Freitag, 14. Oktober 2016
1983 – Kurzkrimi, Teil II
Keller war sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass hier ein Mordversuch vorlag. Vielleicht war das Mädchen auch vor lauter Schmerz und Kummer so unaufmerksam gewesen und hatte unter Tränen die Kontrolle über ihre Fahrrad verloren, dass das Auto nicht mehr ausweichen konnte und die Person am Steuer hatte in Panik Fahrerflucht begangen. Eventuell war auch spontaner Lebensverdruss über das Mädchen gekommen und sie hatte ihr Fahrrad absichtlich in das vorbei fahrende Auto gelenkt um ihrem wegen der aussichtslosen Liebe trostlosen Leben ein Ende zu setzen.
Am folgenden Tag saß der Geschichts- und Religionslehrer am Bett seines Schützlings. Gabi war endlich von der Intensiv-Station auf ein normales Sechsbett-Zimmer verlegt worden. Er beobachtete ihren Schlaf und wartete darauf, dass sie erwachte. Als sie die Augen aufschlug, wirkte sie zunächst verwirrt, dann kam plötzlich Farbe in ihr blutleeres Gesicht.
„Hallo Gabriela.“, sagte Michael Müller. „Was machst du für Sachen?“
„Ich habe ja nichts gemacht.“, erwiderte Gabi. „Mich hat jemand umgefahren.“
„Und woran kannst du dich erinnern?“
„So gut wie nichts. Nur dass es mich plötzlich umgehauen hat und ich die Räder...“
Gabriela stockte und in ihrem Gesicht erkannte Müller die wiederkehrende Erinnerung.
„Moment mal. Jetzt weiß ich wieder. Ich war ja bei Ihnen. Als ich schon knapp einen Kilometer hinter mir hatte, habe ich plötzlich gehört, wie von hinten ein Auto mit Dieselmotor näher kam. Ich dachte, Sie sind das vielleicht.“, Gabi wurde rot. „Hätte ja sein können, dass Sie es sich anders überlegt hätten. Ich habe mich umgesehen, aber es war kein schwarzer Taunus sondern ein blauer Mercedes. Als der Wagen neben mir war, überholte er gar nicht und ich habe noch gesehen, dass an der Beifahrertür eine helle Schramme war. Dann blieb der Wagen ein bisschen hinter mir und dann gab der Fahrer wieder Gas und hat mich gerammt.“
„Blauer Mercedes?“, fragte Müller alarmiert. „Könnte die Schramme so ein Streifen sein, den ein anderes Auto verursacht, also jemand, der mit hellem Lack die Tür gestreift hat, so dass es einen leichten Abrieb gibt?“
„Keine Ahnung. Schon möglich.“
„Ich glaube, ich muss gleich noch einmal bei der Polizei anrufen. Ich weiß, wer so ein Auto fährt.“
Eine Stunde später klingelte Keller erneut an der Tür von Familie Albrecht. Wieder war es die blasierte Klara, die ihm die Tür öffnete. Heute trug sie eine senfgelbe Strickjacke zur – wie Keller es heimlich nannte – bierschissbraunen Bundfalten-Kordhose.
„Guten Tag, ist Ihre Frau Mutter denn heute zu sprechen?“
„Ja, ich hole sie eben.“
Klara ließ ihn vor der geöffneten Tür stehen. Frau Albrecht kam kurz darauf und bat ihn herein. Sie geleitete ihn ins Wohnzimmer, ein modern eingerichtetes Ambiente, dem man die konservative Note aber direkt anmerkte. Frau Albrecht war eine schlanke Endvierzigerin mit schlichter Frisur und verbitterten Gesichtszügen.
„Frau Albrecht, Sie erinnern sich sicher daran, dass vor sechs Wochen Gabriela Schulze einen schlimmen Verkehrsunfall hatte, bei dem sie lebensgefährlich verletzt worden ist.“
„Ja, natürlich, wir waren alle sehr erschüttert.“
„Nun konnte Fräulein Schulze uns dankenswerterweise den Unfallwagen beschreiben und damit können wir den Täter oder die Täterin überführen. Wo waren Sie zum Zeitpunkt des Unfalls?“
„Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, wann genau der Unfall sich zugetragen hat.“
„Donnerstags irgendwann nach 21.30 Uhr und vor zwei Uhr nachts, denn da wurde sie gefunden und lag offenkundig schon mindestens eine Stunde am Straßenrand. Wo haben Sie sich aufgehalten zu dieser Zeit?“
„Wieso ich?“
„Beantworten Sie einfach meine Frage.“
„Ich war bis 21.30 Uhr beim Bibelkreis. Dann bin ich nach Hause gegangen. Ich habe noch ein wenig gelesen und bin dann gegen 22.00 Uhr schlafen gegangen. Ich hatte einen anstrengenden Tag.“
„Gibt es dafür Zeugen?“
„Meine Kinder, die waren auch zu Hause.“
„Und ihr Mann?“
„Der war auf Dienstreise in Saudi Arabien.“
„Frau Albrecht.“, fuhr Keller fort. „Ich habe eben ihren Wagen in der offenen Garage stehen sehen und bereits die Spurensicherung herbestellt. An der Beifahrertür befindet sich ein Schramme...“
„Da ist mir vor zwei Monaten auf dem Parkplatz jemand reingefahren und hat Fahrerflucht begangen. Wir haben das noch nicht ausbessern lassen, weil der Täter noch ermittelt werden soll. Den Vorgang sollten Sie bei der Polizei vorliegen haben.“
„Ja sicher, ich behaupte ja auch nicht, dass die Lackspur von dem Unfall mit Gabi Schulze stammt. Aber das Opfer hat genau gesehen, dass das Auto, das sie bedrängt und schließlich vorsätzlich von der Straße geschubst hat, ein blauer Mercedes war, an dessen Beifahrertür sich eine helle Schramme befand. Sie hat auch gehört, dass es sich um einen Dieselmotor handelt. Ihr Wagen fährt doch sicher mit Diesel.“
„Ach, das hat dieses Luder sich ausgedacht, um mich zu belasten.“
„Warum sollte Gabriela Schulze Sie belasten wollen, Frau Albrecht?“
„Um meiner Tochter Klara zu schaden. Sie sitzt schon seit ihrer Konfirmation in den Startlöchern, meine Tochter zu verdrängen. Klara leitet seit zwei Jahren den Jugendkreis und sie macht das wirklich toll und diese Gabi bezirzt bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Pfarrer und der fällt auch noch darauf herein und sie versucht ständig alles an sich zu reißen.“
„Sollte sie darum verschwinden?“
„Ich habe dem Mädchen nichts getan! Sie will mir etwas anhängen!“
„Waren Sie an besagtem Donnerstag mit dem Auto am Gemeindehaus?“
„Unsinn! Ich fahre nie mit dem Auto zum Gemeindehaus. Das sind zu Fuß nur zwei Minuten.“
„Haben Sie ihr Auto häufiger vor der Tür stehen?“
„Natürlich nicht. Wir haben eine Doppelgarage. Ich fahre das Auto immer da hinein. Vom draußen Herumstehen wird es nur schmutzig und der Lack leidet.“
„Wie soll Gabriela Schulze dann eigentlich wissen, wie Ihr Auto aussieht?“
„Was weiß ich? Ich fahre ja auch mal zum Einkaufen.“
„Die Jugendliche wird aber sicher nicht mitbekommen, wenn Sie beim Einkaufen aus ihrem Auto steigen. Ich denke, die Spurensicherung wird Hinweise auf den Unfall finden, bzw. auf den vorsätzlichen Mordversuch.“
„Ich sage jetzt gar nichts mehr.“, erklärte Frau Albrecht. „Ich werde meinen Rechtsanwalt anrufen, mit dem können Sie sich dann weiter unterhalten.“
„Den werden Sie auch brauchen, Frau Albrecht.“, erklärte Keller. „Bestellen Sie ihn gleich zur Polizeiwache, denn dahin müssen Sie mich umgehend begleiten.“
Die Spuren am Auto und am Ende auch Frau Albrechts umfassendes Geständnis bewiesen, dass Keller den richtigen Riecher gehabt hatte. Hannelore Albrecht hatte an diesem Abend mitbekommen, dass ihre Tochter kreuzunglücklich war, weil der Pfarrer ihr erklärt hatte, sie solle die Leitung des Jugendkreises nicht allein an sich reißen, sondern allmählich den Nachwuchs miteinbeziehen, damit es einen vernünftigen Übergang gebe. Klara hatte dem Pfarrer erklärt, es gebe keinen Nachwuchs und falls er von Gabi spreche, die sein völlig ungeeignet. Der Pfarrer hatte daraufhin entgegnet, dass er Gabi für umfassend qualifizierter hielte als Klara, man müsse sie nur machen lassen und wenn Klara sich nicht mit ihr verstehe, wäre es vielleicht an der Zeit, das Heft jetzt schon aus der Hand zu geben, dann würde er eben Gabi ein wenig an die Hand nehmen, bis sie den Kreis allein leiten könne. Hannelore Albrecht hatte ihre schluchzende Tochter getröstet und dann beobachtet, wie Gabi Schulze aus dem Haus ihres Nachbarn gekommen war und nach Hause radelte. In blinder Wut war sie in ihren Wagen gesprungen, um das Mädchen unterwegs aufzuhalten und zur Rede zu stellen. Als der Teenager sich so merkwürdig zu ihr umgeblickt hatte, so voller Arroganz und Missbilligung waren ihr die Sicherungen durchgebrannt. Hätte Gabi vor ihr gestanden, hätte sie ihr einfach ein Ohrfeige verpasst, so hatte sie sie mit dem Auto geohrfeigt. Die letzten Wochen waren die Hölle für sie gewesen, natürlich hatte sie sich schuldig gefühlt, aber auch gehofft, heil aus der Sache herauszukommen, schließlich würde das Mädchen ja wieder gesund werden. Die Anklage lautete schließlich auf versuchten Totschlag im Affekt.
Kellers Engagement wurde im Bericht deutlich erwähnt. Es war der Beginn seiner erfolgreichen Laufbahn bis zum Kriminalhauptkommissar, auch wenn er sich ein-und-dreißig Jahre später nicht daran erinnern würde, dass dies das Dorf war, das den Startschuss zu seiner Karriere gegeben hatte.
ENDE

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Freitag, 7. Oktober 2016
1983 – Kurzkrimi, Teil I – zum Raten und Weiterspinnen
Noch gestern hatte das schwer verletzte Mädchen an der Herz-Lungen-Maschine gehangen, nun war sie endlich erwacht und atmete wieder selbstständig. Gabi Schulze war sechzehn Jahre alt und auf einer Landstraße zwischen zwei Dörfern lebensgefährlich verletzt aufgefunden worden. Sechs Wochen war das inzwischen her, und die Blätter begannen sich gelb zu färben und von den Bäumen zu segeln.
Ein junger Mann saß an ihrem Bett. Sie kannte ihn nicht und sah verwirrt in sein Gesicht. „Können Sie mich verstehen, Fräulein Schulze?“, fragte er die Patientin.
„Ja“, antwortete sie heiser und äußerst leise. „Aber wer sind Sie?“
„Mein Name ist Stefan Keller. Ich arbeite für die Kriminalpolizei.“
Was er ihr nicht verriet, war die Tatsache, dass er nicht etwa als leitender Ermittler unterwegs war, sondern als Praktikant bei der Kripo, er steckte noch mitten in der Ausbildung zum Kriminalkommissar.
Er erklärte weiter: „Ich möchte Sie befragen, um herauszufinden, was eigentlich passiert ist, also wie sie in diese Lage geraten sind.“
„Das weiß ich selbst nicht.“, erwiderte das Mädchen. „Ich glaube, ein Auto hat mich angefahren. Irgendetwas hat mich vom Rad gerissen und dann habe ich nur noch Reifen gesehen, die haarscharf an meinem Kopf vorbei gerauscht sind. Ich dachte noch, jetzt bist du gleich tot und dann wurde es ja auch schon dunkel.“
„Wissen Sie noch, was Sie vorher gemacht haben?“
„Ich war im Gemeindehaus. Beim Jugendkreis.“
„War da irgendjemand mit dem Auto?“
„Nein, da kommen alle mit dem Fahrrad oder werden von ihren Eltern mit dem Auto abgeholt.
„Dann wären Sie aber kaum allein unterwegs gewesen oder jemand von den Eltern wäre mit dem Auto an Ihnen vorbei gefahren.“
„Nein, die waren ja alle schon weg. Ich bin etwas länger geblieben.“
„Warum?“
„Weiß ich nicht mehr. Ich habe noch mit irgendwem geredet.“
Der Arzt betrat das Krankenbett und bat den Polizeibeamten zu gehen. Es sei genug für heute, die Patientin brauche Ruhe.

Stefan Keller suchte Gabi Schulzes Elternhaus auf. Frau Schulze öffnete ihm die Tür. Sie sah müde aus, aber einigermaßen entspannt, weil ihre Tochter auf dem Weg der Besserung war und die Ärzte ihr zugesichert hatten, dass sie keine bleibenden Schäden zurückbehalten würde.
„Haben Sie irgendeine Idee, Frau Schulze, wer ihre Tochter vorsätzlich angefahren haben könnte?“, fragte Stefan Keller.
„Um Gottes Willen, nein.“ Antwortete die. Gabriela ist ein ganz normales Mädchen, das zur Schule geht, ein paar Freundinnen hat und ehrenamtlich in der Gemeinde mitarbeitet, wer sollte ihr etwas antun wollen? Das muss ein Unfall gewesen sein oder jemand, der völlig wahnsinnig ist.“
„Also ist sie das berühmte unbescholtene Mädchen, das nichts und niemanden gegen sich aufbringt?“
„Wieso fragen Sie das?“
„Weil ich den Eindruck habe, dass es hier vielleicht doch ein Geheimnis gibt, mit dem alle hinterm Berg halten, warum auch immer. Vielleicht sind Sie um den Ruf Ihrer Tochter besorgt, aber bedenken Sie bitte, wenn es ein Mordversuch war, könnte der Täter auch ein zweites Mal zuschlagen und dann Erfolg haben.“
„Nun ja, in der Gemeinde wird zum Teil schon über Gabriela geredet, aber das ist alles Blödsinn. Ich singe ja im Kirchenchor und Edeltraut Bonhörster, die hat mich schon mehrmals angesprochen, dass die Leute in der Gemeinde sich wundern, dass Gabriela keinen Gottesdienst auslässt und so oft im Gemeindehaus zu tun hat. Niemand in ihrem Alter tut das, aber das ist eben, weil die Kirche ihr Leben ist, sie will auch später einmal Pfarrerin werden, früh übt sich, was ein Meister werden will. Aber meine Mitsängerinnen im Kirchenchor und einige aus dem Presbyterium meinen wohl, Gabriela hätte da andere Interessen, die vor allem im Pfarrhaus lägen.“
„Was meinen Sie damit?“
„Ich meine damit, dass die Leute ihr unterstellen, sie mache dem Pfarrer den Hof.“
„Und was denken Sie darüber?“
„Das ist natürlich vollkommener Unsinn! Pastor Berger macht sich doch nicht an Minderjährige heran und meine Tochter schwärmt für irgendwelche Schauspieler und nicht für so einen soliden Mittvierziger. Aber von den Frauen aus dem Chor haben, glaube ich, so einige ein Auge auf ihn geworfen. Sie würden sich natürlich nie blamieren, indem sie versuchen würden, ihn zu bezirzen, sie wissen dass sich das nicht gehört und dass sie auch keine Chance hätten. Aber dann soll so ein sechzehnjähriges Mädchen sich das gefälligst auch nicht erlauben. Und das ärgert sie am meisten, dass die Sechzehnjährige ihn vielleicht rumkriegen würde. Das ist natürlich Quatsch, aber diese Waschweiber sind so eifersüchtig, da geht in den Köpfen so einiges durcheinander. Am schlimmsten ist Hannelore Albrecht. Die sagt mir ja nichts, dafür ist sie sich viel zu fein, aber die guckt mich an, als käme ich aus der Gosse und hinter meinem Rücken spricht sie schlecht über meine Tochter, dabei ist sie selber ganz wild auf den Berger, nur deshalb sitzt sie ja auch im Bibelkreis.“
„Wer ist Hannelore Albrecht?“
„Ach, die wohnt ganz in der Nähe des Gemeindehauses. Ist ganz aktiv in der CDU. Ihr Mann ist Ingenieur und sie ist Hausfrau und neben der Politik geht sie eben noch zum Bibelkreis und sitzt seit Neuestem auch im Presbyterium.“
„Und wer hat Sie noch einmal auf das Gerede angesprochen?“
„Edeltraut Bonhörster. Die singt mit mir im Chor und sitzt auch im Presbyterium und ihre Tochter Tanja, geht mit Gabriela zur Schule. Aber die glaubt das alles nicht, die hat mir nur von dem Gerede erzählt.“
Viel mehr war aus Gabrielas Mutter nicht herauszubekommen und Keller entschloss sich, die weniger tratschsüchtige Presbyterin aufzusuchen.
Eldeltraut Bonhörster bestätigte die Existenz der Gerüchte und erklärte: „Meine Tochter meint ja, dass Gabriela sich wohl für einen anderen gestandenen Mann interessiert als für den Pfarrer. Zuerst wollte sie nichts sagen und erklärte, sie hätte sich schon genug verplappert, aber dann habe ich ihr klar gemacht, dass es auch in Gabrielas Interesse ist, Licht in das Dunkel zu bringen. Das Mädchen hat sich wohl unsterblich in ihren Geschichts- und Religionslehrer verliebt. Der wohnt auch hier und ist sehr engagiert in der Gemeinde. Meine Tochter sagt, es gebe Hinweise, dass er einem kleinen Techtelmechtel gegenüber nicht abgeneigt sei, aber ich weiß nichts, das sind alles nur Mutmaßungen. Und selbst wenn, dann könnte ich mir nicht vorstellen dass jemand sie deshalb umzubringen versucht, weder seine Frau, die nie ernsthaft eifersüchtig auf ein junges Mädchen wäre, noch er selbst, um einen Fehltritt zu vertuschen.“
„Wie heißt der Lehrer?“
„Michael Müller. Er wohnt ganz in der Nähe des Gemeindehauses. Ich kann Ihnen Adresse und Telefonnummer aufschreiben.“
Bei Familie Müller traf Keller niemanden an, stellte aber fest, dass Familie Albrecht direkt nebenan wohnte. Warum nicht einmal mit der missgünstigen Presbyterin plaudern?
Ein junges Mädchen beziehungsweise eine sehr junge Frau öffnete ihm die Tür. Eine schlanke, sportliche Erscheinung, hochwertig gekleidet mit einem betont ernsthaften, ein wenig mürrischen Gesichtsausdruck.
„Ich hätte gern Frau Hannelore Albrecht gesprochen. Mein Name ist Stefan Keller und ich bin von der Kriminalpolizei.“
„Meine Mutter ist gerade nicht zu Hause.“, erwiderte die junge Frau so langsam und gelangweilt, dass Keller befürchtete, sie würde gleich im Stehen einschlafen.
„Aber wenn Sie die Tochter sind, können Sie mir vielleicht weiterhelfen. Haben Sie etwas beobachtet oder bemerkt im Zusammenhang mit Gabriela Schulzes Unfall, der sich vor sechs Wochen ereignet hat?“
„Darüber weiß ich nichts.“, erwiderte das Mädchen. „Sie war genau wie ich beim Jugendkreis und ist erst nach mir nach Hause gefahren.“
„Verraten Sie mir Ihren Namen?“
„Klara Albrecht.“
„Und sie kennen Gabriela Schulze nur vom Jugendkreis?“
„Ja, sie ist Teilnehmerin seit ungefähr zwei Jahren. Und ich leite den Kreis, habe ich damals vom Jugendwart übernommen, als es noch einen gab. Jetzt gibt die Kirche dafür ja kein Geld mehr aus und wir Ehrenamtlichen müssen alles allein machen.“
„Was wissen Sie über Gabi Schulze?“
„Sie kommt halt einmal die Woche. Im Kindergottesdienst-Helferkreis ist sie auch noch. Das habe ich auch mal gemacht, aber jetzt, wo es aufs Abi zugeht, habe ich damit aufgehört. Gabi ist ein bisschen übereifrig. Sie will überall mitmischen, ist aber eigentlich noch lange nicht so weit.“
„Warum, glauben Sie, will sie überall mitmischen?“
„Meine Mutter meint ja, dass sie sich für Pastor Berger interessiert, weil der auch immer so ein Gewese um sie macht, aber ich glaube, das tut er nur, weil er ihre Tante so gut kennt. Gabi hat wirklich gar nichts drauf. Sie würde, glaube ich, gern den Jugendkreis übernehmen, spätestens, wenn ich Abi gemacht habe und zum Studium wegziehe. Aber ich sehe das nicht, weder theologisch noch pädagogisch. Andererseits ist Herr Berger froh, wenn er ein dummes Huhn findet, das den Kreis leitet und zwar so, wie er sich das vorstellt. Ich habe mich ja öfter mit ihm angelegt, da ist ihm so ein treudoofes Mäuschen natürlich lieber.“
„Haben Sie schon einen Führerschein, Fräulein Albrecht?“
„Nein, ich bin noch dabei. Warum fragen Sie?“
„Reine Routine.“
„Und übrigens sagt man nicht mehr Fräulein. Man nennt unverheiratete Männer ja auch nicht Herrlein.“
„Entschuldigen Sie bitte, aber um Sie mit Frau Albrecht anzusprechen, dafür erscheinen Sie mir noch reichlich jung. Wann kommt ihre Mutter zurück?“
„Das weiß ich nicht.“
„Dann komme ich später noch einmal vorbei.“
Mittlerweile stand bei Familie Müller ein schwarzer Taunus vor der Tür. Keller klingelte erneut an der Haustür und ein schlanker, gut angezogener Mittdreißiger öffnete ihm, Michael Müller, der Lehrer. Keller stellte sich vor und kam sofort zur Sache: Ob er Gabi Schulze an besagtem Unfalltag gesehen habe.
„Ja, sie war direkt davor hier bei mir, nach dem Jugendkreis. Sie hat mir den Gemeindehausschlüssel zurück gebracht. Ich habe einen und sie leiht ihn sich manchmal, wenn sie schon ins Haus will und Klara Albrecht noch nicht da ist, zum Beispiel.“
„Hat sie nur den Schlüssel abgegeben oder ist sie zu Ihnen ins Haus gekommen?“
„Sie bat darum, kurz hereinkommen zu dürfen, sie wollte mich sprechen.“
„Worum ging es?“
„So eine Art theologisches Problem. Sie war wohl mit Klara aneinandergeraten. Klara ist eine sehr entschiedene Christin, sie glaubt, dass Menschen, die sich nicht zum Evangelium bekennen, in der ewigen Verdammnis landen. Gabriela ist da sehr viel liberaler, sie glaubt, dass es auf die guten Absichten und Taten ankommt und ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Ich hatte aber kein Interesse, zwei Stunden darüber zu diskutieren. Als mir klar wurde, dass sie kein dringendes persönliches Problem hatte, habe ich die Diskussion abgebrochen und sie gebeten zu gehen, weil wir ja schließlich beide am nächsten Morgen zur Schule mussten.“
Keller wurde hellhörig. „Vermuten Sie ein tieferliegendes Motiv für ihre Bitte um ein Gespräch? War das theologische Thema möglicherweise nur ein Vorwand?“
„Ich weiß nicht was Sie meinen.“
„Vielleicht hatte das Mädchen weitergehende Absichten. Es kommt doch gelegentlich vor, dass Schülerinnen sich in ihren Lehrer verlieben. Vielleicht hat sie einfach ihre Nähe gesucht und war dann verständlicherweise verletzt, als sie sie so kurz angebunden abgefertigt haben.“
Müller blickte nachdenklich und betroffen drein. „Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich denke, Gabriela ist einfach ein Mädchen, dass sich für religiöse Themen interessiert. Sie ist kirchlich sozialisiert, die Gemeinde ist ihre Heimat, da fühlt sie sich aufgehoben. Sie ist sehr sensibel und gefühlsbetont, also in spiritueller Hinsicht. Ich glaube junge Männer sind noch kein Thema für sie.“
„Na, wenn Sie sich da mal nicht irren.“, sagte Keller, verabschiedete sich und ließ einen grübelnden Michael Müller zurück.
ENDE TEIL I – TEIL II FOLGT AM 14.10.2016
Who done ist? Was glaubt Ihr liebe Leserinnen und Leser? Ratet doch mal und schreibt mir Eure Prognosen.

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Samstag, 1. Oktober 2016
Gerontokratie – Vorgeschichte zum letzten Kurzkrimi
Zum Schlussgeläut verließen die zahlreichen Besucher unterschiedlichster Altersgruppen gemächlich die Kirche, nach diesem besonderen und anregenden Gottesdienst. Wie in jedem Jahr wurde die feierliche Veranstaltung zum Reformationstag vom Frauenabendkreis und der Männerarbeit gestaltet. Auch einige Jugendliche waren erschienen, die sich nun auf ihre spektakuläre Halloween-Party freuten. Das Zugeständnis, mit Rücksicht auf das Reformationsfest nicht von einer Halloween- sondern stattdessen von einer Gruselparty zu sprechen, hatte der Pfarrer ihnen abgerungen. Dafür hatte Sebastian, der engagierteste Ehrenamtliche von allen, schon bei der Jahresplanung im Vorjahr durchgesetzt, dass die Jugend den Gemeindesaal für die Disco, die Küche für das Buffet und den Jugendraum als Rückzugsort für Gespräche zur Verfügung hatte. Es war schon eine groteske Situation, als sich im Gottesdienst die hinteren Bänke mit Angeschossenen, Moorleichen, Vampiren, Hexen und Gespenstern gefüllt hatten, aber wider Erwarten beklagte sich niemand.
Sebastian sah in der Küche nach dem rechten. Viktoria überwachte das Buffet und sagte mit Grabesstimme: „Ich habe hier alles unter Kontrolle, Meister.“
So farblos und unauffällig wie er das ganze Jahr über erschien, hatte er sich auch verkleidet: Als Gespenst mit weißem Laken und hell geschminktem Gesicht. Im Saal standen schon die beiden Manuels am DJ-Pult und an der Lichttechnik, und die ersten Jugendlichen strömten in die phantasievoll eingerichtete Disco.
Im Jugendraum waren die Tische mit Herbstlaub und Kürbislaternen dekoriert worden, da wollte Sebastian noch eben die Teelichter anzünden. Als er den Raum betrat, standen dort eindeutig nicht zur Party gehörende Frauen mit offenen Mündern im geschmückten Raum.
„Was hat das denn hier zu bedeuten, Sebastian?“, fuhr Lotte Hartlaub ihn schneidend an.
„Hier ist doch heute die Gruselparty.“, erklärte Sebastian genervt.
„Und wieso wissen wir davon nichts?“, fragte Lotte. Der verächtliche Blick ihrer wasserblauen Augen korrespondierte perfekt mit der Herrenmenschenhaltung ihres altersgemäß gut durchtrainierten, dahinwelkenden Körpers.
„Ich weiß nicht, warum Sie das nicht wissen.“, erwiderte Sebastian stoisch, „Wir haben das bei der Jahresplanung so besprochen.“
„Ja, ich weiß, dass ihr heute mit eurem Gelärme den Saal belagert, aber doch nicht den Gruppenraum. Es ist schließlich Donnerstag, da trifft sich immer der Frauen-Abendkreis, das weißt du doch. Also räum' hier mal ganz schnell diese vorchristliche Dekoration von den Tischen und stell die so hin, wie sie gehören.“
„Also erstens ist das ein Mehrzweckraum.“, erklärte Sebastian, „Da stellt sich jede Gruppe selbst die Tische so hin, wie sie sie braucht...“
„Das haben wir jawohl noch nie gemacht, dafür haben wir unsere Küsterin!“,
fiel Lotte ihm ins Wort.
„...und außerdem“, fuhr Sebastian unbeirrt fort, „ist das heute eine Ausnahme. Das war so besprochen. Wenn das Bibliodrama im Haus ist, müssen wir unseren Jugendkreis ja auch ausfallen lassen.“
„Also wenn eine Sonderveranstaltung stattfindet.“, erklärte Lotte giftig, „Dann muss man die Leiter der Gruppen zwei Wochen vorher noch einmal persönlich informieren, da guckt doch nicht jeder ständig in den Jahresplan.“
„Aber da hingen auch Zettel an den Türen.“, verteidigte sich Sebastian.
„Zettel an den Türen.“, schnaubte Lotte. „Wer soll das denn alles lesen? Heute Abend sind wir hier und wir bleiben jetzt auch, ich kann die Damen ja jetzt schlecht wieder nach Hause schicken, wo sie einmal hier sind. Und wie lauft ihr überhaupt alle rum? Das ist jawohl eines evangelischen Gemeindehauses unwürdig. Wollt ihr heute Abend alle zu Tode erschrecken? Es ist ja auch noch immer nicht geklärt, wer letzte Woche die Margit Reichert überfallen hat. Wenn Ihr damit etwas zu tun habt, dann gnade euch Gott. Und jetzt hol ein paar starke Jungs, die uns eben die Tische stellen und räum diese schmuddeligen Blätter und Kürbisse weg!“
„Das tue ich auf gar keinen Fall!“, erwiderte Sebastian und verließ den Raum. Wutschnaubend ging er nach unten, wo der Saal sich mit zahlreichen Jugendlichen gefüllt hatte.
„Hey, Sebi, was ziehst du denn für 'ne Hackfresse?“, brüllte Timo ihn an.
„Der Gruppenraum wird von den Schildkröten belagert, obwohl abgesprochen war, dass wir den haben.“, beschwerte sich Sebastian. „Ach egal. Tanzen wir erst mal 'ne Runde und essen so lange in der Küche“, sagte er dann. „Ich kann die ja schlecht rausprügeln oder von der Polizei abholen lassen.“
„Das wäre mal ein Spaß!, erwiderte Timo grinsend.
Die Tür ging auf: Helmut Kottmeier und Uwe Behrendt vom Männerkreis blickten die Jugendlichen zornig an. Mit dem energischen Blick eines Pfadfinder-Meutenführers ging Helmut auf Sebastian zu und schrie gegen die Musik an: „So geht das nicht. Da kann sich ja kein Mensch im Haus mehr unterhalten! Dreht das mal leiser!“
Niemand drehte den Tonregler herunter. Die Jugendlichen fühlten sich im Recht.
Nun trat auch Uwe vor und seine Halsschlagader schwoll bedrohlich an als er brüllte: „Habt ihr nicht gehört? Ihr sollt die verdammte Musik leiser drehen! Oder soll ich das machen?“
Eingeschüchtert regelte Manuel die Musik so weit herunter, dass man sich für eine Unterhaltung nicht mehr anschreien musste.
„Ihr könnt doch nicht so einen Radau veranstalten, wenn hier noch andere Kreise im Haus sind!“, blaffte Uwe die Jugendlichen kollektiv an.
„Hier haben heute keine anderen Kreise im Haus zu sein.“, blaffte Sebastian zurück. „Der Termin war abgesprochen. Wir feiern hier heute eine Party und bei einer Party ist die Musik laut und zwar so laut, dass man sie überall im Haus hört. Unterhalten kann man sich dann im Gruppenraum, aber da sitzt ja auch schon unabgesprochenerweise der Frauenabendkreis. Ich diskutiere das jetzt auch nicht mehr mit euch, ich sorge jetzt dafür, dass das geregelt wird.“
Sebastian rauschte aus dem Saal und ging vor die Tür. Draußen holte er sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief den Pfarrer an.
„Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber wir werden gerade von den Jungs von der Männerarbeit angegiftet, dass wir die Musik leiser drehen sollen und der Frauenabendkreis belagert den Gruppenraum und die wollen nicht nur nicht wieder gehen, die verlangen auch noch, dass wir unsere Dekoration weg räumen und die Tische passend stellen. Aber es ist doch schon lange abgesprochen, dass wir den Raum heute Abend nutzen.“
„Ach entschuldige, Sebastian, das war mein Fehler.“, erklärte der Pfarrer. „Ich habe vergessen, Lotte Hartlaub noch einmal daran zu erinnern.“
„Trotzdem können die doch jetzt nicht einfach bleiben.“, protestierte Sebastian. „Es ist schon schlimm genug, dass der Montag total blockiert ist, weil der Altenclub so unflexibel ist und dass wir an jedem ersten Freitag im Monat vor die Tür müssen, weil das Bibliodrama Ruhe braucht, wo sich vier Rentnerinnen mit einer Kursleiterin treffen. Aber dass gleich zwei Kreise völlig ignorieren, dass heute eine Veranstaltung im ganzen Haus stattfindet, die seit einem Jahr abgesprochen ist, dass schlägt dem Fass den Boden aus und ich finde, da sollten Sie jetzt mal eingreifen.“
„Ich verstehe dich ja, Sebastian.“, erklärte der Pfarrer. „Aber ich will auch niemanden vor den Kopf stoßen. Das sind ja alles verdiente Mitarbeiter der Gemeinde, die viel Verantwortung tragen, einige davon sind sogar im Presbyterium.“
„Na und?“, fragte Sebastian erbost. „Bin ich etwa kein verdienter Mitarbeiter? Übernehme ich keine Verantwortung?“
„Doch doch, natürlich. Aber von Jugendlichen wird im allgemeinen erwartet, dass sie etwas flexibler sind. Das ist für junge Menschen einfach leichter.“
„Dass sollen wir uns das jetzt etwa alles gefallen lassen?“
„Nein. Also die Tische können die Frauen vom Abendkreis ja auch einfach mal so stehen lassen. Die bleiben ja höchstens eine Stunde, jetzt nach dem Gottesdienst, danach habt ihr den Raum wieder für euch. Und was die Lautstärke betrifft, vielleicht könnt ihr den Männern da ein wenig entgegenkommen, die sind doch auch nach eineinhalb Stunden wieder weg und dann könnt ihr ja bis 24 Uhr feiern, das haben wir euch ja zugesichert.“
„Irgendwann“, murmelte Sebastian, „kriegt man das alles zurück.“ Dann legte er auf.

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Freitag, 23. September 2016
Feuerzangenbowle – abgeschlossener Kurzkrimi
Helmut stand schon geschäftig in der Küche, als Sonja und Richard dazu kamen.
„Hast du im Kaminzimmer schon angeheizt?“, fragte ihn Richard mit einem schelmischen Grinsen.
„Nein.“, erwiderte Helmut todernst, „Das machen wir zusammen mit der Feuerzangenbowle. Kommen jetzt eigentlich alle?“
„Werner hat keine Zeit.“, sagte Sonja . „Und Sabine hat eben noch eine Mail geschickt, dass ihr etwas dazwischen gekommen ist. Aber Friedhelm und Hanna kommen auf jeden Fall.“
„Mit Gesine und Lotte habe ich eben noch gesprochen.“, sagte Richard .
Wie auf ein Stichwort erschienen die beiden Frauen mit Erwin, Margit und Uwe im Schlepptau, kurz darauf trudelten auch Friedhelm und Hanna ein. Der Gesprächskreis war komplett. Helmut hatte den Topf mit der Mischung aus Rotwein, Orangensaft, Orangenscheiben Zimt und Nelken schon aufgesetzt, als plötzlich Sebastian die Küche betrat. Der Jugendliche nuschelte ein leises „N'Abend.“ und man spürte deutlich, dass er sich wie ein Fremdkörper unter all den ums Rentenalter peripherierenden Erwachsenen fühlte.
„Ihr wisst aber schon, dass das Kaminzimmer heute Abend belegt ist?“, fragte Helmut eifrig.
„Wir treffen uns im Jugendraum.“, erwiderte Sebastian tonlos.
„Im Gruppenraum, so heißt der jetzt.“, verbesserte Lotte ihn schnippisch.
„Was heißt denn eigentlich wir?“,kläffte Uwe und sah den Jugendlichen herausfordernd an.
„Kommen da überhaupt noch welche außer dir? So eine richtige Jugendgruppe kriegt ihr ja schon lange nicht mehr zustande.“
„Kommen schon noch ein paar.“, antwortete Sebastian scheinbar emotionslos, aber seine Augen sprühten Funken.
„Nehmt euch mal ein Beispiel an uns.“, tönte Erwin. „Als wir noch so junge Hüpfer waren wie ihr, da waren wir mit dreimal soviel Mann wie jetzt. Und wir haben richtig was los gemacht, nicht nur vorm Computer rumgehangen. Wenn ihr in fünfzig Jahren auch nur noch ein Drittel von dem zusammen kriegt, was ihr heute habt, dann seid ihr womöglich nur ein zwei Drittel Mensch.“ Er lachte schallend.
Sebastian ignorierte die Sprüche, kochte eine Kanne Tee, stellte ein paar Tassen, Löffel und Zucker auf ein Tablett und verschwand wortlos in den ehemaligen Jugendraum, der jetzt Gruppenraum hieß.
Als die Basis der Feuerzangenbowle warm genug war, siedelte der Gesprächskreis ins Kaminzimmer um. „Ich schmeiß mal das Feuer an.“, sagte Uwe und positionierte sich wichtigtuerisch vor dem Kamin. Uwe war einer dieser Typen die sich ganz archaisch und tief verbunden mit ihren Urahnen fühlten, wenn sie ein Kaminfeuer entfachten oder vor dem Grill standen. Helmut war da feinsinniger, er bevorzugte die saubere, ätherische Flamme des Rechauds, auf den er nun den Topf mit der angesetzten Bowle stellte, die Zange und den Zuckerhut auflegte, alles mit hochprozentigem Rum begoss und wartete, bis alle es sich gemütlich gemacht hatten. Friedhelm knipste mit einem süffisanten Lächeln die schummrigen Stehlampen an, während Hanna, seine Gattin, die grelle Deckenbeleuchtung ausknipste. Als alle Platz genommen hatten, entzündete Helmut den Zuckerhut und alle blickten versonnen in die orangefarbenen und tiefblauen Flammen, vor allem aber schon bald in den brennenden, geschmolzenen Zucker der karamellisiert in die warme Flüssigkeit tropfte und dort sein unvergleichliches Aroma verbreitete.
„Sieht das schön aus.“, hauchte Sonja schwärmerisch und ganz im Einklang mit ihren feinen Gesichtszügen, dem zierlichen Körper und der elfenhaften Haltung, die sie sich auch jenseits der Sechzig bewahrt hatte. Es lief eine heimliche Konkurrenz zwischen ihr und Margit , die genauso alt und genauso zart war, aber im Gesicht nicht mehr ganz so gut definierte Konturen vorzuweisen hatte.
„Für mich bitte nur eine halbe Tasse.“, sagte Lotte und kniff wie um die Ernsthaftigkeit ihrer reduzierten Alkoholkonsum-Absichten zu bekräftigen, altjüngferlich den Mund zu. Lotte war unter allen anwesenden Frauen mit Abstand die stutenbissigste, sie war pensionierte Englischlehrerin, gab sich gern als feministische Frauenförderin, duldete aber kein weibliches Wesen neben sich, das ihr in irgendeiner Hinsicht überlegen sein könnte. Wenn sie bei einer Frau diesen Eindruck hatte, so wurde diese umgehend so lange akribisch demontiert bis die Ex-Studienrätin ihr Ziel erreicht hatte. Hanna, eine patente, freundliche, bodenständige Praktikerin, hatte das längst durchschaut und hielt Lotte konsequent auf Abstand.
Richard nahm einen kräftigen Zug. Er genoss schon seit einigen Jahren seinen Ruhestand, hatte die Altersteilzeit in fünf Jahre Vollzeit und Fünf Jahre Vorruhestand umgewandelt und erfreute sich bester Laune und Gesundheit.
„Wann starten wir denn den Film?“, fragte Gesine, „wenn die ersten Flammen herunter gebrannt sind?“ Sie war eine besonders vorsichtige Person, immer höflich, besonders freundlich und zugewandt, immer offen für neue Ideen, aber gleichzeitig furchtbar ängstlich und verletzlich. Die aparte Sonja und die ihr hierin kaum nachstehende Margit verunsicherten sie und machten, dass sie sich klein, dick und dumm vorkam. Vor Männern wie Uwe fürchtete sie sich, Erwin schüchterte sie mit seiner barschen Art ein, Richard verunsicherte sie, weil er sehr ausgiebig flirtete und dabei auch noch immer ziemlich attraktiv war, aber den zuverlässigen Helmut und vor allem den in sich ruhenden Friedhelm hatte sie besonders gern.
Da saßen sie nun, der versammelte Gesprächskreis, und sahen sich zum gefühlt hundertsten Mal an, wie Heinz Rühmann zum Pfeiffer mit drei f wurde und seine Dinosaurier-artigen Pauker an der Nase herumführte.
„Helmut , sagte Richard , „ich glaube du hast einen Schuss Rum zu viel in die Bowle getan. Ich seh schon doppelt.“
„Unsinn.“, widersprach Lotte entschieden, „Der Film ist irgendwie unscharf. Hast du die DVD nicht richtig sauber gemacht?“
Geräuschvoll sackte Friedhelm vom Sessel. Es verbreitete sich umgehend eine große Aufregung, aber jeder, der versuchte zu helfen, ging unmittelbar nach dem Aufstehen in die Knie.
Acht Stunden später
„Das sieht hier aus, als wäre der Fuchs im Hühnerstall überrascht worden.“, raunte Keller seiner Kollegin Kerkenbrock ins Ohr.
„Ihren Humor möchte ich mal haben.“, zischte die und verbesserte sich dann: „Oder lieber nicht. Wer hat die eigentlich gefunden?“
„Die Küsterin. Irgend ein Angehöriger hat mitten in der Nacht bei ihr angerufen und da hat sie nachgesehen. Wir müssen die Bowle untersuchen lassen, ich wette, da ist was drin, was da nicht rein gehört. Und kann mal einer dem Scheiß Rühmann den Saft abdrehen? Ich kann dem alten Nazispeichellecker keine drei Minuten ins Gesicht sehen, ohne dass sich mir der Magen umdreht.“
Eine Beamtin schaltete Fernseher und DVD-Player aus.
„Nur einen wenzigen Schlock.“, sinnierte Keller.
Im Nebenzimmer saß zitternd die Küsterin. Sabine Kerkenbrock gesellte sich zu ihr. „Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Frau Pankoke?“
„Ja, natürlich.“
„Waren außer dem hiesigen Gesprächskreis noch andere Gruppen im Haus?“
„Der Jugendkreis. Die waren im Gruppenraum.“
„Hatten die Jugendlichen irgendwie Zugang zu der Bowle?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„War die Haustür abgeschlossen oder geöffnet, als Sie heute Nacht hier ankamen?“
„Die Tür war offen.“ Frau Pankoke blickte verzweifelt aus dem Fenster. Plötzlich riss sie die Augen auf: „Auf dem Dachboden der Kirche brennt Licht.“, stieß sie hervor. „Ich war um sieben heute Abend noch da oben, da brannte es nicht.“
„Haben die Jugendlichen Zugang zum Dachboden?“
„Nur Sebastian, der Gruppenleiter. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was der da oben wollte. Da versteckt sich bestimmt der Mörder und wartet, bis sich hier alles beruhigt hat.“
„Das glaube ich nicht, Frau Pankoke.“, beruhigte Kerkenbrock die Küsterin. „Wenn hier überhaupt ein Mord vorliegt, vielleicht ist es auch einfach nur ein Unglücksfall. Aber wir können ja mal nachsehen.“
In Begleitung von zwei weiteren Beamten bestiegen Stefan Keller und Sabine Kerkenbrock den Dachboden der Kirche, den Schlüssel hatten sie sich von der Küsterin aushändigen lassen. Was sie dort vorfanden, ließ ihrer aller Blut gefrieren: Mit einem Bergsportseil hatte sich ein junger Mann im Dachfirst erhängt. Unter seiner Leiche lag ein Stück Papier. Keller streifte sich Handschuhe über, nahm es an sich und entfaltete es. Dort stand:
„Liebe Gemeinde!
Jetzt kann ich wohl unmöglich weiterleben, mit der Schuld, die ich auf mich geladen habe. Ich wollte sowieso nicht weiterleben, darum habe ich mir hochkonzentriertes Barbiturat besorgt. Ich verrate nicht wie, ich will niemanden unnötig belasten. Aber dann waren da diese selbstgefälligen Silberpanther, die mir und der Jugend in unserer Gemeinde alles genommen haben, was uns lieb und wichtig war. Wir hatten hier nie einen hauptamtlichen Jugendmitarbeiter, wir haben immer alles ehrenamtlich geleistet und Geld gab es auch immer nur ganz wenig. Zuerst wurde der Jugendraum auch für andere Gemeindegruppen genutzt. Als die Stadt das herausgefunden hat, gingen uns auch noch die öffentlichen Fördermittel verloren und die Gemeinde hatte es natürlich nicht nötig, diese zu ersetzen. Dann regten sie sich auf, dass der Jugendraum ihre Vorstellung von Ästhetik beleidigte, schließlich würden nicht nur Jugendgruppen den Raum nutzen. Er wurde genauso neutral eingerichtet wie jeder langweilige Mehrzweckraum in jedem evangelischen Gemeindehaus. Unsere Arbeit wurde praktisch unmöglich gemacht und so blieben auch nach und nach die Jugendlichen weg. Heute Abend hat Erwin mir deswegen noch einen dummen Spruch rein gereicht, ausgerechnet Erwin, der in jungen Jahren die Vorstandsarbeit im CVJM hingeschmissen hat, sich um nichts mehr geschert hat und jetzt als Rentner immer dazwischen pfuscht, wenn der deutlich jüngere Vorstand seine Arbeit machen will. Nicht einmal unser Herbstfest hat er uns allein planen lassen, ständig hat er seine Verbindungen in der Gemeinde spielen lassen und uns Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich konnte sie einfach nicht mehr sehen, diese ewig Wein kübelnden Rentner, die sich überall im Gemeindehaus breitmachen und alle Macht an sich reißen, weil sie sonst nichts zu tun haben. Da habe ich ihnen mein Barbiturat geschenkt und das Gemeindehaus von dieser Plage befreit. Ich bin immer gern Klettern gegangen und ich war gern ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Evangelischen Kirche. Ist doch ein passender Abgang. Macht es künftig besser. Euer Sebastian.“
Keller reichte das Papier seiner Kollegin und sagte: „Den Brief sollte man eigentlich veröffentlichen. Eindeutig ein Generationen-Konflikt.“
ENDE

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