Freitag, 8. Februar 2019
Tote zaubern nicht – ein abgeschlossener Kurzkrimi mit Peter Margo
Seit Wochen war es saukalt. Darum freute ich mich auf mein abendliches Ritual, den Abstecher in die bar mit dem besten Whisky der Stadt, aus dem sich leicht auch mal eine Sitzung epischen Ausmaßes entwickelte. Heute war so ein Abend, das hatte ich im Urin. Den ganzen Tag hatte ich im Villenviertel herumgelungert und beim Blick auf den zugefrorenen See war ich in Gedanken in meine Kindheit zurückgekehrt, wo ich auf Schlittschuhen meine Bahnen gezogen hatte, strotzend vor kraft und Bewegungsdrang und so voller Energie wie eine Hundewelpe. Heute fühlte ich mich wie ein betagter Cocker Spaniel, steif in den Gelenken, müde und voller Sehnsucht nach einem prasselnden Kaminfeuer, vor dem ich mich entspannt ausstrecken konnte. Meine zugige Vierzig-Quadratmeter-Bude im Hinterhaus verfügte nur über eine altersschwache Zentralheizung, darum musste ich für ein inneres Feuer sorgen, und ich weiß nicht, ob ich es meinem voraussichtigen Verstand oder meiner Bequemlichkeit verdankte, dass ich den Whisky nicht einfach flaschenweise nach Hause trug, sondern ihn in überschaubaren Portionen in der Bar hinunterkippte.

Nur noch die Rechnung schreiben und eintüten, dann würde ich den wohlverdienten Feierabend antreten. Doch weit gefehlt: Ein zartes Klopfen an der Tür rückten den Islay Scotch in weite Ferne. Vielleicht kam mal wieder ein Engel vorbei, dafür schob ich mein Abendritual gern hinaus, zumal so ein Engel einem ja auch das Herz wärmte.
Ich krächzte: „Ja, Bitte.“
Meine Stimme war reichlich angefressen von der Kälte, dem Schnaps und zu vielen Zigaretten.
Tatsächlich trat ein Engel ein, aber keiner von der Sorte, von der einem heiß wird, sondern so ein unberührbarer, eine Pinguin-Tante, klein, zierlich und ziemlich blass.
„Treten Sie näher, Lady“, sagte ich, „und nehmen Sie Platz! Was kann ich für Sie tun?“
Sie setzte sich zaghaft auf den vorderen Teil des Stuhls und fragte: „Bin ich hier richtig? Sind Sie Peter Margo, der Privatdetektiv?“
„Ja, der bin ich. Wo drückt der Schuh?“
„Es ist so, ich möchte, dass Sie jemanden für mich finden.“
„Das ist mein Job. Wen soll ich denn für Sie suchen?“
„Es handelt sich um meinen Verlobten. Er ist verschwunden.“
Das machte mich stutzig. Nonnen lebten doch zölibatär oder war dies nur eine Verkleidung und ich bekäme gleich eine haarsträubende Geschichte zu hören.
Tatsächlich trug sie einen Verlobungsring, und ich begann zu ahnen, wie haarsträubend die Geschichte war. Sie erinnerte mich an den Auftrag eines engelhaften Wesens, das vor etwa einem Jahr mein Büro aufgesucht hatte. Ich forschte in ihrem Gesicht, aber ich konnte ums Verrecken keine Ähnlichkeit feststellen.
„Hören Sie Lady oder Mutter oder wie auch immer Sie genannt werden wollen...“
„Schwester.“, unterbrach sie mich.
„Wie bitte?“
„Nennen Sie mich Schwester.“
„Ach so. Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, aber wie kann es sein, dass Sie als Ordensfrau verlobt sind?“
„Ich bin eine Braut Christi.“
„Und der ist verschwunden, der Christus?“
„Ja, genau.“
„Aber so, wie ich das einschätze, hat er doch schon vor knapp zweitausend Jahren den Abflug gemacht und ist seitdem nicht zurückgekommen. Oder habe ich da was verpasst?“
„Wenn Sie das jüngste Gericht meinen mit der Wiederkunft des Herrn, das hat noch nicht stattgefunden. Aber unser Herr Jesus hat den Jüngern ja unmittelbar vor der Himmelfahrt zugesagt: 'Siehe,ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
„Also im Geiste?“
„Ja, so ähnlich. Aber nicht nur in unserer Vorstellung, sondern tatsächlich. Und diejenigen von uns, die sich ihm verschrieben haben, konnten seine Gegenwart spüren.“
„Permanent?“
„Nein, nicht pausenlos, aber regelmäßig.“
„Und jetzt nicht mehr?“
„Nein. Zum letzten Mal vor etwa einem Jahr. Seitdem herrscht Funkstille.“
„Hören Sie, Schwester, das ist nicht direkt mein Gebiet und auch nicht das der Polizei, die würden Sie auslachen und dann den psychologischen Krisendienst einschalten. Vielleicht beraten Sie sich besser mit Ihrer Äbtissin oder Ihrem Bischof.“
„Das geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Ich habe beide in Verdacht, dass sie mit seinem Verschwinden etwas zu tun haben.“

Das klang zwar nach absolutem Irrsinn, aber meine Neugier war stärker: „Das müssen Sie mir näher erklären.“
„Wir legen in unserem Orden viel Wert auf Spiritualität und Gemeinschaft. Wir leben bescheiden und arbeiten hart, aber wir genießen die Gegenwart des Herrn täglich in vollen Zügen und im Überfluss. Doch seit uns der Bischof eine neue Äbtissin zugewiesen hat, ist dieser Reichtum mehr und mehr verloren gegangen. Es reichte plötzlich nicht mehr, emsig seinem Tagewerk nachzugehen; wir mussten Ziele mit ihr vereinbaren, die es zu erreichen galt. Wer es schaffte, wurde in Ruhe gelassen, wer über das Ziel hinausschoss, wurde vor allen gelobt, wer hinter der Erwartung zurückblieb, wurde vor allen getadelt und außerdem durch besonders niedere Arbeiten gedemütigt. Und eh wir uns versahen, wurde aus fröhlicher Arbeit verbissene Hetze und aus Schwestern erbitterte Rivalinnen. Nun fühlen die Stundengebete sich an wie das Herunterleiern zu oft gespielter Schallplatten und wie eine lästige Pflicht, die man hinter sich bringen muss, die einen vom Erreichen der Ziele abhält, also alle Rosen zu schneiden oder ein Stück Leinen zu Ende zu weben. Dabei verlieren wir das eigentliche Ziel aus den Augen, nämlich die Gemeinschaft mit Gott. Und jetzt hat er uns verlassen, weil wir ihn so sträflich vernachlässigt haben.“

Das war kein Auftrag für mich, und ich wollte dem Pinguin auch nicht sein sauer verdientes Geld aus der Tasche ziehen, aber ich wollte ihre Hoffnung nicht zerstören. Um sie zu enttäuschen, sah sie zu zerbrechlich aus.
Ich versuchte, mich in ihre Welt hineinzudenken, dann sagte ich: „Vielleicht ist er ja gar nicht verschwunden, vielleicht ist er nur vor Langeweile eingeschlafen.“
„Wieso vor Langeweile?“
„Na, wenn keine von seinen Bräuten mehr zeit für ihn hat, dann ist ihm vielleicht langweilig und er dämmert ein bisschen vor sich hin, bis wieder was los ist.“
„Aber es ist doch immer etwas los. Auf der ganzen Welt. Es gibt so viel für ihn zu tun.“
„Dann ist er vielleicht vor Erschöpfung eingeschlafen.“
„Aber er schläft nie.“
„Woher wollen Sie das denn wissen? Wenn seine Bräute, die Tag für Tag so vor sich hingearbeitet haben, immer mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, plötzlich den Turbo einlegen, sich nur noch anzicken und bei den exklusiven Verabredungen mit ihm auch die ganze zeit an etwas Anderes denken, ist das vielleicht total anstrengend. Er muss höllisch auf alle aufpassen, dass sie sich in der Hektik nicht verletzen und die ganze zeit vergeblich um ihre Aufmerksamkeit kämpfen. So was schlaucht. Da kann einem schon mal der Kopf aufs Kissen sinken, weil einen die Kräfte verlassen, auch als Heiland. Er war ja schließlich auch nur ein Mensch.
Und jetzt tobt da bei Ihnen ein Sturm und Ihr Boot droht zu versinken und der Meister schläft. Sie müssen ihn nur wecken, dann wird er Ihnen schon helfen.“
„Spielen Sie an auf die Stillung des Sturms?“
„Welche Stillung des Sturms?“
„Auf dem See Genezareth.“
„Kenn' ich nicht.“
„Jesus war erschöpft von den Anstrengungen des Tages, ließ sich von den Jüngern im Boot über den See fahren und schlief fest, als plötzlich ein furchtbarer Sturm aufkam. Als die Jünger ihn weckten, gebot er dem Sturm, zu schweigen und das Meer beruhigte sich.“
„Ach, lassen Sie mich mit diesem Bibel-Gedöns in Ruhe! Oder holen Sie sich da Ihre Ideen, wenn Ihnen das hilft! Ich denke, dass Sie ihn wecken müssen, aber wie Sie das tun, das müssen Sie selbst herausbekommen. Sie kriegen ihn bestimmt wach, selbst wenn er schon tot ist. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er wieder aufwacht. Aber wenn Sie wollen, dass der große Magier es für Sie richtet, müssen Sie ihn wach schütteln. Denn Tote zaubern nicht.

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