Dienstag, 13. Februar 2018
Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 3
Vierzehn Tage später sprach man davon, dass Charlotte mit dem Fahrrad gestürzt war, direkt nach dem Altenclub. Fatalerweise war sie aufgrund ihrer Eitelkeit ohne Helm gefahren und hatte nun infolge einer schweren zerebralen Blutung die Sprache verloren. Man verabredete sich, Charlotte in der nächsten Zeit regelmäßig im Krankenhaus zu besuchen. Zuerst war man unsicher gewesen, ob das überhaupt in ihrem Sinne sei, doch Hermann war selbst zum Altenclub geradelt und hatte den Anwesenden ans Herz gelegt, Charlotte bitte einen Besuch abzustatten.
Rosemarie hatte, als sie zu Hause ankam, schon wieder vergessen, in welchem Krankenhaus Charlotte lag. Irene war nicht gut auf Charlotte zu sprechen und Christenpflicht hin oder her, für die alte Gewitterhexe war ihr einfach ihre Zeit zu schade. Karl-Heinz ging es da ähnlich – Charlotte war kaum für einen scherzhaften Flirt geeignet gewesen, nicht einmal, als sie noch zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Sie hatte schon als Backfisch so einen verkniffenen Mund und diese eiskalten Augen gehabt.
Renate dagegen war die erste, die sich ins Krankenhaus schleppte. Sie verzichtete extra auf ihren Mittagsschlaf, damit sie Zeit hatte, sich vorher einer Stunde lang zurechtzumachen und dann pünktlich im 15.00 Uhr gepflegt und mit frischen Blumen im Krankenzimmer zu erscheinen. Sie hielt eine Weile Charlottes Hand und gab unerträgliche Gemeinplätze von sich und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als dies klaglos zu ertragen. Zwei Tage später schleppte Anneliese sich in die Klinik, brachte Blumen, drückte Charlottes Hand, sprach aber selbst kaum, denn ein Gespräch kam ja schwerlich zustande und so ging sie bald wieder. Günther war ein Mann von eingefleischtem Pflichtbewusstsein. Er brachte Charlotte eine rote Primel im Topf als Symbol für ihre baldige Genesung. Die Primel solle sie mit nach Hause nehmen. Auch Horst trieb das Mitgefühl ins Krankenhaus, obwohl er Charlotte ebenfalls nicht leiden konnte, aber so eine Lebenssituation wünschte man keinem. Weil er richtig vermutete, dass sie mit Blumen überschüttet wurde, kaufte er ein teures, duftendes Hautöl für sie, damit sie sich wenigstens eine angenehme sinnliche Erfahrung gönnen konnte. Auch Irmgard ließ sich blicken, mit Blumen und Pralinen und als sie Charlottes Krankenzimmer angespannt verließ, fragte sie sich, was wohl passierte, wenn Charlotte ihre Sprache wiederfände? Und selbst wenn sie nie wieder sprechen konnte: würde sie sich dennoch dezidiert mitteilen können? Wie konnte eine alte Frau von 79 Jahren einen so schweren Sturz überleben? Sie hätte die Radmutter noch stärker lösen müssen, dann wäre die Mitwisserin längst ausgeschaltet.
Als es mit Irmgards Gatten zu Ende ging, litt sie bereits seit drei Jahren unter der Pflegebedürftigkeit ihres Mannes, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und depressiv war und sie ständig brauchte. Sie hatte keine Minute mehr für sich, sogar wenn sie ihre Dienste als Fußpflegerin feilbot, um die schmale Rente aufzubessern, hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn sie liebte es, unter Leute zu gehen und bei leichter Plauderei ihrer Arbeit nachzugehen. Dabei fraß der Gesundheitsbedarf ihres grantelnden Gatten den gesamten Zuverdienst auf, sie konnte sich also noch nicht einmal mit dem einen oder anderen Luxus verwöhnen. Als der Punkt erreicht war, an dem sie nicht mehr bereit war, diese Hölle noch länger zu ertragen und sie außerdem sicher war, dass auch ihr Mann es vorzog, in die ewigen Jagdgründe einzugehen, anstatt sabbernd in die Windeln zu defäkieren und die tägliche Dekubitus-Prophylaxe über sich ergehen zu lassen, entschloss sie sich, den menschenunwürdigen Sterbeprozess ihres Ehemannes zu beschleunigen. Sie verabreichte ihm ein Blutdrucksteigerndes Medikament und löste so einen schweren Schlaganfall aus, der nicht behandelt wurde, weil sie im passenden Moment einen Großeinkauf tätigte. Nach einem Jahr offizieller Trauer konnte sie endlich wieder fröhlich sein. Aber sie hatte diesen Schritt nicht von langer Hand geplant. Es hatte sich zufällig ergeben. Und hier kam Charlotte ins Spiel: Irmgard hatte Charlotte einen Besuch abgestattet, um den Halbjahresbeitrag für den Altenclub zu kassieren, denn sie verwaltete die Gruppenkasse. Als Charlotte das Wohnzimmer verlassen hatte, um ihr Portemonnaie zu holen, hatte sie das Blutdrucksteigernde Medikament auf dem Couchtisch liegen sehen. Sie wusste nicht, dass die Schwiegertochter, die unter Hypotonie litt, es dort vergessen hatte. Einer Eingebung folgend, hatte sie es in ihre Tasche gleiten lassen und zu Hause in Ruhe den Beipackzettel gelesen. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie verbabreichte ihrem Mann eine Überdosis und entsorgte den Rest samt Verpackung im Mülleimer des Supermarktes. Es lag fünf Jahre zurück und sie hätte nie vermutet, dass Charlotte sich noch an das verschwundene Medikament erinnerte. Doch der vernichtende Blick, mit dem ihr der Sprache beraubtes Opfer sie angesehen hatte, ließ sie noch immer innerlich erzittern. Sie würde auch für dieses Problem eine Lösung finden müssen.
Ende

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