Dienstag, 19. Mai 2020
Quarantäne – Kurzkrimi in 8 Teilen – 5. Teil
Samstag, 25 April
Ich bin ja wirklich dankbar, dass so viele Menschen bereit sind, uns zu unterstützen und regelmäßig für uns einzukaufen. Leider setzen sich aber immer die penetranten Pastorenschwalben durch, die so wahnsinnig stolz auf ihre Wirtschaftlichkeit sind und vorzugsweise beim Discounter einkaufen. Matschige Schattenmorellen, schnittfester Joghurt, FeSaZu-Aufschnitt in Hartplastikverpackungen, dünnschalige Eier mit Soja-gelbem Dotter von unglücklichen Hühnern, schwindsüchtiges Obst und Gemüse, das mit mehr Pestiziden als Vitaminen behaftet ist. Was sollen wir tun? Wir können es ja nicht einmal verschenken, es bleibt uns nichts anderes übrig, als alles aufzuessen und Dankbarkeit zu heucheln.

Sonntag, 26. April
Dünnhäutigkeit und blank liegende Nerven entschuldigen vieles, aber Jennifers Ausbrüche sind kaum noch zu ertragen. Permanent hat sie etwas auszusetzen, nörgelt entweder an Sarah oder an mir herum, weil irgendwo etwas nicht weggeräumt wurde, weil wir zu viele Geräusche machen, zu viel oder zu wenig lüften und weil ich mich nicht genug um David kümmere. Dabei gehe ich mehrmals täglich in sein Zimmer, bringe ihm was er braucht, rede auch mal mit ihm, wenn er denn in Stimmung ist – sein Fieber ist längst gesunken und er vergnügt sich bei Videotelefonien und Spielorgien auf irgendwelchen Online-Plattformen. Mir scheint, er ist derjenige, der am wenigsten unter der Situation zu leiden hat.

Montag, 27. April Zoom-Konferenzen machen Kopfschmerzen
Heute Abend habe ich die entsetzlichsten Kopfschmerzen seit langem. Allerdings vermute ich, dass nicht Corona dahinter steckt, sondern diese ermüdenden Video-Konferenzen, bei denen immer zwei bis drei Teilnehmer mit miserabler Verbindung mitmachen und unglaublich viel zu sagen haben, was man kaum versteht. Die zweidimensionalen Gesichtsbilder ohne die restliche Körpersprache erschweren die nonverbale Kommunikation und so verlaufen die Gespräche holprig: entweder alle reden gleichzeitig oder keine. Wenn alle auf stumm schalten und der Moderator Wortmeldungen entgegennimmt, ist es auch anstrengend. Habe ich die Stummschaltung jetzt aufgehoben oder nicht? Wo muss ich noch mal klicken? Und die ganze Zeit sitzt man wie gefesselt auf dem Schreibtischstuhl und blickt entsetzt in das eigene, zerfurchte Gesicht, denn diese Webcam ist gnadenloser als jeder Badezimmerspiegel. Es ist zermürbend.

Dienstag, 28. April
Heute bin ich den ganzen Tag nicht zur Ruhe gekommen und habe gefühlt trotzdem nichts geschafft. Bei allem, was ich angehen wollte, stieß ich auf Barrieren: Angerufene waren nicht erreichbar, bei anderen Arbeitsschritten fehlten Teilinformationen, die Voraussetzung für die Umsetzung sind, beim Verfassen von Texten wurde ich ständig unterbrochen und irgendwann wusste ich einfach gar nichts mehr. Ich fühlte mich wie vor dem Computerbildschirm, an dem man 20 verschiedene Programme oder Dateien aufgemacht hat und nicht mehr weiß, welches man nun zuerst bearbeiten muss, ja nicht einmal, was sich hinter den einzelnen Bezeichnungen genau verbirgt. Als dann auch noch Jennifer zum fünfundzwanzigsten Mal in mein Büro stürmte und keifte, dass ich mir endlich angewöhnen solle, nach dem Toilettengang gründlich zu lüften, sonst lasse sie sich scheiden, ist mir der Kragen geplatzt. Ob sie nichts Wichtigeres im Kopf habe, als sich über derartige Kinkerlitzchen zu echauffieren, warum sie das Fenster nicht einfach öffne, wenn der Geruch sie störe, warum sie mich wegen jeder kleinen Missstimmung ihrerseits aus dem Konzept bringen müsse, nur um mich lückenlos an ihrem seelischen Erleben teilhaben zu lassen. Ich finde auch jetzt noch, dass mein Ausbruch berechtigt war, ich stelle auch nicht jedes innerliche Ärgernis umgehend und ungefiltert in die Familiengruppe, aber ich habe mich deutlich im Ton vergriffen, wie es sonst nicht meine Art ist. Die Situation macht uns alle verrückt und wir müssen noch eine ganze Weile durchhalten.

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Montag, 18. Mai 2020
Quarantäne – Kurzkrimi in 8 Teilen – 4. Teil
Montag, 20. April
Nun habe ich heute im engsten Familienkreis die an Corona verstorbene Ex-BDM-Gruppenführerin beerdigt. Ausgerechnet am 20. April, ich musste mich wirklich anstrengen, damit mir keine Anspielung auf den Geburtstag des größten Schurken des vergangenen Jahrhunderts über die Lippen kam. Sicher war sie genauso schwer gestorben wie alle anderen, die durch diese verheerende Erkrankung den Erstickungstod erleiden mussten, aber es fiel mir schwer, Mitgefühl zu empfinden, obwohl sie ja keine Kriegsverbrecherin gewesen war, nur ein dummes junges Mädchen, das dazugehören wollte und darum mit den Wölfen heulte. Und wer kann sich im fortgeschrittenen Alter schon den Prägungen der Kindheit entziehen?

Dienstag, 21. April
David hat gestern im Laufe des Abends hohes Fieber entwickelt. Jennifer hat ihn mit Paracetamol ins Bett geschickt, aber heute Morgen war das Fieber noch immer hoch, dazu ein schlimmer Husten und Kopfschmerzen. Sicher nur irgendein Infekt, aber vorsichtshalber haben wir beim Hausarzt angerufen und der hat sofort einen Termin für den Test festgemacht. Heute Nachmittag habe ich ihn dann mit einer FFP2-Maske ausgerüstet zum Test-Zelt vor dem Klinikum gefahren. Sein Zimmer dürfen wir bis auf Weiteres nur mit Maske betreten und er darf den Raum nur verlassen, um zur Toilette zu gehen. Na ja, in zwei Tagen ist das Testergebnis da und dann geht es wohl wieder normal weiter.

Donnerstag, 23 April
Unglücklicherweise ist David positiv auf Corona getestet worden. Jetzt sitzen wir als Familie für voraussichtlich drei Wochen fest, also zwei Wochen, nachdem David symptomfrei ist. Hoffentlich hat er niemanden von uns angesteckt und hoffentlich muss er keine Komplikationen erleiden. Wo er sich nur infiziert hat? Ich habe schon seit längerem den Verdacht, dass er nicht nur das Kontaktverbot sondern auch die Abstandsregeln ignoriert und jetzt trifft es uns alle. Von wem hat er nur diese Selbstsucht, Risiken einzugehen, mit denen er seine ganze Familie gefährdet?

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Sonntag, 17. Mai 2020
Quarantäne – Kurzkrimi in 8 Teilen – 3. Teil
Dienstag, 14. April
Vorgestern hatte ich gar keine Zeit für meinen sonntäglichen Eintrag. Ostergesang im Garten, Eiersuche, feines Essen, Spielenachmittag und abends eine kleine Versammlung um die Feuerschale. Dafür war Sarah den ganzen Tag fröhlich und ist abends zufrieden und müde früh ins Bett gegangen. Genauso gestern. Eine Bude im Wald hatte ich ewig nicht gebaut. Sogar David hat sich zusammengerissen. Und so hatte Jennifer mal ein paar Stunden für sich, das musste auch mal sein. Danach war der Garten dran und dann habe ich mal wieder einfach nur so stundenlang gelesen.
Heute habe ich mich doch sehr gewundert. Trotz Kontaktverbot trifft der Männerkreis sich weiter zum Boule Spielen. Die machen immer, was sie wollen, so als würden sämtliche Regeln für sie keine Geltung haben. So ein renitentes Pack. Die über Sechzigjährigen, für deren Schutz der ganze Stillstand veranstaltet wird, setzen sich über alles hinweg, aber Kinder dürfen nicht mehr zusammenkommen, die könnten ja schließlich in unbeobachteten Momenten die Köpfe zusammenstecken. Ach ja, apropos Kinder: die Jugendreferentin treibt sich nahezu täglich stundenlang im Gemeindehaus herum. Merkwürdig ist das schon, denn als hier reger Betrieb war, habe ich sie sehr viel seltener gesehen. Wenn sie wenigstens einmal alles aufräumen würde. Vermutlich flüchtet sie ins Büro, um der Enge zu Hause zu entkommen und arbeitet gar nicht, sondern guckt Filme oder strickt Pullover.

Mittwoch, 15 April
Jennifer gerät immer häufiger wegen der Kinder aus der Fassung. Entweder, weil sie sich über ihr Verhalten aufregt, weil sie nichts wegräumen, ständig vor Bildschirmen hocken oder freche Antworten geben oder sie schimpft mit mir, weil ich mich angeblich nicht genug um sie kümmere, weder darum, sie zu disziplinieren noch um ihre Sorgen und Nöte. Warum fängt sie gerade jetzt damit an? Wo ich so vieles regeln und umorganisieren muss? Heute Nachmittag zum Beispiel hatte ich ein Trauergespräch. Eine sehr alte Dame ist an dem Corona-Virus verstorben. Wir haben uns im Garten getroffen, mit Masken. Das war befremdlich. Aber wie soll ich einen Menschen würdig bestatten, wenn ich nicht einmal von Angesicht zu Angesicht mit seinen Angehörigen gesprochen habe?
Jetzt muss ich diese Trauerrede vorbereiten und es fällt mir sehr schwer, war die Verstorbene in ihrer Jugend doch eine glühende Verehrerin des Führers gewesen und auf ihre alten Tage wohl oft in diesen Modus zurückgefallen. Zum Glück darf die Rede nicht lang sein, aber das kann es auch besonders schwierig machen.

Sonntag, 19. April Zwischenbilanz
Über einen Monat leben wir jetzt schon in diesem Ausnahmezustand. Es geht uns immer noch vergleichsweise gut, es ist ja auch wieder reichlich Mehl und Klopapier vorhanden, die Hamsterkaufwelle ist vorüber, die Mehrheit der Menschen bleibt vernünftig, aber man wird auch dünnhäutiger, die Nerven liegen blank, niemand weiß wann es wie weitergeht, man kann nichts planen. Wenn ich zwischendurch im Gemeindebüro bin, habe ich das Gefühl von Phantomarbeit. Wir rödeln und diskutieren, planen und schreiben, heften ab, telefonieren, lesen und versenden, aber eigentlich tun wir nichts für die Menschen, sehen niemanden und werden nicht gesehen. Natürlich bin ich froh, dass ich zum Arbeiten auch mal das Haus verlassen kann, mich in anderen geschlossenen Räumen bewege, denn zu Hause kann ich der Familie kaum ausweichen. Alle Räume gehen so offen ineinander über, der einzige Rückzugsort ist mein winziges Büro. Das hat mich früher nie gestört, ich war ja vormittags in der Woche immer allein zu Hause, bin zwischendurch mal in die Küche gegangen, um mir einen Kaffee zu kochen und wurde dabei nicht aus meinen Gedanken gerissen. Jetzt ist die Tür meines Büros die Schwelle zum lärmenden Chaos. Da ist das Gemeindebüro eine willkommene Abwechslung; ganz besonders wenn ich allein dort bin.

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Samstag, 16. Mai 2020
Quarantäne – Kurzkrimi in 8 Teilen – 2. Teil
Sonntag 22. März
Die Nachrichten dieser Woche haben mich sehr nachdenklich gemacht. Was geht vor in den Leuten, die massenweise Lebensmittel in ihren muffigen Kellern horten, nur um diese voraussichtlich in ein paar Monaten über den Hausmüll zu entsorgen? Wer braucht zwanzig Kilo Mehl auf Vorrat? Ist es wirklich die Angst vor dem Verhungern oder nur die immerwährende Sorge, zu kurz zu kommen, ganz egal, worum es geht, dass am Ende die Nachbarn noch Kuchen backen können, während man selber zum Bäcker laufen muss? Lebensmittel als Statussymbol. Eigentlich auch eine interessante Entwicklung, wenn es dabei nur nicht so unmenschlich zuginge. Ich denke an diese Blicke der übelgelaunten Dauershopper, die rüde und mit heruntergezogenen Mundwinkeln mit dem Einkaufswagen durch die Supermarktgänge pflügen und alles hineinwerfen, was besonders knapp ist. Oder diejenigen, die sich gegenseitig das Toilettenpapier aus den Einkaufswagen fischen. Einfach würdelos.
Und dann sehe ich die Bilder über die Zustände in Indien, wo Menschen nichts mehr zu essen bekommen, von Hygieneschutz ganz zu schweigen. Oder in Südafrika, wo sechs Menschen auf zwölf Quadratmetern zusammengepfercht über Wochen eine Ausgangssperre hinnehmen müssen und dann haben sie noch nicht einmal Wasser im Haus, müssen kilometerweit laufen, um es ran zu schaffen. Wie privilegiert wir doch sind: Wir leben in ziviler und sozialer Sicherheit, wir haben viel Platz im Haus und einen großen Garten und im Homeoffice konnte ich schon vor Corona arbeiten. Ich kann getrost ausharren.

Sonntag, 29. März
Allmählich wird es anstrengend. David sitzt nur noch vor dem Laptop oder wischt, wenn er sich ausnahmsweise außerhalb seines Zimmers befindet auf dem Smartphone herum. Mit ihm ist kein vernünftiges Gespräch mehr möglich. Vielleicht hätte ich ihn doch in einer anderen Gemeinde zum Konfirmandenunterricht anmelden sollen. Dreizehnjährige brauchen Abstand von den Eltern. Ach ja, Abstand halten muss er jetzt von allen außer den Eltern - und seiner verhassten kleinen Schwester. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich so oft joggen geht, er sieht meistens gar nicht verschwitzt aus. Vermutlich trifft er sich heimlich mit Freunden.
Bei Sarah, meinem Sonnenschein ziehen allmählich auch düstere Wolken auf. Sie braucht ständig Zuwendung, will, dass wir alle zusammen ein Spiel spielen, braucht Hilfe bei den Schularbeiten, bettelt darum, sich doch wenigstens mit der besten Freundin treffen zu dürfen. Was kann man einer Achtjährigen anbieten außer Gesellschaftsspielen, zu denen man eigentlich keine Zeit hat und Fernsehen, das man eigentlich begrenzen muss? In der ersten Woche war es ja noch ganz spannend, so wie das Kerzenlicht bei einem Stromausfall, wo man plötzlich wieder entdeckt, wie aufregend es sein kann, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Aber wenn man eine Woche lang keinen Strom mehr hat, wird es brenzlig. Hier fängt es auch an zu schwelen. Jedenfalls würde ich gern eingreifen, klarere Grenzen setzen, aber Jennifer hält dagegen, man müsse den Kindern ihren Frust zugestehen, sie ständen genauso unter Anspannung wie wir Erwachsenen, vielleicht sogar viel mehr und sie hätten noch nicht das seelische Rüstzeug, in so einer Krise geduldig auszuharren, dazu fehlt es ihnen an Erfahrung.
Ich möchte nicht wissen, was in den beengten Dreizimmerwohnungen der Unterprivilegierten vor sich geht, welche Eskalationen der Gewalt sich dort gerade abspielen, wo betrunkene Erwachsene ihre Anspannung versuchen loszuwerden, indem sie auf ihre wehrlosen Kinder einprügeln oder sich sogar sexuell an ihnen vergehen. Und gerade in dieser Zeit sieht niemand hin, weil alle nur mit sich selbst beschäftigt sind.


Sonntag, 5. April Die fleißigen Kirchgänger beklagen sich, dass nach wie vor kein Gottesdienst stattfindet und die Angebote auf der Gemeindehomepage viel zu lieblos zusammengeschustert sind. Die haben vielleicht Probleme. Sollten mal über den Tellerrand gucken, zum Beispiel nach Afrika oder Indien, nach England oder in die USA oder nach Italien oder Spanien. So viel Elend, so viele Tote, so eine miserable medizinische Versorgung, so ein schlechtes Management. Und die regen sich auf über ein fehlendes Gottesdienstangebot. Sollten mal einfach das Evangelium leben, statt sich Sonntags morgens ihre wöchentliche Portion geistlicher Anregung zu holen wie ein Voyeur, der sich bei regelmäßigen Besuchen in Sexfilmkabinen die Befriedigung verschafft, die seine Gier vorübergehend stillt. Die sehen Gottesdienst als Dienstleistung, die sie in Anspruch nehmen, damit sie sich wohlfühlen. Wellnessprogramm für die Seele. Dafür bezahlen sie schließlich Kirchensteuer. Wenn es um Nächstenliebe geht, schalten sie die Hörgeräte ab. Manchmal glaube ich, wir müssten unser Gottesdienstangebot radikal verändern, damit endlich die richtigen Leute in die Kirche kommen, die es brauchen und die dann auch etwas daraus machen, etwas weitergeben.

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