Freitag, 11. November 2016
Ohrenbeichte - DREI JAHRE SPÄTER
Zufrieden legte der Pfarrer die Tageszeitung zusammen und murmelte: „Endlich.“
„Was heißt hier endlich?“, fragte Miriam aufmerksam. „Bist du so froh, dass ich mein Abi geschafft habe und mit einem auswärtigen Studienplatz hoffentlich bald ausziehe?“
„Darauf habe ich mich gerade nicht bezogen.“
„Worauf denn?“
Lange sah der Pfarrer seine Tochter schweigend an, dann schlug er seufzend die Zeitung auf, breitete sie vor seiner Tochter aus und zeigte auf folgenden Artikel:

„MUTTERMÖRDER RECHTSKRÄFTIG VERURTEILT.
Dem einundvierzigjährigen Olaf S. Hat das Oberlandgericht den Mord an seiner Mutter Inge S. Nun endgültig lückenlos nachgewiesen. Olaf S. bestreitet die Tat nach wie vor. Inge S. verstarb an einer Überdosis Schmerzmittel. Dabei sollte der Eindruck erweckt werden, das Opfer habe sich das Medikament selbst verabreicht. Tatsächlich fanden sich aber Fingerabdrücke und DNA-Spuren an entscheidenden Stellen, die die Gabe des Medikamentes durch den Tatverdächtigen bewiesen, während keine Fingerabdrücke der Mutter zu finden waren. Der Täter handelte offenkundig aus Habgier, da seine Mutter über ein erhebliches Vermögen verfügte, dessen Erbe an ihn fiel. Wegen besonders niederer Motive und der hinterhältigen Heimtücke, mit der der Beschuldigte vorgegangen sei, verurteilte das Gericht ihn zu einer lebenslamgen Freiheitsstrafe, die keinesfalls vor dem Ablauf von 15 Jahren enden wird.“

„Und?“, fragte Miriam. „Was interessiert dich so daran?“
Der Pfarrer setzte sich zurecht und gab seiner Tochter durch seine Körpersprache zu verstehen, dass sie sich auf ein längeres und ernsthaftes Gespräch einstellen musste. Dann sagte er: „Stell dir vor, der vermeintliche Mörder war gar nicht der Täter, aber er wäre in einem anderen Fall schuldig geworden, ohne bestraft zu werden, erheblich schuldig. Stell dir dann vor, dieser nicht verurteilte, völlig unbehelligt weiterlebende Schwerverbrecher hat eine Mutter, die schon lange nicht mehr leben will, unheilbar krank, so sehr, dass sie schon um Sterbehilfe gebettelt hat. Stell dir vor, jemand tut ihr den Gefallen, besorgt ihr ein Medikament, hilft ihr bei der Einnahme und trägt Handschuhe, damit er keine Spuren hinterlässt, aber er sorgt dafür, dass vorher die Spuren des Täters auf der Medikamentenschachtel und dem Blisterstreifen landen. Stell dir vor, jetzt wandert er wegen Mordes ins Gefängnis. Und stell dir vor, das wäre dein Vergewaltiger gewesen.“
Miriam starrte ihren Vater fassungslos an. „Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Du hast eine alte Frau ermordet und ihrem unschuldigen Sohn die Tat in die Schuhe geschoben?“
„Nein. So war das nicht. Erstens habe nicht ich das getan sondern jemand, den ich darauf angesetzt habe. Zweitens handelte es sich genau genommen um halbaktive Sterbehilfe. Die Dame hätte die Medikamente selbst aus der Packung geholt, wenn ihr Helfer nicht so zuvorkommend gewesen wäre. Und der Sohn war nicht unschuldig. Er hat es mir selbst gebeichtet.“
„Wann?“
„Vor drei Jahren, etwa fünf Monate nach der Tat.“
„Und warum hast du ihn verdammt nochmal nicht angezeigt? Warum hast du mir nichts davon erzählt? Schließlich ging es um mich!“
„Ich wollte dir das alles ersparen.“, rechtfertigte sich der Vater. „Außerdem hätte ich das Beichtgeheimnis verletzt, an das ich als evangelischer Pfarrer auch gebunden bin. Ich kann die Ohrenbeichte verweigern, aber wenn ich jemanden unter diesem Versprechen zuhöre, muss ich das Gehörte genauso für mich behalten wie ein katholischer Priester das muss. Das Schwein hat mir seine Tat haarklein beschrieben und sich noch an meinem Entsetzen aufgegeilt und sich darüber gefreut, dass ich nichts gegen ihn unternehmen kann. Ich habe ihn des Pfarrhauses verwiesen und ihm verboten jemals wieder das Grundstück zu betreten, dafür tauchte er dann regelmäßig im Gottesdienst oder bei Gemeindeveranstaltungen auf, grinste überlegen, machte dreiste, zweideutige Bemerkungen, die nur ich verstand. Ich habe dann schließlich einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt, der möglichst viel über ihn herausfinden sollte, damit ich einen Ansatz fand, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Nach einem halben Jahr hatte ich schließlich die Information mit der todkranken Mutter. Ich kenne einen ehemaligen Häftling aus meiner Zeit in der Gefängnis-Seelsorge, der hat das mit der Sterbehilfe übernommen, sich geschickt in das Leben der alten Dame gedrängt und ihr schließlich das Medikament verabreicht. Er hat vorher dafür gesorgt, dass der Täter es anfasst, ohne etwas zu bemerken, hat ihm KO-Tropfen verpasst. Er war gut darin, sich im Verborgenen zu halten, hatte mit der Mutter die Vereinbarung getroffen, ihre Freundschaft geheim zu halten, hatte einen Wohnungsschlüssel, von dem der Sohn nichts wusste usw. Dein Vergewaltiger wusste nicht einmal, dass dieser Freund seiner Mutter existierte.“
„Aber das ist Selbstjustiz!“
„Ja.“
„Und du sagst immer: Mein ist die Rache, spricht der Herr.“
„Ja.“
„Du hast Gott gespielt.“
„Ja, vielleicht, ein bisschen.“, gab der Pfarrer zu. „Aber warum auch nicht? Gott wohnt in jedem von uns. Von Zeit zu Zeit müssen wir ihn auch mal seine Arbeit machen lassen und für Gerechtigkeit sorgen.“
„Jetzt verstehe ich, was der alte Luther gemeint hat“, sagte Miriam deren innere Distanzierung von ihrem Vater nicht zu übersehen war, „wenn er sagte, du sollst den Herrn, deinen Gott über alle Dinge fürchten und lieben. Geliebt habe ich dich schon immer. Ich hätte nie gedacht, dass ich dich auch einmal fürchten würde.“
ENDE –
Hauptsächlich inspiriert von Birgit die Starke, aber irgendwie auch von allen anderen, Ich hatte viel Spaß bei diesem kleinen Projekt und plane nach ein paar Leckerbissen aus meinem aktuellen Roman einen interaktiven Krimi, bei dem ihr hoffentlich auch wieder alle mitschreibt. Danke!

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Freitag, 4. November 2016
Ohrenbeichte – ein offener Kurzkrimi
„Und Sie dürfen wirklich mit niemandem darüber reden, genauso wie ein katholischer Priester?“
„Das ist richtig. Die Schweigepflicht beziehungsweise das Beichtgeheimnis gilt auch bei uns.“
„Egal was Ihnen jemand erzählt?“
„Meinen Sie, auch, wenn jemand einen Mord begangen hat?“
„Ja, zum Beispiel.“
„Ja, das ist so. Ich werden ihm nahelegen, sich der Polizei zu stellen. Ich könnte der Polizei auch Hinweise auf Zusammenhänge geben, die mir nicht in der Beichte anvertraut wurden. Aber das, was der Mörder mir erzählen würde, müsste ich für mich behalten.“
„Na dann hören Sie mal zu.“ Er lehnte sich mit einem süffisanten Lächeln nach vorne, stützte die Ellbogen auf den Knien ab. Der Pfarrer lehnte sich entspannt zurück, war dabei aber neugierig und besonders aufmerksam.
„Ich hatte dieses Ziehen in der Körpermitte, wogegen nur eins hilft, Sie wissen schon.“
„Nein, ich weiß nicht, was sie meinen.“
„Herrgott, Sie sind doch auch ein Mann, der seine Frau zumindest gelegentlich zum Singen bringt oder haben Sie die Kinderproduktion autgesourced?“
„Ach so, nein, das sind schon auch unsere biologischen Kinder. Also, ich habe verstanden. Sie hatten ein sexuelles Bedürfnis.“
„Ja genau. Und zwar so eins, dass ich mir absolut nicht mehr verkneifen konnte. Das Problem war, ich hatte gerade keine Frau zur Hand. Und Glück im Spiel hatte ich auch nicht.“
„Glück im Spiel? Ich verstehe nicht recht.“
„Glück im Spiel, Geld für die Liebe.“, er zog das linke Unterlid mit dem Zeigefinger herunter und drehte dem Pfarrer das freigelegte Auge zu.
„Ach so, Sie meinen, Sie hatten auch nicht die Möglichkeit, sich in einem Bordell Erleichterung zu verschaffen.“
„Ganz genau. Ich war wirklich verzweifelt, mir kam der Saft schon aus den Ohren raus. Was tun Sie, Herr Pfarrer, wenn sie fast überlaufen? Beten? Kalt Duschen?“
„Das ist meine Privatangelegenheit, darüber werde ich mit Ihnen nicht reden.“
„Aber Herr Pfarrer, so unter Männern.“
„Uns verbindet keine Männerfreundschaft. Sie sind ein Gemeindeglied und ich bin Ihr Pfarrer. Erzählen Sie mir einfach Ihre Geschichte und dann gehen Sie bitte.“
„Also gut. Ich hatte einen verdammten Ständer...“
„Diese Tatsache haben Sie hinreichend erläutert.“
„Ja und dann kam die kleine Miri vorbei geradelt. Sie bewegte sich so weich und geschmeidig und ihr langes, braunes Haar wehte dazu im Wind, sie sah fast aus wie eine Meerjungfrau, so als wäre sie unter Wasser unterwegs und würde schweben.“
Dem Pfarrer verschlug es die Sprache. Er sagte nichts, war aber hellwach.
„Es war Sommer. Man vergisst immer, dass noch vor einem halben Jahr draußen alles ganz anders aussah und das Leben ganz anders ablief, weil es ja warm war und trocken. Alles ging ganz leicht. Ich musste ihr nur eine sanften Schubs geben und schon fiel sie mitsamt dem Fahrrad auf den Asphalt. Das tat mir leid, aber wenn ich sie zu mir ins hohe Gras gezogen hätte, hätte ich mich vielleicht verletzt, das werden sie sicher verstehen. Ich habe sie ja dann auch direkt von der Straße gezogen, das Fahrrad übrigens auch und dann hab ich sie da hinter den Weißdornbüschen getröstet. Sie hat ihre Schrammen und Beulen sofort vergessen, als ich sie zur Frau gemacht habe. Sie hat ein bisschen gezappelt und geschrien, aber das hat mich erst recht auf Touren gebracht. Sie müssen sich keine Sorgen machen, Herr Pfarrer, ich habe Ihr Töchterchen nicht beschmutzt, ich habe ein blitzsauberes Kondom benutzt, dieses Verantwortungsbewusstsein, wird mir beim jüngsten Gericht doch sicher zugute gehalten werden, oder? Mal ganz davon abgesehen, dass ich sie am Leben gelassen habe, weil ich so umsichtig war, eine Skimaske zu benutzen, ich habe ihr nicht einmal einen Knochen gebrochen. Das gibt doch sicher Ermäßigung beim Höllenfeuer, oder? Oder werde ich am Ende vielleicht sogar belohnt, weil ich ihr ganz neue Welten erschlossen habe? Sie sagen ja gar nichts, Herr Pfarrer.“
WAS WIRD DER BEICHTVATER TUN? WIE WIRD ER SICH ENTSCHEIDEN? ICH SAMMLE EURE VORSCHLÄGE UND VERARBEITE DANN MIT EURER ERLAUBNIS DEN VORSCHLA G ZUM SCHLUSS DER GESCHICHTE, DER MIR AM BESTEN GEFÄLLT.

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Freitag, 28. Oktober 2016
Sozialmafia, abgeschlossener Kurzkrimi
Für den Abgestürzten kam jede Hilfe zu spät. Um ihn herum hatte sich das Pflaster von seinem Blut dunkelrot gefärbt und sein Körper war ein einziger Trümmerhaufen aus aufgeplatzter Haut und offenen Brüchen. Es war unvorstellbar, dass er die ganze Nacht so dagelegen hatte, unterhalb des Kirchturms, an dem normalerweise auch nachts Passanten vorbei kamen. Vermutlich hatten sie ihn für eine Schnapsleiche gehalten und waren achtlos an ihm vorbeigegangen, wie der Priester und der Levit im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Wie stürzte jemand einfach so vom Kirchturm? Dem konnte doch nur ein Suizid zugrunde liegen, ein Unfall war es sicher nicht. Als der Pfarrer sich endlich wieder gefasst hatte, überlegte er, welche Motive der Verstorbene gehabt haben könnte. „Vielleicht war er unheilbar krank oder er hatte eine Ehekrise, aber davon weiß ich nichts. Es gab auch wieder Probleme mit der Finanzierung seiner Arbeit, aber das hat er schon viele Male erlebt. Ich glaube nicht, dass er darum so verzweifelt gehandelt hätte.“

EIN TAG ZUVOR
„Komm mal mit auf den Kirchturm, Peter, ich will dir was zeigen.“
„Hör mal, Jan, ich habe noch einiges zu erledigen heute Abend und irgendwann will ich auch mal nach Hause. Sag einfach, was du zu sagen hast.“
„Ach komm, so viel Zeit muss sein, vielleicht ist das ja die letzte Gelegenheit, denn wer weiß, wo ich demnächst unterkomme.“
„Jetzt sei doch nicht so pessimistisch. Aber damit du endlich Ruhe gibst, meinetwegen. Dann spar ich mir nachher den Stepper..“
Sie stiegen die 84 Stufen hoch bis zu der offenen Plattform.
„Tolle Aussicht.“, nuschelte Peter ironisch.
„Ja, genau.“, erwiderte Jan. „Genau das wollte ich Dir zeigen. In eurem Inner Circle macht ihr euch vielleicht gern über das dämliche Christenpack lustig, aber am Ende sind wir es, die die Dinge viel mehr überblicken, als euch lieb ist.“
„Jetzt hör auf, mich mit deinen neutestamentlichen Metaphern zu nerven. Sag, was du sagen willst oder lass uns sofort wieder runter gehen. Dieses Kaff sieht nicht mal von oben toll aus.“
„Ich weiß, was ihr getan habt, Peter.“
„Was soll das heißen?“
„Das soll heißen, dass ich auch meine Maulwürfe in eurem JAGOT-Kungelverein habe. Ich weiß Bescheid, dass die sogenannte Jugendpolitische Arbeits-Gemeinschaft der Offenen Türen nur noch Theater ist und ihr die Mehrheit der Mitglieder im Vorfeld auf eine Strategie eingeschworen habt, uns raus zu kegeln. Wenn das raus kommt, Peter, und ich verspreche dir, das wird rauskommen, bist du ein für alle mal erledigt. Die werden dich nicht nur als Bezirksjugendpfleger an die Luft setzten, du kriegst überhaupt keinen Job mehr, nirgendwo.“
„Es wird aber nichts rauskommen.“, sagte Peter eiskalt, „weil es gar nichts gibt, was rauskommen könnte. - Und erst recht niemanden, aus dem es rauskommen könnte.“ Peter packte Jan blitzschnell am Kniegelenk und schleuderte ihn über die Brüstung. Als er zuerst den Schrei und dann das Aufschlagen des Körpers auf dem Pflaster hörte, verzog er angestrengt das Gesicht. Was hatte er getan? Wie kam er heil aus der Sache heraus? Er schrie verzweifelt: „Jan! Nein!“, um zu suggerieren, dass er von Jans Suzid überrascht worden war. Als er von oben die Straßen entlang blickte, sah er nirgendwo eine Menschenseele. Die waren wohl alle beim Stadtfest. Niemand wusste, dass er mit Jan auf dem Turm gewesen war. Und wenn es doch ans Licht käme, könnte er noch immer behaupten, er habe unter Schock gestanden und mit einer Aussage sowieso nichts mehr an dem Unglück ändern können.

DREI TAGE ZUVOR
„Wir müssen da noch einmal drüber reden, Peter. Du sitzt da an deinem Schreibtisch und kriegst überhaupt nicht mehr mit, was in den Stadtteilen abgeht. Ich habe dich hier, glaube ich, das letzte Mal vor drei Jahren gesehen. Komm hier mal Mittags vorbei und sieh dir den Laden an, bevor du so weitreichende Entscheidungen triffst.“
„Die Entscheidung habe doch nicht ich getroffen.“, verteidigte sich Peter. „Das war die JAGOT. Pass mal auf. Ich habe jetzt echt keine Zeit. Ich denke, übermorgen lässt sich da was einrichten, so gegen sieben. Mittags geht’s wirklich nicht.“
„Du hast Angst vor der Zielgruppe.“
„Das ist doch Quatsch!“
„Klar, warum sonst hast du dir so einen Behörden-Sesselpupser-Job gesucht, statt an der Basis zu kämpfen, wie du es mal gelernt hast?“
„Jan, ich beende das jetzt. Ich komme übermorgen gegen sieben. Wenn du da bist, bist du da, wenn nicht, dann eben nicht.“
Peter legte auf. „Verdammte Flachpfeife.“, zischte er. „Kriegt selber nichts gebacken und krepelt als Opa noch im Jugendzentrum rum und macht mir zum Vorwurf, dass ich nicht genauso ein Versager bin wie er.“

FÜNF TAGE ZUVOR
„Kommen wir jetzt zu TOP sechs.“, erklärte Peter, der als Bezirksjugendpfleger durch die Sitzung der JAGOT führte. „Es gab da noch einige Änderungen bei den Richtlinien für die Förderungsvoraussetzungen der offenen Türen. Kannst du das mal für alle zusammenfassen, Axel?“
Axel von den Falken brachte es auf den Punkt: „Also vor allem wollen wir endlich glattziehen, dass die Aufgabenbereiche des Offenen Ganztags und die der Jugendzentren deutlich voneinander abgegrenzt sind. Wir arbeiten bedarfsorientiert und müssen unserer Zielgruppe Öffnungszeiten im Bereich des späten Nachmittags, des Abends und an den Wochenenden bieten.“
Jan von der Evangelischen Jugend meldete sich zu Wort: „Ihr wisst doch alle, dass in unseren drei Jugendzentren ein Großteil der Besucher aufgrund des Mittagstisches und der Hausaufgabenhilfe zu uns kommt.“
„Das sind nicht die Kernaufgaben der Häuser der offenen Türen.“, konstatierte Esther von der Arbeiterwohlfahrt. „Dafür ist die OGS zuständig.“
„Die es ja in eurer Trägerschaft nur höchst unzureichend auf die Reihe kriegt.“, polemisierte Jan. „Ihr seid doch nur unruhig wegen unserer hohen Besucherzahlen, von denen ihr alle nur träumen könnt. Also werden sich schnell mal ein paar Kriterien zurecht gelegt, damit das Erfolgsmodell Mittagstisch als Methode der Einrichtungsbindung nicht mehr greift und man unsere Besucherzahlen kleinrechnen kann.“
„Keiner will euch kleinrechnen.“, beschwichtigte Peter den Leiter des Evangelischen Jugendzentrums. „Wir haben das in der Redaktionsgruppe nur inhaltlich diskutiert und hier wird es ja erst abgestimmt. Niemand verbietet euch, weiterhin euren Mittagstisch und eure Hausaufgabenhilfe anzubieten, es gehört nur nicht zu euren Kernaufgaben.“
„Ja, schön, aber wie sollen wir das bei unserem begrenzten Personalstamm hinbekommen, wenn wir plötzlich weiter in den Abend und am Wochenende Öffnungszeiten vorhalten müssen?“
„Es gibt doch Honorarkräfte.“
„Die Kräfte schon.“, antwortete Jan. „Nur bekommen wir leider nicht die Mittel, um diese Kräfte zu bezahlen.“
Die Diskussion drehte sich im Kreis und schließlich wurde sie von Peter beendet und abgestimmt. Mit neun Stimmen dafür und drei Gegenstimmen von den Vertretern der Evangelischen Jugend wurden die Änderungsvorschläge verabschiedet.
Als die Versammlung sich auflöste und Jan frustriert und verärgert sein Auto aufschloss, stand plötzlich Andi Bosse vom Verein „Klau's und Bring's“ neben ihm, der das autonome Jugendzentrum „Klaus Störtebeker“ vertrat. Er raunte: „Ich muss dir was erzählen, aber versprich mir, dass du keinem verrätst, von wem du es weißt.“

16 TAGE ZUVOR
Der Bezirksjugendpfleger Peter, die AWO-Managerin Esther und Falken-Geschäftsführer Axel, saßen im Jugendamt vor ihren Kaffeebechern und grinsten.
„Ich finde, das ist eine richtig gute Lösung.“, meinte Esther. „Die Argumente sind sachlich und wenn die Scheiß Evangelen ihre Suppenküchen-Sozialarbeit nicht mehr finanziert kriegen, gehen da auch keine Jugendlichen mehr hin und wir haben endlich die richtigen Argumente, diese religiösen Kaderschmieden ein für alle mal dicht zu machen.“
„Ja, so schlimm sind die nun auch wieder nicht.“, hielt Axel dagegen. „Ich bin ja auch eher religiös unmusikalisch, aber mein Sohn war vom Konfi-Camp ganz begeistert und die haben es nicht geschafft ihn zu indoktrinieren. Hörte sich auch nicht so an, als ob sie es versucht hätten. Aber die Kohle ist knapp und es hat wenig Sinn, überall nach dem Rasenmäherprinzip zu kürzen, da muss man Prioritäten setzen. Der öffentliche Träger schützt seine städtischen Mitarbeiter sowieso. Einem autonomen Jugendzentrum die Kohle zu kürzen fände ich politisch absolut nicht vertretbar, eine SPD-Kommune ohne Falken ist wie DGB ohne Gewerkschaftsjugend, die Sportjugend zu schröpfen wäre politischer Selbstmord und vom KuJU halte ich definitiv mehr als von den alten Häusern der Offenen Tür, die die Kirchen sich mal irgendwann geleistet haben, als das Geld noch in Strömen floss.“
„Eben.“, pflichtete Peter ihm bei. „Darum wäre ich auch dafür, dass wir mit den übrigen freien Trägern Gespräche führen, damit sie diese Änderungen durchwinken, dann wird es eine leichte Übung, die Evangelische Jugend und eventuelle Sympathisanten zu überstimmen.“
„Wer knöpft sich wen vor?“, fragte Esther geschäftig.
„Also ich habe wohl den besten Draht zu Margit vom Kinder- und Jugend-Universum und ich glaube, Axel, du hast doch noch Kontakte zu „Klau's und Bring's“, oder?“
„Als wenn du früher nicht im Störtebeker rumgehangen hättest.“, erwiderte Axel grinsend.
„Aber du hast recht, ich kann ganz gut mit Andi Bosse.“
„Dann kümmere ich mich um die Sportjugend.“, erklärte Esther. „Haben wir noch irgendwen vergessen?“
„Nee, lass mal lieber.“, bremste Peter sie. „Die BSV ist total unberechenbar, die Julis und die Junge Union würden uns an die Gurgel gehen und wenn der Schnulli von den Jusos Verschwörungen wittert, spielt er gern den Helden, auch wenn es eigentlich in seinem Sinne wäre. Die ganzen kleinen freien Träger haben ja eh keine Jugendzentren. Wir müssen einfach die Diskussion kurz halten und alles durchwinken, bevor irgendwer Verdacht schöpft, dass wir das vorher abgekartet haben.“
Esther hob ihren Kaffeebecher: „Ex und Hopp.“, skandierte sie pathetisch und leerte den Becher in einem Zug.

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Freitag, 21. Oktober 2016
JuLeiCa - abgeschlossener Kurzkrimi
31. Oktober 2015 – Walter von der Ahe, 71 Jahre alt, wird erstochen in seinem Garten in Hille-Südhemmern aufgefunden. Als Tatwaffe wird ein altmodischer Eispickel vermutet. Der Täter hatte etliche Male zugestochen, bevor er den letalen Stich ins Herz ansetzte. Walter von der Ahe hinterlässt einen Sohn, eine Schwiegertochter, und zwei Enkel.
06. Dezember 2015 – Karsten Göhner, 44 Jahre alt, wird im Mindener Stadtteil Haddenhausen erschlagen in seinem Wohnzimmer aufgefunden. Neben der Leiche liegt ein Jutesack sowie ein großer Knüppel aus Olivenholz. Er starb an seinen Kopfverletzungen. Karsten Göhner lebte allein, seine geschiedene Frau lebt mit dem gemeinsamen Sohn im Mindener Stadtteil Dützen.
08. März 2016 – Auf der A7 ereignet sich in den Kasseler Bergen ein tragischer Unfall. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen rast der 43-jährige Norbert Buthenuth aus Minden während einer Dienstreise nach München mit einer Geschwindigkeit von 180 Stundenkilometern ungebremst durch die Leitplanke in den Gegenverkehr. Der Fahrer des LKW mit dem er kollidiert ist schwerverletzt, wenn auch nicht lebensgefährlich. Buthenuth ist sofort tot. Er hinterlässt eine Ehefrau, einen erwachsenen Sohn und eine heranwachsende Tochter.
08. Mai 2016 – Porta Westfalica Kleinenbremen. Karin Kleinebekel wird in einem Waldstück in der Nähe ihres Wohnhauses an einen Baum gefesselt tot aufgefunden. Sie ist in Panik erstickt wäre aber innerhalb weniger Stunden an reduzierter Sauerstoffzufuhr und gestörter Blutzirkulation gestorben. Sie hinterlässt einen 16-jährigen Sohn. Sie starb ausgerechnet am Muttertag.
Ein Zusammenhang zwischen den Tötungsdelikten ist für die Behörden nicht erkennbar, vier voneinander unabhängige Teams ermitteln ergebnislos. Bei dem dritten Toten wird nicht einmal wegen Mordes ermittelt, weil die Behörden von einem Unfall oder Suizid ausgehen.
Oktober 2015
Judith atmete tief durch: Der Ankunftstag der achttägigen Jugendgruppenleiter-Schulung war überstanden. Fünfundzwanzig Mädchen und Jungen im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren hatten ihre Betten bezogen, die Anweisungen der Hausleitung über sich ergehen lassen, zu Abend gegessen und einen Abend mit Namensspielen, Lockerungsübungen und weiteren Kennenlern-Aktivitäten verbracht. Johannes hatte den ersten Programmpunkt moderiert, jetzt saßen die Jugendlichen mehrheitlich im Schall-isolierten SpieleRaum im Keller, hörten Musik, kickerten oder spielten Billard. Die Gruppe machte insgesamt einen recht angenehmen Eindruck auf sie. Nach dieser Woche konnte sie sicher entspannt in den herbstlichen Freizeitausgleich gehen und die Dinge tun, zu denen ihr meistens die Zeit fehlte.
Am nächsten Morgen ahnte sie bereits, dass die stressfreie Ausbildung der Jugendlichen auf dem Weg zur Jugend-Leiter-Card eine schöne Wunschvorstellung bleiben würde. Carina aus Rodenbeck saß ihr am Frühstückstisch gegenüber vor einem leeren Teller und einer leeren Tasse mit ausdruckslosen, geröteten Augen.
„Willst du gar nichts essen?“, fragte Judith besorgt
Carina schüttelte wortlos den Kopf.
„Bist du krank?“
„Ich weiß nicht.“
„Trink doch wenigstens einen Tee.“
Carina goss sich etwas Tee in den Becher und nippte an der Tasse. Judith bemerkte, dass das Mädchen nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. Sie war zwar dran mit dem ersten Programmpunkt am Vormittag, doch hatte sie sicher noch Zeit für ein Gespräch unter vier Augen. Nach dem Frühstück bat sie Carina, sie eben ins Leiterzimmer zu begleiten.
„Jetzt sag mal, Carina, Dir geht’s doch nicht gut. Ist gestern Abend oder heute Morgen irgendwas passiert?“
„Nein.“
„Hast du Kopfschmerzen oder ist dir schlecht?“
„Ein bisschen.“
„Aber es gibt doch sicher ein Problem.“
„Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.“
„Und warum nicht?“
„Probleme zu Hause.“
Die Sozialarbeiterin musste dem Mädchen alle Informationen einzeln aus der Nase ziehen, bis sich schließlich ein umfassendes Bild ergab: Carina war in Sorge um ihre Mutter und um ihren großen Bruder. Der Bruder, offensichtlich überfordert von den Bemühungen um einen Ausbildungsplatz oder wenigstens um einen Aushilfsjob, reagierte auf den elterlichen Druck mit Wut- und Gewaltausbrüchen. Schon einmal war er so heftig auf seine Mutter losgegangen, dass sie eigentlich einen Arzt hätte aufsuchen müssen, jedoch aus Scham darauf verzichtet hatte und auch, um ihren Sohn zu schützen. Carina selbst hatte einen guten Draht zu ihrem Bruder, verstand seine Ängste und Probleme und es gelang ihr, ihn in Konfliktsituationen zu beschwichtigen. Aber jetzt war die Mutter allein mit dem postpubertären, Affekt-anfälligen Kraftpaket und sie fürchtete um deren Gesundheit, wenn nicht sogar um ihr Leben und damit auch um die Zukunft ihres geliebten Bruders, der ihrem Dafürhalten nach nichts dafür konnte, dass er so voller Wut war, hatte der Vater ihm doch schon in frühester Kindheit zu verstehen gegeben, dass er nichts taugte, nichts konnte, zwei linke Hände hatte, zu dumm war, irgendetwas zu begreifen und seinem Unmut dadurch Ausdruck verliehen, dass er seinen Sohn ohrfeigte, schubste oder ihm sogar Tritte ins Gesäß verpasste. Zur Zeit war der Vater beruflich unterwegs, was einerseits dafür sprach, dass die häusliche Situation nicht eskalierte, andererseits aber auch bedeutete, dass die Mutter mit dem unberechenbaren Bruder allein zu Hause war. Carina war im Beratungsgespräch kaum zu beruhigen und nur schwer davon zu überzeugen, dass sie diese Woche Abstand für sich nutzen sollte, um Kräfte zu sammeln.
Am Sonntag schlich sie immer noch mit Tränen-verschmiertem Gesicht durchs Haus und beteiligte sich nur halbherzig an den Programmpunkten, doch Judith und Johannes fehlte die Zeit für Einzelfallhilfe, sie mussten sich auf ihr Schulungsprogramm konzentrieren und wie sich bald herausstellte, war Carina nicht der einzige Problemfall. Dorian aus Dützen war bereits allen erheblich auf die Nerven gegangen, als er bei dem Gemeinschaftsprojekt „Werkstatt-Gottesdienst“ ständig seine abwertenden Kommentare abgeben musste, während er, als er selbst an der Reihe war, nichts Nennenswertes zustande brachte. Als er am Abend auch jedes gruppendynamische Spiel torpedierte, schickte ihn Johannes nach dem vierten Zwischenfall schließlich vor die Tür, damit das Programm auch funktionierte. Judith übernahm die Einzelbetreuung, doch wie sie es auch anstellte, ob mit strengen Anweisungen, einfühlsamen Fragen oder Provokationen wie zum Beispiel: Wir können Dich auch den Rest der Woche als Küchenhilfe einsetzen, dann kriegst Du nicht nur keinen Spaß sondern auch keine JuLeiCa, weil Du von dem Programm ja nichts mitbekommst.“ Sie kam nicht an den Jungen heran. Er gab nur völlig sinnentleerte Unverschämtheiten von sich.
„Dorian, was sollen wir denn deiner Meinung mit dir machen?“, fragte Judith.
„Ihr sollt gar nichts mit mir machen. Ihr sollt mich in Ruhe lassen.“
„Aber du merkst doch sicher auch, dass es so mit dir nicht geht, du bringst das ganze Programm durcheinander.“
„Mir doch egal.“
„Dann musst du dich aber auch nicht wundern, wenn du uns irgendwann auch egal bist.“
„Na und? Das bin ich doch sowieso.“
„Nein, das bist du nicht. Wenn du uns egal wärst, hätten wir dich schon heute Morgen abholen lassen.“
„Ja mach doch, Alte.“
„Warum bist du denn überhaupt mitgefahren?“
„Ist doch meine Sache.“ Sprachs, machte auf dem Absatz kehrt und lief nach draußen.
„Dorian, wenn du jetzt abhaust, muss ich die Polizei anrufen.“, rief sie ihm hinterher und hoffte er würde auf dem Gelände bleiben. In ihrer Hilflosigkeit rief sie seine Mutter an. Als sie ihr das Problem eingehend geschildert hatte, meinte die: „Ja wir waren ja schon mit Dorian bei der Familienberatung. In der Schule gab es auch Probleme. Das liegt alles an seinem Vater, wissen Sie, der hat uns ständig verprügelt, als Dorian klein war. Zuerst habe ich noch gedacht, er kann sich ändern, aber nach ein paar Jahren habe ich mich endgültig von ihm getrennt. Mein neuer Lebenspartner kommt wirklich gut mit Dorian zurecht, aber mein Mann hat uns immer weiter terrorisiert, auch jetzt noch. Er schreibt Dorian What‘s-App-Nachrichten, in denen er ihm androht, dass er seinem Vater gefälligst etwas von seinem ersten Ausbildungsgehalt abgeben soll, er schulde ihm den Unterhalt, den er als Vater für ihn zahlen musste, weil er ja schließlich nichts von seinem Sohn hatte. Das muss man sich mal vorstellen. Die meiste Zeit bleibt er uns den Unterhalt schuldig, kriegt es immer wieder hin, dass er seine Arbeit nur kurz behält, damit er ja nichts verdient und nicht zahlen muss. Ich befürchte, er kommt auch noch irgendwann damit durch und lässt sich den Rest seines Lebens von seinem vernachlässigten Sohn versorgen, den er in den ersten Jahren schwer misshandelt hat. Es gab ja kürzlich so ein Gerichtsurteil.“
„Ja, das ist schlimm.“, gab Judith der verzweifelten Mutter Recht. „Die Frage ist, was machen wir jetzt mit Dorian? So wie er sich hier im Augenblick verhält, steht er nicht nur sich selbst im Weg, sondern mischt permanent die ganze Veranstaltung auf.“
„Ja, da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Ich bin ja selbst völlig hilflos.“
„Sie würden sich also nicht zutrauen, ihm jetzt eindringlich ins Gewissen zu reden?“
„Wenn er so verrückt spielt, komme ich auch nicht an ihn heran.“
„Frau Göhner, wenn Sie so gar keine Idee haben, wie wir Ihren Sohn zur Vernunft bringen können, müssen Sie ihn abholen.“
„Fortmann. Ich heiße nicht mehr Göhner. Was das Abholen betrifft, ich habe gar kein Auto. Mein Mann ist unterwegs und wir haben nur einen Wagen.“
„Können Sie Ihren Mann nicht per Mobiltelefon erreichen?“
„Das stellt er bei diesen Gelegenheiten immer aus. Er kommt wohl auch erst mitten in der Nacht nach Hause und muss morgen früh gleich wieder los. Das geht jetzt die ganze Woche so.“
„Dann müssen Sie eine andere Lösung finden, Frau Fortmann. Leihen Sie sich ein Auto oder kommen Sie mit dem öffentlichen Nahverkehr hier hin. Wir können Ihre Sohn auch zum Bahnhof bringen und Sie organisieren, dass Sie ihn am Zielbahnhof abholen. Oder Sie versuchen jetzt mit ihm zu reden. Vielleicht erreichen Sie ja doch etwas.“
„Na gut, wenn Sie darauf bestehen, aber ich kann für nichts garantieren.“
Glücklicherweise hatte Dorian das Gelände nicht verlassen und war auch bereit, mit seiner Mutter zu sprechen. Das Gespräch zeigte eine größere Wirkung als die Mutter erwartet hatte. Er war danach immer noch schwierig, aber es war nicht mehr unmöglich, ihn an den Programmpunkten teilnehmen zu lassen.
Der Montag verlief ruhig. Am Dienstag geriet Johannes mit Leon aus Kleinenbremen aneinander. Er war bisher niemandem aufgefallen, war nicht sonderlich engagiert gewesen, hatte aber auch nicht gestört oder sichtbar Regeln verletzt. Nun hatte Johannes Leon nachts in einem Mädchenzimmer erwischt. Der Sozialarbeiter erklärte ihm, wenn er noch einmal eine Regel verletzen würde, müsse er nach Hause fahren. Jetzt rastete Leon vollständig aus: „Is‘ schon schlimm genug, dass die scheiß Weiber immer Terror machen, jetzt fängst du auch noch an.“, brüllte er. „Räum deine Hose weg, mach deine Schularbeiten, schon wieder nur `ne Drei in Mathe, aus dir wird doch nie was, räum die Spülmaschine aus, guck dich doch mal an, siehst genauso nichtsnutzig aus wie dein Erzeuger. Meine Alte kriegt nichts gebacken zu Hause. Sie geht den ganzen Tag arbeiten, verdient fast nichts und wenn sie nach Hause kommt hat sie schlechte Laune und nölt mich voll. Ich muss alles machen und immer hat sie was zu meckern, nie reicht irgendwas, nie ist irgendwas gut genug. Und hier bauen alle die ganze Zeit Scheiße und ich hab‘ überhaupt nichts gemacht und jetzt gehe ich einmal noch bei Nele und Lucie vorbei und sofort krieg ich ne Packung.“
Am Mittwoch führte Johannes ein längeres Gespräch mit Leon und stellte fest, dass der Junge in völlig unannehmbaren Verhältnissen aufwuchs. Sein Martyrium währte bereits zehn Jahre – nachdem der Vater die Mutter verlassen hatte. Sie war herrschsüchtig, cholerisch und völlig unberechenbar. Sie wurde zwar nicht körperlich gewalttätig, aber sie demütigte ihren Sohn mit unsinnigen Reinigungsarbeiten wie z.B. der gründlichen
Urinstein-Entfernung mit Hilfe einer alten Zahnbürste, sie sprach plötzlich und unerwartet Verbote aus, so dass der Junge ständig seine Pläne mit Freunden aufgeben und Verabredungen absagen musste. Dem Vater hatte sie auch eine Szene nach der anderen gemacht und als der sie gebeten hatte, sich professionelle, psychologische Hilfe zu holen, hatte sie sich geweigert. Schließlich hatte der Mann aufgegeben und war gegangen. Statt seinen Sohn ebenfalls aus dieser Hölle zu befreien, hatte er ihn einfach im Stich gelassen und war nach Australien ausgewandert. Leon versprach, für den Rest der Maßnahme die Regeln zu beachten und Johannes bot ihm an, den Kontakt zu einer Jugendberatungsstelle für ihn herzustellen, doch Leon winkte ab: „Die letzten drei Jahre sitze ich auf einer Arschbacke ab. Tagsüber ist sie ja weg und ich gehe zweimal die Woche abends zum Sport und zwei Mal ins Gemeindehaus. Am Wochenende sehe ich zu, dass ich bei meinen Freunden bin.“
Judith war fassungslos, dass nun schon der dritte Teilnehmer eine so unerträgliche Geschichte mitbrachte, doch der Gipfel des Schreckens war noch nicht erreicht.
Am Donnerstag durchliefen die Jugendlichen eine Mehrstationen-Andacht mit kurzen Texten, Raum für Stille, meditativen Elementen und Sinnesreizen, die das Risiko bargen, verdrängte Verletzungen an die Oberfläche zu befördern. Es flossen oft Tränen, denn viele hatten sich schon mal im sprichwörtlichen finsteren Tal befunden, von dem im 23. Psalm die Rede ist. Doch Melanies Tränen wollten nicht mehr versiegen. Melanie, aus dem abgelegenen Dorf Südhemmern, unscheinbar, zurückhaltend, höflich und leise. Niemand legte einen tröstenden Arm um ihre Schulter wie bei den hübschen, schmalschultrigen Langhaarblondinen. Melanie mit ihrem praktischen, aschblonden Kurzhaarschnitt, dem grenzwertigen Körpergewicht und den unvorteilhaften Proportionen: volle Schultern, Taillenspeck, flacher Po und wenig Brust. Judith hatte das Gefühl, der Schmerz des Mädchens war so überdeutlich, dass man ihn anfassen konnte. Und der Schmerz hatte einen furchtbaren Grund. Seit ihrem achten Lebensjahr wurde Melanie sexuell missbraucht. Von ihrem eigenen Großvater. Und die Eltern glaubten ihr kein Wort, wie so oft, wenn Kinder dieses Entsetzen erleben. Der Ruheständler erfreute sich bester Gesundheit und gab keinen Anlass zu der Hoffnung, die Natur würde diesen Horrorfilm beenden. Aber Melanie sah keinen Ausweg und auch nach zwei Stunden intensiven Zuhörens, Tröstens und Beratens fand sich kein Lösungsansatz, mit dem das Mädchen einverstanden war.
„All diese verantwortungslosen, inkompetenten, gleichgültigen Scheißeltern!“, dachte Judith wütend. Sie war so hilflos, es gab so wenig, was sie tun konnte. Die Hilfssysteme griffen meistens viel zu spät und das Gesetz bot kaum Möglichkeiten, frühzeitig und effektiv einzugreifen.
September 2016
Gerade eben hatte Judith mit Johannes die Details für die kommende JuLeiCa-Schulung abgesprochen. Sie hatten schon 15 Anmeldungen aus fünf Gemeinden des Kirchenkreises. Sicher würde es wieder voll werden. Sie dachte an das letzte Jahr zurück und hoffte, es diesmal ausschließlich mit behüteten Jugendlichen zu tun zu haben. Eine solche Konzentration von Problemfällen wie 2015 hatte sie nie zuvor erlebt. Vielleicht war das eine Ausnahme. Doch als sie so aus dem Fenster in die goldene Herbstsonne blinzelte und das fallende Laub betrachtete, mit dem sie schon immer den nahenden Tod assoziiert hatte, überlegte sie, ob sie in fünfzehn oder zwanzig Jahren nicht noch einmal genauso würde handeln müssen wie in den vergangenen Monaten, denn die Opfer von heute würden mit großer Wahrscheinlichkeit zu den Tätern von morgen werden.

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