Freitag, 11. Oktober 2019
schon 1975 - ein Mörder unter uns -
Der folgende Text ist das zweite Kapitel aus dem Roman "Brauseflocken - totes Kind, liebes Kind" von Cristina Fabry

Der Bus mit der Klasse 3a der Nordhemmer Grundschule bog gemächlich auf den Parkplatz des Zoos Osnabrück ein. Wie ein Sterbender Wal spie er die lärmende Kinderbande aus, von der die ersten schon zielstrebig Richtung Eingang rannten, als Herr Kowalski, der Klassenlehrer sie energisch zurück pfiff.
„So, jetzt stellt euch mal schön alle in einer Zweierreihe auf, damit Euch die Leute an der Kasse auch zählen können, und ihr bleibt ganz dicht hinter mir.“
Die dicke Petra und die rote Cornelia bildeten das erste Paar hinter dem Grundschullehrer. Seine kalkweißen Beine steckten oben in grauen Herren-Shorts mit Bügelfalte und unten in Socken mit in gedeckten Farben gehaltenem Rautenmuster und braunen Ledersandalen. Die langen, schwarzen Haare, die sich sogar auf den blassen Oberschenkeln kringelten, ließen die Mädchen in albernes Gekicher ausbrechen. Herr Kowalski übte sich in souveräner Ignoranz und führte die Kinder zur Kasse, wo er eine Gruppenkarte löste. Dann verkündete er: „Ihr dürft jetzt in Gruppen zu mindestens drei oder auch mehr Kindern durch den Zoo laufen. Wir treffen uns in zwei Stunden, also um halb zwölf am Spielplatz, der ist da vorne. Da könnt ihr dann noch eine halbe Stunde spielen oder zum Kiosk gehen. Um Punkt zwölf sammeln wir uns am Ausgang und gehen gemeinsam zum Bus. Keiner verlässt vor mir den Zoo. Habt Ihr noch Fragen?“
„Herr Kowalski“, meldete sich Henning, „ich habe keine Uhr.“
„Überall im Zoo hängen welche“, erklärte der Lehrer und ansonsten könnt ihr ja auch die anderen Zoobesucher fragen. Sonst alles klar?“
Zustimmendes Gemurmel ertönte.
„Na dann ab mit euch!“
Petra und Cornelia wurden sofort von Nicole angesteuert, Angela und Iris taten sich zusammen und nahmen noch Birgit mit ins Boot. Zu Beginn blieben zunächst alle Kinder auf einem Haufen. Aber während Petra Cornelia und Nicole das unglaubliche Rosa der Flamingos eingehend bewunderten, rannten einige Jungen sofort ins Tropenhaus zu den Schlangen und Echsen, andere zu den Elefanten und Angela, Iris und Birgit sahen sich brav alle Vogelarten an, die der Zoo zu bieten hatte. Beim Elefantengehege trafen sich die beiden Mädchenkleeblätter.
„Guck mal, der kleine Elefant!“, rief Nicole. „Sieht der nicht putzig aus?“
„Ja, der ist wirklich süß.“, bestätigte Cornelia, während Petra mit den Schultern zuckte.
„Sieht doch genauso aus wie die Großen, nur kleiner.“
Eine Elefantenkuh trompetete energisch. Birgit fuhr vor Schreck zusammen und Iris tätschelte ihr zur Beruhigung den Rücken. „Die sind ja eingesperrt.“, beschwichtigte Angela sie.
„Birgit, hast du etwa Angst vor dem Elefanten?“, fragte Petra. „Was machst du erst, wenn du Tiger siehst? Pisst du dir dann in die Hose?“
Birgit schwieg errötend.
„Du bist so gemein.“, tadelte Cornelia Petra, kicherte aber beifällig. Nicole schwieg.
Beim Bärengehege standen Jörg, Andreas, Michael und Eckhart. Sie trommelten sich auf die Brust, um die Bären zu provozieren. Petra baute sich vor den Jungen auf und stemmte die Hände in die stämmigen Hüften. „Habt ihr einen an der Pfanne?“, fragte sie großkotzig. „Das sind doch keine Gorillas.“
„Die Weiber.“, stöhnte Andreas. „Ihr seid doch selber nicht ganz klutendicht.“
„Wo sind eigentlich die Gorillas?“ fragte Michael.
„Das Affenhaus ist da hinten.“, rief Nicole eifrig und mit großen Augen. „Ich weiß das, ich war hier schon mal mit meinen Eltern.
„Na und?“, fragte Andreas blasiert, „Ich war hier schon öfters.“
„Ach“, hakte Nicole nach, „und weißt du auch wie die Bären da heißen?“
„Klar. Die heißen Manni, Tommi und Fridolin.“
„Bist du doof!“, tadelte Nicole ihn. „Das sind Braunbären und Schwarzbären.“
„Und Eisbären.“, ergänzte Eckhart.
„Quatsch!“, widersprach Cornelia. „Die Eisbären sind weiter hinten.“
„Woher willst du das denn wissen, Streuselkuchengesicht?“, fragte Jörg. „Wohnst du hier im Zoo?“
„Nee“, antwortete Cornelia, „aber ich war auch schon öfter mit meinen Eltern hier. Wir fahren nämlich manchmal nach Osnabrück zum Einkaufen und danach noch in den Zoo.“
„Zum Einkaufen?!“, krakeelte Andreas, „das kann man doch auch in Nordhemmern.“
„Aber keine Anziehsachen.“
„Doch, bei Niemanns.“, widersprach Jörg.
Jetzt mischte Petra sich ein: „Da gibt’s doch nur Schlüpfer und Schlipse.“
„Die haben auch Hemden und Hosen.“, widersprach Eckhart.
„Aber was für welche.“, schloss Petra die Diskussion und musterte Eckhart von oben bis unten mit aller ihr zur Verfügung stehender Herablassung. Die Jungen stürmten zum Affenhaus, wo schon die nächsten Opfer auf sie warteten. Während Angela, Iris und Birgit sich still über die faszinierende Menschenähnlichkeit der Paviane auf dem Affenfelsen amüsierten, boten die Jungen die perfekte Parodie der Zwergprimaten. Die Mädchen bemühten sich, sie zu ignorieren, aber echte Affenmännchen duldeten keine Respektverweigerung. „Ey, guck mal!“, brüllte Andreas vor Vergnügen. „Der Affe da vorne hat genauso ‘n roten Arsch wie Angela Kreft!“
Angela trug eine hellrote Cordhose und die Jungen brachen in ein lautstarkes und bewegungsintensives Gelächter Kollektivgelächter aus.
„Aber die da vorne“, rief Jörg, „bei der ist der Hintern genauso dick wie der von Petra Gieseking.“
„Und guck dir mal die Titties an!“, schrie Andreas. „Petra Pavian. Die frisst den anderen Affen bestimmt immer die ganzen Süßigkeiten weg!“
„Doofmänner!“, schnaubte Iris. „Ihr seid doch selber blöde Affen!“
Mit eiligen Schritten zogen die Mädchen weiter zu den Schimpansen und Gorillas. Birgit erklärte: „Mit Jungen, die Arsch und andere schlimme Wörter sagen, soll ich überhaupt nicht spielen.“
„Ach, das mit dem Arsch fand ich gar nicht so schlimm.“, erklärte Angela. „Aber dass sie gesagt haben, dass Petra einen dicken Hintern hat, das war so fies.“
„Und erst recht das mit dem Busen.“, erklärte Iris. „Petra kann doch nichts dafür, dass das bei ihr schon anfängt zu wachsen.“
„Das kann ja auch eine Krankheit sein.“, bemerkte Birgit altklug und alle drei fühlten sich den bösen Jungen moralisch haushoch überlegen, obwohl sie sich heimlich, jede für sich ein bisschen freuten, dass Petra und nicht sie die Zielscheibe dieser Schmähungen war, zumal Petra ihnen gegenüber nicht mit kleinen Demütigungen geizte. Aber sie war auch witzig, feierte rauschende Geburtstagsfeste und wohnte auf einem Bauernhof im Dorfkern, der grandiose Möglichkeiten zum Spielen bot.
Die meisten Kinder beeilten sich mit dem Rundgang durch den Zoo, damit noch genug Zeit für den spektakulären Spielplatz blieb, dessen Existenz sich längst herumgesprochen hatte. Die größte Attraktion stellte eine echte, ausrangierte Lokomotive dar, klassisch schwarz-rot lackiert, mit allen erdenklichen Hebeln und Rädchen, die insbesondere die Technik-begeisterten Kinder faszinierten.
Die Jungen erhoben zunächst alleinigen Anspruch auf diese Projektionsfläche männlich-frühkindlicher Berufsträume – schließlich nahmen sie erst seit kurzem am gemeinsamen Handarbeitsunterricht teil, von dem sie noch im letzten Schuljahr - im Gegensatz zu den Mädchen - befreit gewesen waren. Als Iris und Angela das Führerhaus erklommen, versuchte Andreas, sie umgehend auf ihren Platz zu verweisen. „Hier gibt’s nichts für Weiber!“, fuhr er sie an. „Geht schaukeln!“
„Du hast hier gar nicht zu bestimmen!“, erwiderte Iris und setzte den ersten Fuß in das Führerhaus. Andreas versetzte ihr einen Stoß, sie strauchelte, konnte sich aber gerade noch festhalten.
„Bist du doof?“, rief Heiko. „Du kannst doch nicht einfach die Mädchen runter schubsen!“ Ritterlich reichte er erst Iris und dann Angela die Hand und zog sie ins Führerhaus.
„Aber Weiber haben hier nichts zu suchen!“, protestierte Andreas.
„Ach quatsch, ist doch egal.“, sagte Eckhart. „Guck mal, die Uhr hier. Ob wir den Zeiger wohl dazu kriegen, dass er sich bewegt?“
„Vielleicht gibt es irgendwo ein Rohr, wo man rein pusten kann.“, überlegte Andreas „Ich geh mal unter die Lok und guck nach.“
Der selbst ernannte Kapitän verließ das erodierende Schienenschiff, um sich mit der Technik außerhalb des Führerhäuschens vertraut zu machen. Er legte sich unter die Lok wie ein KFZ-Mechaniker unter seinen Patienten und suchte Fachlichkeit suggerierend akribisch nach Öffnungen, in die er seinen Odem blasen konnte. Indes entschloss sich Nicole, deren immer wachen Adleraugen nichts entging, umgehende das Führerhäuschen der Lok zu besteigen, um ja nichts von den sich dort abspielenden,
geschlechtsheterogenen Ereignissen zu verpassen. Es war schon schlimm genug für sie, dass sie nicht das erste Mädchen unter den ganzen Jungen war, sie wollte auf keinen Fall das Letzte sein und erst recht nicht eine von denen, die vom Rand aus zusahen. Sie erklomm die steilen Stufen und aus dem von goldblonden Locken gerahmten Gesicht blickten kugelrunde, himmelblaue Augen neugierig ins Innere.
„Guck mal, wie hoch das hier ist.“, sagte Angela, die am offenen Ende der Lok nach unten sah. Sie machte eigentlich Platz für Iris, an die sie die Aufforderung gerichtet hatte, aber Nicole schoss in die Lücke und blickte wissbegierig nach unten. „Ehrlich, ganz schön hoch.“, bestätigte sie, als sie plötzlich erschrocken zusammenfuhr, weil zwei Hände sie heftig an den Schultern packten und jemand rief: „Hätt ich dich nicht gehalten!“ Sie sah sich kurz um und erblickte Eckhart. Die Wärme seines Körpers und die Nähe seines Gesichts, in dem sie plötzlich jedes Muttermal erkennen konnte, trieben ihr eine zarte Röte ins Gesicht.
Irgendwann wurde die Lok dann doch langweilig und die Kinder verteilten sich zunehmend auf Klettergerüste, Turnstangen, Schaukeln und ein mechanisches Kinderkarussell, das sie selbst anschieben mussten. Die mit dem größten Bewegungsdrang konnten sich hier austoben, die etwas Gemütlicheren genossen die freie Fahrt. Es gelang ihnen, sich friedlich abzuwechseln und Herr Kowalski blickte von einer Bank aus zufrieden zu und zog genüsslich an seiner Pfeife.
„Lasst mich auch mal anschieben.“, Iris drängte energisch an einen Griff, an dem man das Karussell in Bewegung setzten konnte und gab Vollgas.
„Du bist ja voll lahm!“, maulte Andreas und Iris, die es ihm zeigen wollte mobilisierte alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte, doch ihr war, als versuche sie unter Wasser zu sprinten. Schmerzhaft und schneidend klang das raue Gelächter der Jungen in ihren Ohren und die triumphierenden Blicke einiger Mädchen trafen sie wie Nadelstiche. Diesmal sprang ihr kein rettender Heiko zur Seite, er beachtete sie nicht einmal. Enttäuscht gab sie auf und stellte sich bei den Schaukeln an. Aus der Entfernung beobachtete sie nun, wie die sommersprossige, rothaarige Cornelia, mit ihren drahtigen, muskulösen Beinen gemeinsam mit der bildhübschen Nicole das Gerät in Bewegung setzte. Sie brachten das Karussell richtig in Fahrt und lachten dabei, als täten sie das mit Leichtigkeit. Sie hätte gern dazu gehört, wäre auch gern fröhlich lachend im Kreis gerannt, zur Freude der anderen Kinder. Aber Iris gehörte nirgends dazu. Sie war weder dumm, hässlich, tollpatschig noch irgendwie verhaltensauffällig, aber sie fand zu den Spielen der anderen Mädchen keinen richtigen Zugang und die Jungen, denen sie sich so verbunden fühlte, mit denen sie so gern herum getollt wäre und die wilden Spiele gespielt hätte, die sie mit ihrem Spielkameraden Peter gespielt hatte, nahmen sie nicht ernst, und jedes Mal, wenn sie versuchte, sich zu beweisen, scheiterte sie. Peter hatte sich im letzten Jahr auch plötzlich zurückgezogen und sie als Viertklässler gar nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Als sie lange genug geschaukelt hatte und wieder abgesprungen war, kamen Cornelia und Petra auf sie zu. „Iris, machst du mit beim Gummitwist?“, fragte Cornelia.
„Ja, ist gut.“, antwortete sie.
„Darf ich zuerst?“, fragte Petra und die anderen beiden waren einverstanden. Cornelia und Iris spannten das zusammengeknotete Schlüpfer-Gummi um ihre Fußgelenke und Petra vollzog trotz ihrer nicht unerheblichen Leibesfülle ausgesprochen geschickte und wendige, fehlerfreie Sprungfiguren.
„Wieso macht Nicole eigentlich nicht mit?“, fragte Iris.
„Die will sich noch ein bisschen von Eckhart auf dem Kinderkarussell festhalten lassen.“, erklärte Cornelia und wies kichernd auf das zärtliche Idyll, in dem Nicole aufgeregt lachend auf dem einen Sitz saß und hinter ihr Eckhart, der sie beharrlich an den Schultern hielt und aus Leibeskräften schrie: „Nicht aufgeben! Festhalten! Ich halte dich! ich bin dein feiner Held! Ich kämpfe für Frauen und Gerechtigkeit!“
„Na Petra“, fragte Cornelia schelmisch, „soll ich Eckhart mal fragen, ob er dich bei der nächsten Runde Gummitwist festhält? Vielleicht küsst er dich sogar.“
„Iii!“, rief Petra. „Bevor ich mich von dem küssen lasse, schmier ich mir lieber ‘n Mettwurstbrot.“
„Andreas ist aber schlimmer.“, warf Iris ein.
„Och“, sagte Petra nur und konzentrierte sich voll auf die Sprünge der dritten Schwierigkeitsstufe, bei der das Gummi auf Hüfthöhe gespannt war. Sie machte einen Fehler.
„Abs!“, riefen Cornelia und Iris im Duett.
„Iris, willst du?“, fragte Cornelia und Iris, dankbar nicht schon wieder die Letzte zu sein, stimmte zu. Angela näherte sich schüchtern. „Darf ich mitmachen?“, fragte sie zaghaft.
„Klar.“, antwortete Petra gönnerhaft. „Aber nach Iris ist erst Conni dran.“
„Ja, klar.“, ergab sich Angela in ihr gewohntes Schicksal. Sie war eine von denen, die immer und überall übersehen wurden. Das glanzlose, aschblonde Haar stand ihr Frisur-los vom Kopf ab, die samtgrünen Augen waren zu klein und standen ein wenig zu weit auseinander, um ihre Wirkung zu entfalten und die vollen, fleischigen Lippen wirkten in ihrem kastenförmigen Gesicht irgendwie deplatziert. Es mangelte ihr an Inspiration, Initiative und Schlagfertigkeit. Sie störte niemanden, aber sie wurde auch nicht sonderlich geschätzt.
Als alle vier Mädchen einmal dran gewesen waren, stellte Cornelia fest: „Wir haben nur noch eine Viertelstunde. Gehen wir noch in den Kiosk?“
„Au ja!“, rief Petra und stürmte voran. Im Zoo-Kiosk gab es neben allen erdenklichen Süßigkeiten auch jede Menge Souvenirs, billigen Schmuck und Nippes. Voller Begehren betrachteten die Mädchen die Auslagen. Petra kaufte sich eine Kette aus zylinderförmigen, weißen Plastikperlen, in dem festen Glauben, es handele sich um echtes Elfenbein und außerdem noch zwei Schokowaffeln. Cornelia erstand eine kleine Robbe, die sie ihren Eltern mitbringen wollte und drei Tüten Brausepulver. Iris und Angela hatten kein Geld dabei. Ihre Eltern waren überhaupt nicht auf die Idee gekommen. Schließlich war der Eintritt bezahlt, sie hatten den Kindern Brote, Obst, etwas zu trinken und ein paar Kekse mitgegeben, das war mehr, als sie normalerweise an einem Vormittag verputzten. Mit blutendem Herzen blickten sie nun auf das überwältigende Süßwarenangebot und Iris betrachtete sehnsüchtig eine schlichte, silberfarbene Halskette mit einem geschliffenen Glasstein, der an der Rückseite mit Metallic-Lack in den Farben des Regenbogens beschichtet war, so dass er die facettenreichen Lichtbrechungen eines vollendeten Brillanten imitierte. Diese Anhänger gab es in den 70er Jahren an den Kiosken eines jeden Ausflugsziels. Iris hatte sie schon oft bewundert, aber nie waren ihre Eltern bereit gewesen, Geld für so eitlen Tand auszugeben.
Cornelias feine Antennen, die bei ihr früher ausgeprägt waren als bei ihren Altersgenossinnen, verrieten ihr, wie sehr Iris und Angela unter ihrer Mittellosigkeit litten. Sie ertrug es nur schwer, wenn andere offensichtlich unglücklich waren. „Ich kann euch was leihen.“, bot sie den beiden großzügig an. „Ich habe noch eine Mark zwanzig, die brauche ich nicht, dann könnt ihr euch auch noch was kaufen.“
„Nee, lass mal.“, antwortete Iris, denn sie wusste ja, dass sie Cornelia das Geld nicht zurückzahlen konnte. Angela dagegen nahm das Angebot an. Sie wusste nämlich, wo ihre Mutter das Portemonnaie für ihre Einkäufe aufbewahrte und konnte so unbemerkt das Geld stibitzen, das sie Cornelia am folgenden Tag zurückzahlen würde. Dabei blieb sie aber bescheiden. „Kannst du mir 20 Pfennig leihen?“ „Klar.“, sagte Cornelia und gab ihr das Geld. Angela kaufte ebenfalls zwei Tüten Brausepulver und schenkte eine davon Iris.“
Iris war überwältigt. „Aber das ist doch deine.“, sagte sie. „Du musst mir doch nichts abgeben.“
„Doch. Die schenke ich dir.“, sagte Angela beharrlich und Iris bedankte sich.
Als die Kinder wieder den Bus bestiegen, erlebten sie eine Sensation: Nicole und Eckart setzten sich nebeneinander und das Gekicher und Getuschel nahm kein Ende.
Sie waren schon eine Weile unterwegs, da hörte Iris, wie Jörg sich wispernd an Petra wandte: „Ich weiß was von Nicole.“, tuschelte er und flüsterte Petra dann etwas ins Ohr, was für Iris unverständlich blieb. Petra kicherte begeistert und gab das Gehörte ebenso geheimnisvoll an Cornelia weiter. Überall im Bus wurde geflüstert und Iris Neugier, was es wohl so Spannendes von Nicole zu erfahren gab, wich einer wachsenden Furcht, dass es sich nicht etwa um einen Nicole betreffenden Skandal handelte, sondern dass Nicole etwas ausgeplaudert hatte, was sie, Iris, ihr anvertraut hatte, denn niemand weihte Iris in die Sensationsmeldung ein, statt dessen grinsten sie alle nur scheel an und wandten sich dann kichernd ab.
Vor wenigen Wochen hatte Nicole sich mit Iris zum Spielen verabredet. Sie hatten Nicoles Kaninchen gestreichelt, hatten mit ihren Barbiepuppen gespielt und schließlich auf dem Rasen Kränze aus Gänseblümchen geflochten, das heißt, Nicole hatte einen Kranz geflochten, Iris hatte es nur erfolglos versucht, da halfen auch Nicoles fachfrauliche Ratschläge nicht. Sie hatten sich über die Jungen in ihrer Klasse unterhalten und das Gespräch war auf Heiko gekommen.
„Heiko ist richtig nett, finde ich.“, sagte Iris. „Die anderen Jungen sind immer so doof und gemein und ärgern. Aber Heiko überhaupt nicht.“
„Stimmt.“, gab Nicole ihr Recht. „Und der sieht auch süß aus. Der hat so braune Augen, die finde ich toll.“
„Ja, braune Augen finde ich auch toll. Und im Sommer wird der auch immer so schnell braun, das sieht total schön aus.“
„Ja, er sieht gut aus und er ist nett. Würdet du Heiko mal heiraten?“, fragte Nicole.
Iris wurde rot und starrte auf die Gänseblümchen in ihren Händen, während Nicole sie verstohlen musterte. Dann antwortete sie: „Weiß nicht. Ich will ja jetzt noch nicht heiraten.“
„Aber du bist ein bisschen verliebt, gib es zu!“
„Na ja, ein bisschen schon.“
„Also ich könnte mir gut vorstellen, Heiko mal zu heiraten.“, überlegte Nicole. „Du heiratest ja auch bestimmt mal Peter.“
„Das glaube ich nicht.“, erwiderte Iris. „Wir spielen auch gar nicht mehr zusammen.“
„Na ist ja auch egal.“, antwortete Nicole. „Wollen wir wieder rein gehen? Mir ist kalt.“
Jetzt saß Iris mit klopfendem Herzen im Bus, fassungslos über den Verrat, mit einem Rest Hoffnung, dass Nicole vielleicht doch nichts ausgeplaudert hatte, weil Iris ja genauso herumerzählen konnte, dass Nicole ebenso in Heiko verknallt war wie sie. Nur, auch das war ihr klar, hätte ihr das niemand geglaubt, weil aktuell alle davon überzeugt waren, dass Nicole und Eckhart ein Paar waren.
Am kommenden Tag spielten die Mädchen in der großen Pause ihr Lieblingsspiel: Alle stellten sich in eine Reihe mit dem Rücken zur Wand. Ein Mädchen stellte sich der Gruppe gegenüber und sang ein Lied, in dessen Rhythmus sie immer vor und zurück marschierte. Petra war diejenige, die diese Aufgabe gewählt hatte. Sie sang und steigerte die Spannung, bis sie zu den entscheidenden Zeilen gelangte: „...die Nicole saß am Fenster und knackte eine Nuss, und knackte eine Nuss, da kam der liebe Eckhart und gab ihr einen Kuss. Der Eckhart hat geschrieben, ich liebe dich so sehr, ich liebe so sehr. Ich liebe keine andre, als dich mein gold‘ner Stern.“
Das Gelächter war groß, aber Nicole, sich Eckharts Gegenliebe gewiss, lachte strahlend und selbstbewusst und steckte mit Petra die Köpfe zusammen, um gemeinsam das nächste Opfer auszusuchen. Iris war furchtbar aufgeregt und dann kamen die entscheidenden Zeilen: „...die Conni saß am Fenster...“
Erleichterung breitete sich von Iris Körpermitte bis in die Zehen und Fingerspitzen aus, während Cornelia ängstlich erblasste.
„...und knackte eine Nuss. Da kam der liebe Stefan...“
Entsetzt schlug sich Cornelia die Hände vors Gesicht und rief: „Nein, der ist eklig!“ und alle lachten begeistert. Nun war auch Cornelia vor weiteren Angriffen sicher und trat mit Petra und Nicole zusammen, um die nächste Demütigung auszuhecken. Angela hoffte heimlich, die Wahl würde auf sie treffen, damit sie auch einmal das nächste Opfer bestimmen konnte, aber sie wagte kaum, darauf zu hoffen und die farblose Birgit tat das noch viel weniger. Was hätte Iris in diesem Moment darum gegeben, mit ihnen zu tauschen, denn es bestand ja nach wie vor das Risiko, dass sie als nächste dran kam.
„...die Iris saß am Fenster...“
Sie hörte den Pulsschlag in ihren Ohren hämmern.
„... und knackte eine Nuss, und knackte eine Nuss, da kam der liebe Heiko und gab ihr einen Kuss...“
Glutrot ließ Iris die Prozedur über sich ergehen und als wenn das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kam in eben diesem Augenblick Heiko den Mädchen bedrohlich nahe, um einen verloren gegangenen Ball aus den Büschen zu holen. Er horchte auf und rief dann: „Iris ist aber viel doller in Peter verknallt als wie in mich.“
Iris, einerseits dankbar für Heikos Entschärfung der Situation, empfand andererseits aufgrund ihres natürlichen Sprachgefühls und Empfindens für korrekte Grammatik einen sich auftuenden Graben gegenüber dem Objekt ihrer Begierde. Heiko mochte noch so schöne braune Augen und Arme haben, er sprach wie ein Vollidiot. Das tötete augenblicklich jedes zärtliche Gefühl in ihr ab. Nachdem sie die Peinlichkeit endlich überstanden hatte, gesellte sie sich mit Begeisterung zu den drei anderen Jury-Mitgliedern, beteiligte sich an der Auswahl und sang euphorisch das Lied mit: „Die Angela saß am Fenster und knackte eine Nuss...“

Wer ist denn nun wohl das Wesen mit der mörderischen, kriminellen Energie? Was glaubt Ihr und warum?

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Freitag, 4. Oktober 2019
Um die Ecke – ein Fortsetzngskrimi in mehreren Teilen – Teil 4 - Uschi
Ein Kunde noch, hatte die Chefin gesagt, dann konnte sie Feierabend machen. Wenn sie sich ranhielt, konnte sie sich den Klienten sogar aussuchen, heute war es voll, die nächste Schicht hatte alle Hände voll zu tun. Sie freute sich schon auf die Laufstrecke im Wald, die ausgiebige Dusche, den kuscheligen Hausanzug, den Becher heißen Kakao und das Binge Watching auf dem blauen Plüschsofa. So würde sie am Vorabend ihren freien Tag einläuten, um morgen dann einen netten Ausflug zu unternehmen und ihre alten Schulfreundinnen wieder zu sehen. Also musste sie jetzt sorgfältig auswählen, kein mieses Arschloch dessen Fratze, Stimme oder Geruch sich in ihrer Erinnerung festsetzte, niemand der Ärger machte.

Ihr Blick fiel auf einen Mann im fortgeschrittenen Alter, der etwas abseits an einem kleinen Tisch saß, vor sich den preiswertesten Cocktail und ein Gesichtsausdruck, der deutlich verriet, dass er zum ersten Mal hier war. Scheu und etwas aufgeregt sah er sich um, schien sich zu fragen, ob er hier wirklich richtig war. Er sah aus wie jemand, der bisher sein ganzes Leben hinter einem Schreibtisch verbracht hatte, wie jemand, der noch nie von einer Frau berührt worden war und wenn, dann höchstens im Dunkeln, unter der Bettdecke, mit gerade mal so viel beseite geschobener Nachtwäsche, dass sich die Erfüllung der ehelichen Pflichten umsetzen ließ.
Alle anderen taxierten mit routinierter Kennermiene das Angebot, einer unangenehmer als der andere. Sie zögerte nicht und steuerte auf den Bistrotisch zu.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte sie
„Ja, gern.“, stieß er heiser hervor. „Möchten Sie etwas trinken?“
„Ein Mojito Sinalco wäre toll.“
„Das kling ja interessant. Was ist da drin?“
„Limetten, frische Minze, Rohrzucker, sehr viel Eis und Sodawasser.“
„Kein Alkohol?“
„Nein, Darum heißt er Sinalco, sin alcohol ist Spanisch und heißt ohne Alkohol. Ansonsten sind es die gleichen Zutaten wie beim klassischen Mojito, es fehlt nur der kubanische Rum oder Cachaca.“
„Das klingt sehr gesund. Dann bestellen Sie sich doch bitte einen auf meine Rechnung.“

Schon bald lockerte der Alkohol in seinem Cocktail seine Zunge, sie überzeugte ihn, Brüderschaft zu trinken und besiegelte die Vereinbarung mit einem scheuen Kuss, das war genau die Anbahnung, die er brauchte.
„Johann heißt Du also.“, sagte sie schmunzelnd. „Klingt wie ein Diener.“
„Nanana“, tadelte er sie scherzhaft. „Eher wie ein berühmter Komponist. Ich heiße Johann, mein Sohn heißt Sebastian. Zusammen sind wir Bach.“
Er kicherte seehoferisch und es lief ihr ein wenig kalt den Rücken herunter. Bestimmt hatte er sich das alles ausgedacht, malte das Bild von sich, das er für erstrebenswert hielt. Wahrscheinlich hieß er Hans-Jürgen, war kinderlos und vollkommen unmusikalisch dazu. Sie mussten allmählich zur Sache kommen, sie wollte nicht den ganzen Abend hier sitzen. Also entschied sie sich für einen direkten Vorstoß: „Hör mal, Johann, du bist doch sicher nicht nur zum Plaudern hier her gekommen, oder?“
„Nein.“, erwiderte er und errötete feuermelderartig.
„Was hältst Du davon, wenn wir es uns in einem eigenen Zimmer gemütlich machen und da alles Weitere besprechen?“

Er nickte stumm. Sie stand auf, ergriff seine Hand und zog ihn hiter sich her. Sie schaltete die Beleuchtung auf warmes, gedimmtes Gelb, das an romantisches Kerzenlicht erinnerte – sündhaftes Rot verursachte bei diesem Typ Mann nur entsetzliche Hemmungen und sie hätte alle Hände voll zu tun, bis sie endlich zum Wesentlichen gelangten. Sie erklärte ihm kurz die Geschäftsbedingungen, er war einverstanden und dann begann sie, abwechselnd ihn und sich selbst auszuziehen.
Sie drückte ihn sanft auf die Matratze und zog alle Register, die sie in puncto Blümchensex auf Lager hatte. Er begann sich sichtlich zu entspannen und genoss es ausgiebig. Auf dem Gipfel der Lust hielt er die Luft an, das war nicht ungewöhnlich, doch dann kamen merkwürdige Geräusche, als versuche er vergeblich zu atmen, so als wenn sich Laub in einer Lüftung festgesetzt hatte. Sie sah ihn an, seine staunend aufgerissen Augen, das Gesicht verfärbte sich erst rötlich violett und schließlich blau. Dann schrillte die Alarmglocke in ihrem Kopf. Sie tastete nach seinem Puls und fühlte nichts. Sie kramte die Erinnerungen aus ihrem erste-Hilfe-Kurs hervor, versuchte eine Herzmassage und nach 30 Stößen eine Mund-zu-Nase-Beatmung, die sich aber als wirkungslos erwies, weil seine Nase verrotzt war. Musste sie ihn eben über den Mund beatmen. Dann wieder Massage und sie schrie, schrie aus Leibeskräften, sie brauchte Hilfe, sie konnte ihn nicht allein retten.

Marcel stürmte herein, bereit dem Freier die Eier zu brechen, doch dann sah er, was wirklich los war.
„Jetzt mach schon!“, schrie sie, „Hol einen Krankenwagen!“
„Der braucht keinen Krankenwagen mehr.“, stellte Marcel mit Kennermiene fest. „Kannst aufhören, auf ihm rumzureiten. Den müssen wir mit den Füßen zuerst raustragen. - Schöner Tod, so will ich auch mal abgehen.“
Uschi sprang auf und wollte ihm das Mobiltelfon aus der Tasche ziehen, doch er hielt ihre Handgelenke mit seinen Schraubstockpranken fest.
„Hör zu!“, zischte er. „Die Chefin will keinen Skandal. Wenn wir hier 'ne Leiche haben, rennen die Bullen hier rum und das ist verdammt schlecht fürs Geschäft. Der Freier ist mausetot und längst im Himmel, dem ist egal, was wir mit ihm anstellen. Also schaffen wir ihn weg. Du ziehst dir jetzt was an und ich hole die Chefin und dann entscheiden wir zusammen, was am besten zu tun ist.“

Es war die Chefin, die die geniale Idee mit der Fitness-Factory hatte. Sie zogen ihm gemeinschaftlich seine Kleidung an, Marcel nahm seinen Autoschlüssel, machte den Wagen ausfindig und fuhr ihn vor die Hintertür. Dann trugen sie die Leiche auf die Ladefläche des Kofferraums, fuhren gemeinsam auf den Parkplatz gegenüber der Muckibude, wo es unter dem Schatten der alten Linde etwas dunkel und wenig einsehbar war und verfrachteten den Leichnam auf den Fahrersitz.
Nachher rannte sie, als wolle sie sich die Seele aus dem Leib laufen, die Bilder verscheuchen, die Geräusche und Gerüche. Dabei wusste sie genau, sie würden sie nicht mehr loslassen.

ENDE

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Freitag, 27. September 2019
Um die Ecke – ein Fortsetzungskrimi in mehreren Teilen - Teil 3 - Hinrichsen
In seinem Kopf ging alles durcheinander. Gerade eben hatten sie die Talsohle durchschritten, das Licht am Ende des Tunnels gesehen und die frische Luft der neuen Freiheit geatmet und nun hatte sich das nächste Finanzloch aufgetan und der ganze Mist mit der Haushaltssicherung ging von vorn los. Wieder zwei Jahre Grabenkämpfe mit Gemeindeleitungen, die nur den eigenen Kirchturm im Blick hatten und Ressortleitende, die ihr eigenes Arbeitsgebiet für das allerwichtigste hielten.

Vaters Klinikaufenthalt ging zu Ende und sie mussten seine weitere Betreuung regeln. Das bedeutete, er musste es regeln, denn seine beiden Schwestern waren mittlerweile so hinfällig, dass er befürchtete, sich in naher Zukunft auch noch mit ihrer Pflege befassen zu müssen.

Sieglinde war ihm auch keine Stütze – sie wirbelte von morgens bis abends wegen ihrer Tafel umher, trug unendlich viel Verantwortung und die Zeit, die übrigblieb, benötigte sie für den Haushalt. Es war tatsächlich schon so weit gekommen, dass ihn zum Einkaufen oder Staubsaugen verdonnerte, wo er doch ein ganzes Erwerbsleben lang den Löwenanteil des Familieneinkommens beigesteuert hatte, Sieglinde sich dagegen immer nur mit ein paar Stunden in Teilzeit etwas dazu verdient und sich selbst verwirklicht hatte, damit sie nicht einrostete und ein wenig eigenes Geld besaß, das sie ohne schlechtes Gewissen für ihre persönlichen Bedürfnisse ausgeben konnte. Leider gehörte sie nicht zu den Frauen, die gern in einen stabilen Zustand ihres Seelengefäßes investierten. Sie bevorzugte Café-Verabredungen, Operetten-Besuche, elegante Handtaschen und sündhaft teure Wolle, aus denen sie individuelle Strickkreationen zauberte. An körperlicher Nähe war sie kaum interessiert und mittlerweile war er angesichts ihrer schwindenden Reize und fortgeschrittenen sexuellen Teilnahmslosigkeit äußerst dankbar für diese Entwicklung. Er selbst hatte durchaus noch erotische Bedürfnisse, verbot sich aber ausdrücklich, sein Begehren gegenüber den vom ihm favorisierten jüngeren Frauen zum Ausdruck zu bringen, da er über eine realistische Einschätzung seines Marktwertes verfügte. Er begnügte sich damit, sie anzusehen, ein klein wenig zu flirten und sich hernach im Kopfkino auszumalen, wie es wäre, wenn…

Saskia meldete sich immer seltener über Skype, war mit ihrem Klinikjob in Delaware glücklich und ausgelastet und manchmal musste er die Fotoalben aus dem Regal holen, weil er sich kaum erinnerte, wie sie aussah. Hatte er eine Tochter? Doch ja, aber er spürte nichts mehr davon.

Wie hatte er sich darauf gefreut, sich im Ruhestand endlich voll und ganz auf sein Ehrenamt konzentrieren zu können und trotzdem über ausreichend Muße zu verfügen, um ein gutes Buch zu lesen, ein eindrucksvolles Konzert zu genießen oder einen Waldspaziergang zu unternehmen. Stattdessen stand er gegenwärtig unter Dauerstress und niemand war da, der etwas davon vertreiben konnte durch Ausstreichen, Durchkneten, Wegpusten oder Kaputtlachen.

Aber dann kam alles anders. Nie hätte er geglaubt, dass er sich dazu hätte hinreißen lassen, aber nun passierte es. „Du bist der Boss,“ hauchte sie in sein Ohr und dann rutschte ihr fester Körper an seinem entlang, bis ihre Brüste genau da zum Einsatz kamen, wo er sie haben wollte. Ihm entfuhren laute Seufzer, soviel angestaute Lust brach sich in diesem Moment Bahn, dass der Boden unter ihm sich zu drehen schien und es in seinen Schläfen pochte, als seien Wichtel damit beschäftigt, an seiner Schädeldecke Erze abzubauen. Schließlich explodierte alles in ihm, ein wildes Kribbeln in Armen und Beinen, ein Schauer wie von Millionen feinster Regentropfen zog durch sein Rückenmark und sein Gehirn jubelte Hosianna, Halleluja und Heureka zusammen. Ihre zarten Fingerkuppen fuhren sanft durch sein Brusthaar und Schweißperlen liefen über seinen Oberkörper. Ihm war heiß. Dann fröstelte ihn; das kühlende Schwitzwasser tat seine Wirkung. Er nahm einen tiefen Atemzug, doch plötzlich kam er nicht mehr weiter, ein jäher Schmerz durchbohrte ihn, er bekam keine Luft, fühlte, wie es ihn zerriss, sah Vater und Mutter an der Kaffeetafel mit Großmutter und Tante Frieda, jagte Gisela durchs Unterholz, gab Sieglinde den ersten Kuss, trug Saskia auf dem Arm, erlebte seine erste Synode, versuchte den nächsten Atemzug und stürzte, stürzte, stürzte…

Fortsetzung folgt

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Freitag, 20. September 2019
Um die Ecke – ein Fortsetzungskrimi in mehreren Teilen – Teil 2 - Kerstin
Sie öffnete ihr E-Mail-Postfach und hätte sich am liebsten direkt übergeben. Wie das Abbild eines Horroclowns grinste ihr das Riesenbaby-Gesicht von Hinrichsen entgegen. Was wollte er denn jetzt schon wieder?

Viel zu oft hatte sie in letzter Zeit seine penetrante Gegenwart ertragen müssen, den Kontakt zu seinen fleischigen Pranken nicht vermeiden können, in seine wässrig blauen Augen sehen müssen und immer auf der Hut sein vor seinen Fallstrickfragen.

Er wollte die Kontrolle über sämtliche Finanzströme; nicht nur über die Kita-Konten, die beim Kirchenkreis geführt wurden, auch über die Einnahmen aus Elterninitiativen und wofür sie verwendet wurden. Als ob ihn das irgendetwas anginge, wenn die Eltern für ihre Kinder aktiv wurden und Mittel erwirtschafteten, um für die Kita neue Spielgeräte anzuschaffen.

Da es in der Vergangenheit schon einmal einen solchen Fall gegeben hatte, bei dem der Kirchmeister solche Einkünfte aus elterlichem Engagement verwendet hatte, um Haushaltslöcher zu stopfen, ahnte sie, dass seine permanenten Anfragen darauf zielten, sie als Kita-Leitung finanziell vollends zu entmündigen. Gepaart mit seiner väterlichen Überlegenheit, hinter der er seine hormonellen Begehrlichkeiten zu verbergen suchte, war dies ein ekelerregendes Gesamtpaket, dessen sie sich am liebsten umgehend entledigt hätte. Doch wie sollte sie das anstellen, ohne ihre Freiheit aufs Spiel zu setzen?

Fortsetzung folgt

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