Samstag, 3. Februar 2018
Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 2
Keine der drei Saison-Service-Kräfte hatte bemerkt, dass Rosemarie kurz in der Tür gestanden hatte und dann schnell wieder verschwand. Rosemarie wurde leicht übersehen. Sie war die typische freundliche Omi, der man noch deutlich ansah, dass sie in jungen Jahren sehr hübsch gewesen war. Seit zwei Jahren – genaugenommen seit ihrem achtzigsten Geburtstag - war sie Witwe. Unter ihrem unfreundlichen Ehemann hatte sie sehr gelitten, aber bei ihrer fortschreitenden Demenz hätte ein vertrauter Partner an ihrer Seite besser auf sie achtgeben können, als das ihren drei vielbeschäftigten Kindern gelang. Sie hatte sieben Enkel und ein Urenkelkind, die sie aber allesamt höchst selten zu Gesicht bekam. Wenn sie auch ziemlich durcheinander war, ein bisschen frisch aufgeschnappter Tratsch hatte noch immer eine bemerkenswert belebende Wirkung auf sie. Mit leuchtenden Augen betrat sie den Veranstaltungsraum und verkündete: „Ihr glaubt nicht, was ich gerade gehört habe.“
Mehr amüsiert als interessiert wandten sich ihr die Köpfe von zwei weiblichen und drei männlichen ergrauten Häuptern zu.
„Charlotte hat eben erzählt, dass sie weiß, dass unter uns eine Mörderin ist. Eine Gattenmörderin.“
„Ach, Charlotte und ihre düsteren Gedanken.“, winkte der 84-jährige Alterspräsident Günther ab. „Wenn die nicht mindestens einmal am Tag ihr Gift verspritzen kann, kriegt sie Verstopfung.“
Er zwinkerte der 78-jährigen Irmgard, die in seinen Augen noch ein Küken war, verschwörerisch zu. Die quirlige Witwe mit den üppigen Rundungen hatte jedoch nur ein mitleidiges Lächeln für ihn übrig. Während Günther ein einsamer Witwer war, den seine Kräfte allmählich verließen und dessen einzige Tochter in Südamerika lebte, sodass er ständig auf der Suche nach einer jüngeren Partnerin war, die seine Hinfälligkeit kompensieren konnte, wollte Irmgard noch so viel aus ihrem Leben herausholen wie eben ging. Sie hatte schon immer gern gefeiert, doch dann hatte sie viele Jahre ihren pflegebedürftigen Mann betreut und alle Bedürfnisse hinten angestellt. Als er vor fünf Jahren schließlich starb, startete sie noch einmal durch. Auf ihre zwei Söhne, die weit weg wohnten, brauchte sie nicht zu setzen, ihre einzige Enkelin sah sie nur zwei Mal im Jahr. Sie besserte seit mehr als acht Jahren als Fußpflegerin ihre Rente auf und konnte sich so wunderbare Urlaubsreisen, teure Kosmetik und elegante Kleidung leisten. Der Günther konnte ihr gestohlen bleiben, der Horst dagegen machte etwas her. Horst war kultiviert, hatte als einziger im Altenclub studiert, war ein gut erhaltener Galan alter Schule, schlank, elegant, mit gut geschnittenen Gesichtszügen und noch überwiegend dunklem Haar, obwohl er doch auch schon 79 Jahre auf dem Buckel hatte.
Was Irmgard nicht wusste: Horst kam eigentlich nur wegen der interessanten Themen, die der Herr Iring vorbereitete zum Altenclub, im Grunde verachtete er seine Altersgenossen, aber er nutzte das Umfeld für Milieustudien, die er in Kurzgeschichten verarbeitete und heimlich unter Pseudonym veröffentlichte. Im Geiste machte er sich Notizen und fragte sich, welcher der Kunstfiguren in seiner aktuellen Geschichte er einen Mord anhängen würde: der grantelnden Gabi, der hedonistischen Hanna oder der misshandelten Marianne.
Die kränkliche Anneliese, die bereits vor 25 Jahren 58-jährig verwitwete, wirkte seltsam ertappt bei Rosemaries Sensationsbericht. Man traute ihr nichts Böses zu, sie schleppte sich nur mit letzter Kraft 14-tägig zum Altenclub, um wenigstens ab und zu einmal etwas vorzuhaben. Trotzdem fragte Charlottes Ehemann Hermann sich, ob in Annelieses Vergangenheit womöglich finstere Abgründe gähnten. Er kannte sie seit der Kindheit, sie waren zusammen zur Schule gegangen. Alle hatten ihr in Gedanken heimlich gratuliert, als ihr Ehemann, der ein cholerischer Gewalttäter gewesen war, plötzlich den Löffel abgegeben hatte. Jetzt fragte sich Hermann, ob das sanfte Opfer nicht am Ende zur Täterin geworden war. Nur konnte er sich nicht erklären, woher seine Frau davon wissen konnte. Niemand war so gebeutelt wie Anneliese. Ihren Fünf Kindern hatte sie etwas bieten wollen, die Welt sollte ihnen offen stehen, sie sollten all die Möglichkeiten haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, die ihrer Mutter verwehrt geblieben waren. Die Kinder hatten die Chancen genutzt und lebten jetzt in Berlin, München, Frankfurt, Hamburg und London – niemand war in Ostwestfalen geblieben.
Die Konversation im Raum war zum Erliegen gekommen, weil jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nachhing. Wie ein seltsamer Bruch wirkte es da, als plötzlich Karl-Heinz gut gelaunt hereinstürmte: „Was ist hier denn los?“, fragte er verwirrt. „Ist jemand gestorben?“
„Gestorben wird immer.“, antwortete Horst lakonisch.
Das Thema wurde nicht weiter vertieft, denn mittlerweile war auch Herr Iring angekommen und bat um die werte Aufmerksamkeit für sein heutiges Programm. Er hatte ein Referat zu Joseph Roths „Hiob“ vorbereitet und plante einen nachfolgenden Gedankenaustausch. Während des Vortrages herrschte höfliches Schweigen; die ungeteilte Aufmerksamkeit war hingegen überwiegend geheuchelt. Anneliese sorgte sich um ihren Blutdruck, der trotz einer beträchtlichen Menge regulierender Medikamente noch immer erschreckend überhöht war und gerade jetzt spürte sie einen besonders unangenehmen Druck im Kopf. Hermann grübelte darüber nach, wen genau Charlotte des Gattenmordes bezichtigte und konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht hatte Rosemarie auch nur etwas aufgeschnappt und falsch interpretiert. Charlotte fixierte heimlich ihre Verdächtige. Sie malte sich aus, wie sie beim nächsten Treffen die Details ihrer erfolgreichen Detektivarbeit vor den anderen ausbreiten würde, während die Mörderin in der Untersuchungshaft darauf wartete, ihrer gerechten Strafe zugeführt zu werden. Günther träumte - wie jedes Mal - von romantischen Portwein-Stunden mit Irmgard und bewunderte das Objekt seiner Begierde unverholen und lächelnd. Irene saß auf heißen Kohlen, weil sie nicht sicher war, ob sie die Teebeutel für Herrn Iring schon aus der Kanne genommen hatte. Sie wollte nachsehen, sobald das Gespräch anfing und notfalls einen frischen Tee zubereiten. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie sich in diesem Maße verantwortlich fühlte, wo sie doch froh sein konnte, dass sie zu Hause von derlei Versorgungsleistungen seit drei Jahren verschont blieb. Irmgard überlegte angestrengt, ob sie den Werkzeugkoffer im Auto hatte, seit Wochen schon hatte sie vor, ihn montags nach dem Altenclub bei Klaus vorbeizubringen. Wenn sie noch länger wartete, würde der ihr nie wieder etwas leihen. Karl-Heinz fragte sich gerade, wie Irmgard wohl völlig entblätterte aussähe und wie sie sich unter der Bettdecke anfühlte. Renate konnte seit Charlottes Bemerkung in der Küche nur noch an ihren verstorbenen Erwin denken und fragte sich aufgeregt, ob irgendetwas an ihrem Verhalten so verdächtig erschien, dass Charlotte zu derartig ungeheuerlichen Schlussfolgerungen gelangte. Auch nur zwölf Stunden in Untersuchungshaft würde sie nicht überleben. Rosemarie träumte von ihrer Jugendliebe, einem jungen Mann, den sie ihr restliches Leben lang vermisst hatte, nachdem er einfach aus ihrem Leben verschwunden war. An ihren langjährigen Gatten, der seit zwei Jahren auf dem Friedhof lag, verschwendete sie keinen Gedanken und Herrn Irings Ausführungen konnte sie schon aufgrund der hohen Dichte an Fremdwörtern nicht folgen. Nur Horst hörte zu und fragte sich, wer von den Anwesenden sich in der literarischen Adaption der biblischen Geschichte am ehesten wiederfand.
Als Herr Iring abschließend um Gesprächsbeiträge bat, herrschte zunächst gespenstisches Schweigen. Irene, Charlotte, Irmgard und Rosemarie verließen nacheinander den Raum und Horst fragte sich, wer wohl gleich ermordet würde, doch sie kehrten alle vier wohlbehalten zurück. Horst gab auch als Einziger einen Gespächsbeitrag zum Besten:
„Joseph Roth hat meines Erachtens nicht nur das weiße Feuer der Hiobsgeschichte zum Leuchten gebracht, indem er den vermeintlichen Nebenfiguren eine eigene Perspektive verliehen hat, er hat die Geschichte auch politisiert und sie auf die Situation des europäischen Judentums bezogen.“
„Von was für einem weißen Feuer redest du denn da?“, fragte Karl-Heinz unwirsch. „Hast du eben zu Hause noch einen genommen? Schönen Schluck Schlehenfeuer?“
„Midrasch.“, verkündete Herr Iring mit der wichtigtuerischen Miene des Connaisseurs.
„Ist das jüdischer Schnaps?“, fragte Karl-Heinz und schlug sich laut lachend auf die Schenkel.
„Nein.“, antwortete Herr Iring verschnupft. „Als Midrasch bezeichnet man das Lesen zwischen den Zeilen eines Textes. Die schwarzen Buchstaben, das unmissverständliche Wort auf dem weißen Papier bezeichnet man als das schwarze Feuer, aber das, was man in seiner Vorstellung dazu übelegen muss, die Ausschmückung der Geschichte, wie sich alles für die Beteiligten anfühlt, das bezeichnet man als das weiße Feuer. Das ist eine uralte jüdische Tradition, derer Joseph Roth, der ja ebenfalls jüdischer Herkunft war, sich möglicherweise bedient hat.“
„Wie sie eben bereits beschrieben hatten.“, erklärte Horst und sah Karl-Heinz strafend an, als er sich an ihn wandte: „Wenn du schon nicht zuhören kannst, solltest du dich beim Gespräch besser raushalten.“
„Jetzt hab' dich mal nicht so.“, rechtfertigte Karl-Heinz sich. „Schließlich habe ich den Kuchen mitgebracht. Ich kann doch nicht an alles denken.“
Damit war das Stichwort gefallen, auf das alle gewartet hatten und man sprach über Primeln und wer gerade im Sterben lag, wo zur Zeit das günstigste Gemüse zu bekommen war und was die Kinder und Enkelkinder so trieben. Die Zeit verging wie im Flug und während die Küchencombo spülte, tratschten diejenigen, die sich nur schwer trennen konnten noch eine Weile auf dem Vorplatz, bis schließlich Irene den Schlüssel umdrehte und alle mehr oder weniger dynamisch nach Hause humpelten. Von den schwarzen Gedanken, die die eine oder andere dabei im Herzen trug, ahnte niemand etwas.
Ende Teil 2 – Fortsetzung folgt

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Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 1
Irene war die Erste. Irene war immer die Erste, darum verwahrte sie auch den Schlüssel. Wenn die beiden Damen eintrudelten, die zum Helfen eingeteilt waren, hatte Irene längst den Kaffee aufgesetzt und die Thermoskannen vorgewärmt: zwei für Bohnenkaffee, zwei für Entkoffeinierten und einmal Teewasser für Herrn Iring.
Den Kuchen brachte Karl-Heinz mit. Karl-Heinz kam immer zu spät, aber sie konnten die Teller ja schon mit den Kuchengabeln auf dem Servierwagen verteilen. Sie füllte gerade das heiße Wasser zum Aufwärmen in die Kaffeekannen, da kam die zwei Jahre jüngere Charlotte im Stechschritt auf das Gemeindehaus zu. Ihr übellauniges Herrenmenschengebaren, das sie nicht erst zur Schau trug, seit sie Neunundsiebzig war, hatte Irene schon oft die gute Laune verdorben. Sie kannten sich seit der Jugend – damals hatten sie zusammen den Mädchenkreis besucht. Charlotte stammte aus der gehobenen Gastronomie und ihre Familie hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Sie selbst hatte als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet und hatte mit ihrem zurückhaltenden Mann zwei Kinder und einen Enkel. Sie hätte allen Grund gehabt, glücklich und zufrieden zu sein, doch sie strahlte nichts als Arroganz, Missgunst und Härte aus.
Ihr folgte Renate auf den Fuß. Die ging Irene auf andere Weise auf die Nerven. Renate wurde mit ihren achtzig Jahren nur noch von ihrem spachteldicken Make-up zusammengehalten, nichts an ihr war echt, aber sie prahlte gern mit den zahlreichen Amouren ihrer ersten vier Lebensdekaden, bis sie schließlich einen sicheren Anker gefunden hatte, der auch bei ihr geblieben war, als die Fassade deutlich zu bröckeln begann. Nun war sie seit fünf Jahren Witwe und hatte keine Kinder, die sie über den Verlust und die Einsamkeit hinwegtrösten konnten.
„Kaffee läuft durch, Teewasser ist aufgesetzt, Kannen sind angewärmt.“, erklärte Irene den Stand der erledigten Aufgaben. „Wenn ihr jetzt schon mal Dessertteller mit Kuchengabeln auf dem Servierwagen bereit stellt, kümmere ich mich um Tassen, Löffel, Zucker und Kondensmilch.“
Im Grunde wäre Irene zufrieden gewesen, wenn sie die Vorbereitungen allein getroffen hätte, aber hier mitzuwirken, das ließen die anderen Damen sich nicht nehmen, auch wenn Renate ohnhin die meiste Zeit hilflos im Weg herumstand und Charlotte mit planlosem, zur Schau gestelltem Aktionismus meistens alles durcheinanderbrachte. So auch jetzt.
„Wieso sollen wir die Teller denn auf den Wagen verteilen, wenn der Kuchen noch gar nicht da ist? Dann muss man sich ja bücken, um die Teilchen auf die Teller in den unteren Etagen zu bugsieren, da geht doch alles daneben.“
„Warum soll da was daneben gehen?“, fragte Irene herausfordernd.
„Na, ja, so ein gedeckter Apfelkuchen, der bricht leicht auseinander.“
„Heute gibt’s Berliner.“
„Na, dann pudern wir alles mit dem Zucker voll.“
„Die sind mit Guss.“
„Aber dann muss man die doch mit der Zange auflegen, sonst hat man gleich ganz klebrige Hände.“
„Ich mach das schnell mit Handschuhen.“
Renate begann zu kichern. „Klingt so, als würdest du ein Kapitalverbrechen planen. Bloß keine Fingerabdrücke auf den Tortentellern hinterlassen.“
„Mach darüber keine Witze.“, fuhr Charlotte Renate an. „Ich weiß zufällig, dass eine Ehegattenmörderin unter uns ist. Ich habe lange gezögert, aber morgen gehe ich zur Polizei.“
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt

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