Freitag, 20. April 2018
Strandgut - abgeschlossener Kurzkrimi
Was für ein wunderbarer Sommerabend und das Anfang April. Nein, nicht in Bella Italia oder sonstwo am Mittelmeer. Es war kurz vor Zeeland, im Nordwesten der Niederlande, wo die Strände breit und die Wellen kräftig waren. Nur heute ließ die Brandung zu wünschen übrig. Der ablandige Wind und der flutbändigende Halbmond hielten die Nordsee so sehr im Zaum, dass Kleinkinder unbeaufsichtigt in ihr hätten planschen können, wäre die Wassertemperatur nicht deutlich zu niedrig gewesen.
Agatha sammelte Muscheln. So viele zusammenhängende, unversehrte Schwertmuscheln fand sie sonst nie. Im Sommer war alles zertreten, und die wenigen Exemplare, die nicht achtlosen, schweren Schritten zum Opfer gefallen waren, schnappten kindliche Schalentierkadaverjäger ihr regelmäßig vor der Nase weg. Sie baute daraus Windspiele für den Garten, denn sie liebte den Klang der aneinander klimpernden Kalkschalen.
Als sie genug Beute in ihren Jackentaschen gesammelt hatte, hob sie den Kopf und blinzelte in die untergehende Sonne. In einiger Entfernung fiel ihr ein leuchtend gelber Gegenstand ins Auge. Die erste vergessene Sandkastenschaufel oder ein Quietscheentchen?, dachte sie. Oder einfach nur der allgegenwärtige Plastikmüll der Weltmeere? Dann konnte sie es erkennen: Ein Gummihandschuh, wie man ihn im Haushalt benutzte, um die Haut zu schonen oder um die notwendige Distanz zwischen sich und ekligen Substanzen herzustellen, die es zu beseitigen galt.
Agatha grinste in sich hinein. Hey, Sergeant, phantasierte sie, Informieren Sie das Team von der Kriminaltechnik. Dies hier scheint mir ein wichtiges Beweisstück zu sein. Wer wirft schon einfach so Gummihandschuhe ins Meer oder entsorgt sie am Strand?
Ja genau, dachte sie, wer tut so etwas und warum? Und was, wenn dieser Handschuh tatsächlich benutzt worden war, um ein Verbrechen zu begehen? Aber wenn sie jemandem davon erzählte, würde man bestenfalls mutmaßen, sie habe ihre Medikamente abgesetzt. So ein Theater wegen so eines banalen Alltagsgegenstandes...
Nun stand sie unmittelbar davor, der Handschuh wirkte seltsam lebendig, hatte sich wohl in der tosenden Brandung mit Sand gefüllt, grotesk sah das aus. Sie hob ihn mit spitzen Fingern an. Meine Güte, war der schwer. Hinter ihr ertönte lautstarkes Gezeter. Schwärme von Möwen und Strandläufern stritten miteinander. Sie traute ihren Augen nicht. Zwei der Strandläufer hüpften auf einem Bein wie Kinder es beim Hinkelspiel taten. Agatha beobachtete sie eine ganze Weile. Sie taten dieses offenkundig nicht zum Spaß, sondern waren Opfer einer Verstümmelung, ob nun durch Unfall, Raubvogel, menschliche Grausamkeit oder Missbildung. Aber sie lebten, und als sie davonflogen, standen sie ihren zweibeinigen Artgenossen in nichts nach.

Agatha wandte sich wieder ihrem Fundstück zu, das einen seltsam fauligen Geruch verströmte, nicht nur brackig und fischig wie manche angespülte Muscheln, deren Fleisch zwischen den Schalen faulte, sondern süßlich und auf eine unbeschreibliche Weise widerwärtig. Sie zog den Handschuh mit beiden Händen auseinander und blickte hinein. Eine rotbraune Masse durchzogen von weißlichem Material glänzte feucht gehalten von der Salzlake des Meeres. Was zum Teufel konnte das sein? Sie war zu neugierig, fasste die Finger des Handschuhs an den Spitzen und schüttelte, bis ihr der Inhalt vor die Füße fiel. Sie erblickte eine abgetrennte, menschliche Hand. Kurz darauf fiel sie Ohnmacht.

Als Agatha wieder zu sich kam, war sie umgeben von Menschen, die sie mit Fragen bestürmten, die sie aber nicht beantworten konnte, weil sie in ihrem gegenwärtigen Zustand kein einziges Wort von dem aufgeregten Niederländisch verstand. Die Helfer hatten wohl einen Rettungswagen oder die Polizei gerufen, vielleicht auch beides, denn sie nahm ein sich näherndes Martinshorn wahr. Wenig später war sie umgeben von Sanitätern, von denen einer ihrer Muttersprache mächtig war, und als sie feststellten, dass die Anzeichen eines Schocks bei ihr bereits abklangen, fragte der Helfer, was denn eigentlich geschehen sei. Endlich brach es aus ihr heraus, dass sie geglaubt habe, der Handschuh habe sich in der Brandung mit Sand gefüllt, dass sie das neugierig gemacht habe, dass sie dann eine derartig undefinierbare Masse darin entdeckt habe, dass ihre unbezähmbare Neugier nach einer plausiblen Erklärung gelechzt habe und sie darum den Inhalt herausgeschüttelt habe. Als es dann keinen Zweifel mehr gegeben habe, dass es sich um eine menschliches Amputat handelte, habe sie die Erkenntnis wie ein Hammerschlag getroffen.
Da sie nun wieder bei sich war, hatte selbstverständlich auch die Polizei Fragen an sie und ein sprachbegabter Ermittler kam auf sie zu.
„Sie kommen aus Deutschland?“
„Ja.“
„Sind Sie im Urlaub?“
„Nur übers Wochenende.“
„Wo wohnen Sie?“
„In Outdorp. Ich habe ein Zimmer über Airbnb gemietet, im Hofdijksweg, gegenüber dem Eiscafé.“
„Okay.“, sagte der Polizist und seine himmelblauen Augen schienen sich unerbittlich in ihren Kopf zu bohren bis zur Rückwand ihre Schädelknochens.
„Können Sie sich ausweisen?“
Agatha erschrak. War sie etwas verdächtig? Dachte der Polizist, sie hätte den Eigentümer der Hand ermordet und zerstückelt und die Leichenteile in der Umgebung verteilt und dann den Fund der Hand und die darauffolgende Ohnmacht vorgetäuscht? Wie gelähmt starrte sie in sein Gesicht, unfähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen.
„Haben Sie einen Ausweis dabei?“, wiederholte der Ermittler die Frage. „Das wäre das Einfachste für uns. Sie sind eine wichtige Zeugin und wir müssen darum Ihre Personalien aufnehmen.“
Fahrig griff Agatha sich an die Brust, wo sie in einer separaten Tasche ihrer Outdoor-Jacke den Ausweis vermutete. Der Reißverschluss klemmte und ihre Nervosität wuchs, insbesondere unter dem erbarmungslosen, stahlharten Blick des Polizisten, der sie dadurch nur noch genauer musterte. Es war ein Teufelskreis, den sie nur durchbrechen konnte, wenn der verdammte Zipper sich endlich bewegen ließ und sie die gewünschte Karte präsentieren konnte. Schließlich klappte es, der Polizist nahm den Ausweis an sich, verglich kurz das Foto mit der Lebenden Person und reichte das Dokument an eine Kollegin weiter, die damit verschwand, um die Personalien zu überprüfen.
„Wir wollen nur gucken, ob Sie keine international gesuchte Terroristin sind.“, scherzte der Mann und grinste schief.
„Aha.“, stieß Agatha beunruhigt hervor. Gab es Fälle, in denen deutsche Touristen von niederländischen Polizisten Beweisstücke untergeschoben wurden, damit die einen Mordfall möglichst schnell erfolgreich abschließen konnten oder gab es solche Vorfälle nur in Bananenrepubliken wie Kolumbien oder den USA?
„Agatha?“, las der Beamte belustigt. „Die Gute?“
Agatha zuckte mit den Schultern, und es war wieder einer dieser Momente, in denen sie ihre Eltern glühend dafür hasste, dass sie sie mit diesem antiquierten, muffig klingenden Vornamen ausgestattet hatten, dazu in einer für Deutschland ungewöhnlichen Schreibweise, eher einer Protagonistin in einem Theaterstück wie „Arsen und Spitzenhäubchen“ würdig, denn einer modernen, jungen Frau, die in der freien Wirtschaft bestehen wollte. Aber ihre Eltern waren beide promovierte, auf alte Geschichte spezialisierte Historiker gewesen, und sie musste froh sein, dass sie es bei altgriechisch hatten bewenden lassen und nicht etwa ein unaussprechliches, assyrisches Kleinod ausgegraben hatten.
Und warum fand der Polizist es lustig, dass ihr Name „Güte“ oder „die Gute“ bedeutete? Hatte er sie insgeheim bereits verurteilt? War seine Frage die beißende Ironie des erfolgreichen Fallenstellers gegenüber seiner sich verzweifelt windenden Beute, die die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben hatte, ihrem Peiniger zu entkommen?
Aber dann wollte der Ermittler doch nur von ihr hören, wie genau der Fund sich abgespielt, wie der Handschuh dagelegen hatte und an welcher Stelle genau und ob sie sich noch an die exakte Uhrzeit erinnerte.

Als die Sanitäter sich davon überzeugt hatten, dass sie wirklich selbständig zu ihrer Unterkunft zurückgehen konnte, lief sie schließlich wieder allen an der leisen Brandung entlang und ließ den Ort des Schreckens hinter sich zurück, nicht aber das grausige Bild, das sich tief und für immer in ihr Gehirn gegraben hatte. So furchtbar der Anblick eines abgetrennten Körperteils auch war, es war nicht das Amputat selbst, das sie schließlich aus den Socken gehauen hatte. Da war etwas am Ringfinger gewesen, das sie schon einmal gesehen hatte. Es war mindestens zehn Jahre her. Damals hatte sie noch einen Haufen Geld verdient und keine Neuroleptika benötigt. Den Ring hatte sie selbst anfertigen lassen, ein absolutes Unikat, eine goldene, sich zweimal um den Finger windende Schlange, deren verdickter Kopf einer Kobra auf das mittlere Gelenk des Fingers wies, mit winziegn Smaragden als Augen und Rubinsplittern auf den filigranen Ausläufern, die die gespaltene Zunge darstellten.
Aimée war verrückt nach Königskobras gewesen, darum hatte sie ihr den Ring zum Geschenk gemacht. Sie vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. Etwas Kleines, Kaltes und Bizarr-Filigranes erwärmte sich allmählich durch das warme Blut, das ihr sich langsam beruhigendes Herz gleichmäßig in ihre linke Hand pumpte.
„Hab' ich es also noch geschafft.“, dachte sie und schritt beschwingt ihrer Unterkunft entgegen.
ENDE

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