Freitag, 25. Mai 2018
Kopftuchmänner, Messermädchen
„Man sieht sich immer zweimal im Leben.“, hatte Püppi gesagt.
„Schön wär's.“, hatte Keule gedacht. Ja, wenn es nur zweimal gewesen wäre, das wäre zwar schon zweimal zu viel gewesen, aber mehr eben auch nicht. Aber Püppi und Keule waren sich unzählige Male begegnet.

Schon in der Grundschule waren ihre richtigen Namen bald Geschichte gewesen. Die verwöhnte Püppi mit dem trotzigen Schmollmund, dem seidigen blonden Haar und den riesigen blauen Augen wickelte mit ihrer Niedlichkeit jeden Erwachsenen um den kleinen Finger, während die grobschlächtige Keule zwar über ungewöhnliche Kräfte verfügte, aber mit ihrem plumpen, schwerfälligen Körper, dem Bratpfannengesicht und dem strohigen, aschblonden Haar bestenfalls belächelt wurde; mit etwas anderem als Unkompliziertheit, Natürlichkeit und Belastbarkeit konnte sie keine Sympathiepunkte einheimsen.
Immer hatte Püppi die Spielregeln zu ihren Gunsten gebeugt, schwache Kinder manipuliert und sich von allem das Beste gesichert. Ging das mal daneben, war ihr meistens etwas eingefallen, das sie als Mitleidskarte hatte ausspielen können.

Wer nun meinte, dieses Kind sei an Durchtriebenheit nicht zu toppen, der hatte weit gefehlt, denn mit dem Einschießen der Östrogene wurde aus dem manipulativen Schmollmund-Quengelchen eine skrupellose Intrigantin. In der Schule gab sie abgeschriebene Hausaufgaben als ihr höchst selbst verfasstes geistiges Eigentum aus und bezichtigte die eigentlich Urheberin des Plagiats. Sorgfältig wählte sie ihre Gefolgsmädchen aus, solche, die nur einen schwachen Status in der Gruppe hatten und Püppi für ihren wachen Geist und ihre makellose Figur bewunderten. Die halfen ihr dann, die von ihr ausgewählten Opfer nach allen Regeln der Kunst in die Verzweiflung zu treiben. Die Lehrkräfte merkten nichts, genauso wenig wie der Jugendwart auf der Kirchenfreizeit. Die Evangelische Jugend, das war eigentlich Keules Revier gewesen, Püppi hatte sich mit den Lackaffen der Jungen Liberalen rumgetrieben, Cocktails in stylischen Bars geschlürft, in angesagten Clubs abgehangen, Ausflüge in Freizeitparks, Surfkurse und Inliner-Touren unternommen.
Keule dagegen war bei TEN SING eingestiegen, hatte Theater gespielt, tolle Soli gesungen und hatte in der Konfi-Arbeit mitgemischt. Aber der Gemeindepädagoge war wohl gerade mächtig auf Testosteron gewesen, als Püppi ihm mit ihren tränenverhangenen Kulleraugen die Hucke vollgelogen hatte, sodass in seinem Kleinhirn sämtliche Verbindungen zwischen Püppi und der Wahrscheinlichkeit einer Falschaussage außer Betrieb waren. Und so hatte am Ende über Keule das Damokles-Schwert einer vorzeitigen Heimreise auf eigene Kosten gehangen, obwohl doch Püppi nachts die Italiener in den Bungalow gelassen hatte – damals stand sie noch auf Jungs - , aber Keule mit ihren Marzipanarmen, ihrer unreinen Haut und ihren strohigen Haaren hatte den männlichen Freizeitleiter nicht von ihrer Unschuld überzeugen können.

Nach dem Abitur hatten sie sich endlich aus den Augen verloren. Keule hatte nach einer Tischlerlehre ein Ingenieur-Studium der Holztechnik erfolgreich absolviert, hatte seit einigen Jahren einen richtig guten Job, einen liebenswerten Mann und die nächste Generation unter ihrer stahlharten Bauchdecke.
Püppi hatte VWL und BWL studiert, sogar promoviert, sich in der freien Wirtschaft etabliert und weiter ihre Fühler in die Politik ausgestreckt. Aber die Liberalen waren ihr irgendwann zu weichgespült gewesen und so hatte sie sich den Rechtspopulisten angeschlossen. Sie warnte vor Kopftuchmädchen und Messermännern. Als wenn die ihr etwas hätten anhaben können.
„solltest dich lieber vor Kopftuchmännern und Messermädchen grausen.“, hatte Keule grinsend gefrotzelt und den Kanal gewechselt. Als hätte sie gewusst, dass Püppi längst dreckige Deals mit Saudis laufen hatte, in dem festen Glauben, die Wüstensöhne mit den Tischdecken auf dem Kopf vollkommen unter Kontrolle zu haben. Die zogen sie aber gerade über den Tisch, ohne dass Püppi es ahnte, hatten persönliche Termine vorgeschützt, um einen Tag Pause gebeten, sodass sie die Zeit für eine kleine Bergwanderung genutzt hatte. Auch wenn dieses Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand – in den Medien war sie mittlerweile omnipräsent. Wenn Keule ihre Fernsehauftritte sah, zappte sie die widerliche Püppi konsequent weg.

Aber jetzt stand sie da vor ohr und war nicht wegzuzappen. Bei einer einsamen Bergwanderung hatte sie am allerwenigsten damit gerechnet, Püppi zu begegnen. Beim Jahrgangsstufen-Treffen, da hatte sie sich gewappnet, aber dann war Püppi gar nicht da gewesen, und sie hatten in fröhlicher Runde zu fortgeschrittener Stunde rekapituliert, welche alten Anekdoten sie der Presse stecken könnten, um Püppi als öffentliche Person ein für alle Mal zu erledigen. Keule hatte die besten Geschichten gekannt. Und jetzt stand die Nazischlampe direkt vor ihr und irgendwie wurde Keule das Gefühl nicht los, dass jemand Püppi vom Jahrgangsstufen-Treffen berichtet hatte. Sie hatte so ein gefährliches Glitzern in den kalten, blauen Augen und beide standen bedenklich nach am Abgrund, keine Zeugen und die hohe Wahrscheinlichkeit eines tragischen Unfalls aufgrund eines fatalen Missgeschicks. Skrupellos war Püppi schon lange. Aber Keules Überlebenswille war ebenfalls nicht zu verachten.
„Ja“, sagte sie, „man sieht sich immer zweimal im Leben. Am Anfang und am Ende.“

Sie musste sie nur ein wenig mit dem Fahrtenmesser kitzeln, nicht einmal anritzen, damit sie ins Straucheln geriet. Püppi war zeitlebens nicht nur schlagfertig im Umgang mit Worten gewesen, auch ihre körperlichen Reaktionen waren immer prompt und präzise erfolgt.
Aber am Ende war die schwerfällige Keule dann doch flinker als die wache, wendige Püppi. Wer hätte das gedacht. Hätte sie sich mal in Acht genommen vor Kopftuchmännern, Messermädchen.

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