Busfahrt erreichten sie ihr Ziel. Als es die schnurgerade Straße durch die Nadelbaum-Monokultur entlang ging, zog sein Magen sich doch zusammen. Er fühlte sich, als würde er ins Arbeitslager gekarrt, aus dem es kein Entkommen gab. Doch als sie auf dem Parkplatz des Camps halt machten, wurde die Umgebung freundlicher, der Wald wirtlicher und die zum Teil fröhlich gestrichenen Hütten versetzten ihn augenblicklich in Urlaubsstimmung. Die Koffer wurden entladen, die spartanischen Zimmer bezogen und die Tatsache, dass alles „a little bit fucked up“ wirkte, brachte die Konfis zwar augenblicklich zum Meutern, ihn selbst überkam jedoch ein Gefühl von Abenteuer und Verheißung.

Nach dem spartanischen Abendessen im riesigen Speisesaal trat er zum ersten Mal an die Ufer des Frauensees und schon rutschte sein Herz in die Hose. Freitag, der Dreizehnte. Hier sah es genauso aus wie in dem gleichnamigen Horrorfilm. Nun war zum Glück kein Mitglied des Aufbauteams dahin gemeuchelt worden, aber verdammte Axt, hatten die den Film hier gedreht? Es war schaurig und der Tag war ja noch nicht vorbei. Um 21.30 Uhr startete die Showtime auf der Seebühne. Mehr als 500 Konfis und 150 Mitarbeitende, so viele Christen auf einen Haufen, was, wenn da jemand auf dumme Gedanken kam? Als die Band aufspielte und die Massen aus allen drei Camps zur Tribüne pilgerten, wusste er zwar nicht, was ihn erwartete, aber er ahnte, dass dieses fröhliche Vorhaben kein gutes Ende nehmen würde.

Fortsetzung folgt morgen

... link (2 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 12. Juli 2018
Bracciano - zweiteiliger Kurzkrimi - 2. Teil
Als er erwachte irritierte ihn das Licht. Draußen schien zwar die Sonne, aber sie tauchte den ganzen Raum in ein warmes, tiefes Gelb. Er schreckte auf. Da hatte er doch tatsächlich fünf Stunden geschlafen. Für Kaffee und Kuchen war es jetzt zu spät, andererseits auch schade um die schöne Torte und so ein Tässchen Kaffee würde ihn schon nicht um den Nachtschlaf bringen.
Der Spaziergang fand dann in der Dämmerung statt, aber danach fühlte er sich unsagbar frisch und voller Tatendrang.

Sie würde nicht einbrechen müssen. Sie hatte ja noch den Generalschlüssel. Am Sonntag ging sie sehr früh schlafen und stellte den Wecker auf zwei Uhr. Gegen drei Uhr schlich sie ins Gemeindehaus. Um diese Zeit war nie jemand da. Sie schlüpfte ins Büro, öffnete den Safe und holte das gesamte Papiergeld heraus. Ein ordentlicher Stapel. Das fühlte sich gut an.

Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Am Spätkrimi lag es nicht, der war eher kurzweilig und gemütlich gewesen und die folgenden Sendungen hatten definitiv einschläfernden Charakter gehabt.Der Mittagsschlaf hatte sich einfach zu ausgiebig hingezogen, sogar jetzt fehlte es an der nötigen Bettschwere und er grübelte schon seit einer Stunde, ob endlich genug zusammengekommen war, um die Handwerker zu bestellen. Er hätte ja nachsehen können, aber nein, mitten in der Nacht ins Gemeindebüro? Da kamen doch nur Gerüchte auf. Andererseits – wer würde schon mitten in der Nacht von Sonntag auf Montag aus dem Fenster sehen? Er schlüpfte aus dem Bett und kleidete sich an. Wenn er schon nicht schlafen konnte, so wollte er die Zeit wenigstens sinnvoll nutzen.

Sie schloss den Schrank und wollte eben wieder heraus schleichen, als sie jemanden an der Haustür bemerkte. Sie huschte hinter den bodenlangen Vorhang, der bei zu viel Sonnenlicht oder wenn es draußen dunkel war, zugezogen wurde. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt, und sie vernahm irritierte Schließgeräusche; da wunderte sich jemand außerordentlich, dass die Bürotür nicht verriegelt war. Das Licht ging an. Sie hätte zu gern gesehen, wer hier zu nachtschlafender Zeit im Gemeindebüro herumgeisterte und sich dann gefragt, warum, aber durch den dichten Stoff hindurch konnte sie niemanden erkennen. Der einzige Vorteil ihrer schweren Erkrankung bestand darin, dass sie horrende an Gewicht verloren hatte. So dünn, wie sie gegenwärtig war, war sie in ihrem gesamten bisherigen Leben nicht gewesen. Nun war ihr Körper so flach, dass er sich kaum unter der Gardine abzeichnete.
Der nächtliche Besuch drehte am Rad. Nein, er verlor nicht die Contenance, er drehte am Zahlenschloss.
„Welch ein Malheur“, dachte sie gerade, als sie auch schon einen heiseren, schockierten Aufschrei aus einer männlichen Kehle vernahm. War das nun auch ein Dieb oder jemand, der nur nachts nicht schlafen konnte und die Kollekte zählen wollte? Im letzteren Fall würde er sicher umgehend zum Telefon greifen und die Polizei alarmieren und dort auf das Eintreffen der Beamten warten. Ihr bliebe keine Möglichkeit zur Flucht und sie würde Bracciano nie wiedersehen. Sie wagte es, die Gardine ein wenig zur Seite zu schieben und einen Blick zu riskieren. Es war Winfried und er griff schon zum Telefon. Sie hatte keine Zeit mehr. Mussten Annekes schöne Rosen eben vertrocknen, sie selbst wäre auch bald Humus. Sie griff die gut gefüllte, schwere Glasvase und zog sie Winfried mit voller Wucht von hinten über den Schädel. Er ging sofort zu Boden. Sie hätte ihm einen beschaulichen Ruhestand gegönnt, doch es gab keinen anderen Ausweg. Wenn sie die Spuren ihrer Tat jedoch nicht beseitigte, träte die Polizei viel zu früh in Aktion. Zum Glück war Winfried kein schwerer Brocken. Seine Kleidung glitt über das versiegelte Linoleum wie ein Schlitten durch Neuschnee. Sie schleifte ihn durch den Verbindungsgang bis in die Sakristei. Dort verklebte sie – für den Fall, dass er den Schlag überlebt hatte und bald wieder aufwachte - seinen Mund mit Reparaturband und fesselte ihm damit Hände und Füße. Winfried schwor auf Gaffertape und hatte immer welches im Schrank. Das hatte er nun davon. Man würde ihn schon finden, aber nicht gleich um acht Uhr morgens, denn er lebte allein, da war keine Familie, die ihn vermisst hätte.
Im Gemeindebüro kehrte sie die Scherben zusammen und wischte das Blumenwasser auf. Sie holte eine neue Vase aus dem Heizungsraum, füllte sie mit Wasser und stellte die Rosen hinein. Vielleicht würde Anneke gar nichts auffallen.
Nachdem sie das Licht gelöscht und alle Türen sorgfältig verriegelt hatte, trat sie in die kühle Nacht hinaus. Vier Uhr. Es hatte gerade mal eine Stunde gedauert. Der ICE nach Basel ging um sieben Uhr, der Koffer war längst gepackt, sie hatte also noch genug Zeit, zu Hause ihre Beute zu zählen. Es waren tatsächlich knapp viertausend Euro. Ein Tausender würde für Rom und die Reisekosten draufgehen. Ein Zimmer in Bracciano kostete Hundertfünfzig Euro die Nacht und Lebenshaltungskosten kamen ja auch dazu. Blieben ihr vielleicht zwei Wochen an ihrem Sehnsuchtsort, bis die Beute aufgebraucht war. Alles Weitere würde sich finden.

Endlich wieder Sauerbraten mit Knödeln, dachte Winfried. Anstelle von Hackbraten an mit Haut überzogener Sauce und Dosenerbsen im Klebreisbett. Die eine Woche im Krankenhaus war schlimmer für ihn gewesen als drei Wochen Kinderfreizeit. Nach seiner Entlassung war Sabine, die gute Seele, für drei Wochen verreist gewesen und er hatte von dem gelebt, was er selbst zusammenrühren konnte. Er war stolz auf sich. Er war als der barmherzige, vergebende Theologe aufgetreten, als der er gern wahrgenommen werden wollte. Den Groll, den er gegen die mittlerweile verstorbene Jugendreferentin hegte, hatte er sich mit keiner Miene anmerken lassen. Sie hatte die Kollekte fürs Hospiz und die Flohmarkt-Einnahmen der Kita mitgehen lassen und in Italien verjubelt. Das würde er ihr nie verzeihen. Sie war da unten in der Nähe von Rom in einem See ertrunken, vermutlich mit Absicht. Ein echter Hexentod. Nur eine Feuersbrunst wäre passender gewesen. Aber dieses war ihr letzter Streich gewesen, sie würde ihm nie wieder die Sonntage verdunkeln. Er führte die Gabel zum Munde. Der Braten zerging auf der Zunge.
ENDE

... link (8 Kommentare)   ... comment