Freitag, 15. Mai 2020
Quarantäne – Kurzkrimi in 8 Teilen – 1. Teil
Eigentlich war es wie immer. Am Tatort liefen die Kolleginnen und Kollegen von der Spurensicherung immer mit Mundschutz herum. Neu war nur, dass Keller das jetzt auch tun musste. Und die Umstände waren ungewöhnlich: erweiterter Suizid im Pfarrhaus – so sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Eine komplette Familie ausgelöscht: Mutter und Kinder voller Stich- und Schnittverletzungen, Vater und Hund waren mit einem stumpfen Gegenstand zu Brei geschlagen worden, überall war Blut, in Lachen auf dem Boden, in Spritzern an der Wand. Wer alle erledigt und schließlich sich selbst gerichtet hatte, mussten sie noch ermitteln – vermutlich war es wie meistens der Familienvater. Bei Pfarrern war die Scheidungsrate mit am höchsten, sie erkrankten häufig an Burnout und in Zeiten des familialen Aufeinanderherumhängens konnte auch die Psyche eines Theologen aus den Fugen geraten und zu einer verlorenen Seele mutieren.
Und dann entdeckte Konstanze diese edle Kladde. Auf dem Deckblatt, dem weißen Vorhang des Kopfkinos stand der vielversprechende Titel:
Corona-Logbuch
Keller begann zu lesen:

Sonntag, 15. März
Seltsam ruhig ist es heute, aber auch eine Sonntagsruhe von besonderer Tiefe. Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Niemand stirbt, wenn am Sonntag mal kein Gottesdienst stattfindet. Selbst die treuesten Kirchgänger fahren mal ein paar Wochen zur Kur oder in den Urlaub oder geben ihrem Garten den Vorzug. Das halten wir jetzt geschmeidig sechs Wochen aus und dann geht es weiter. Natürlich werden ein paar Menschen sterben und einige werden furchtbar leiden und es überstehen. Aber das hat es schon immer gegeben. Mit ausreichend Gottvertrauen werden wir das meistern und uns nicht unterkriegen lassen. Hamsterkäufe haben wir bisher vermieden. Jennifer klagt zwar, dass es kein Mehl mehr gibt, aber was soll‘s, dann essen wir eben mehr Kartoffeln. Das Frauen immer gleich so nervös werden müssen.

FORTSETZUNG MORGEN

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