Freitag, 2. März 2018
Brief eines Toten – ein Kurzkrimi in zwei Teilen – 1. Teil
c. fabry, 14:52h
Das Papier fühlte sich ungewöhnlich trocken an und wirkte seltsam vergilbt. Auch die Tinte, mit der Anschrift und Absender geschrieben waren, war deutlich ausgeblichen. Straße und Wohnort waren durchgestrichen und in jüngster Zeit mit einem Kugelschreiber in einer vollkommen anderen Schrift korrigiert worden.
Es war 10 Tage vor Kirstins vierzigsten Geburtstag und sie freute sich schon lange auf die rauschende Party, glücklich und zufrieden wie sie zur Zeit mit ihrem Leben war. Und jetzt das. Ein Brief von A. Buschmann. Nur der Name stand im Absender. Keine Anschrift. Aber der Brief schien vor langer Zeit verfasst worden zu sein und das war ja auch kein Wunder, denn A. Buschmann war vor fünfundzwanzig Jahren plötzlich gestorben. Kirstin traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Was hatte Alexander ihr mitteilen wollen und warum war der Brief mindestens fünfundzwanzig Jahre unterwegs gewesen? Wer hatte ihre Adresse korrigiert, ohne sich als Vollstrecker zu erkennen zu geben?
Kirstin spürte einen tiefen Schmerz im Bauch. Keinen seelischen, sicher den auch, aber was sie vor allem spürte, war ein stechender Schmerz im Unterleib, als würde jemand sie rektal mit einem Messer penetrieren und das Folterwerkzeug zu allem Übel auch noch umdrehen. Sicher hätte es sich um ein Vielfaches schmerzhafter angefühlt, wenn so ein brutaler Akt Wirklichkeit gewesen wäre, aber es war genau dieses Bild, mit dem sie ihr gegenwärtiges Gefühl am besten beschreiben konnte.
Kirstin dachte an Alexander Buschmann. Sie dachte daran, wie sie fassungslos vor Trauer unter der riesigen Rotbuche neben der Kirche gelehnt hatte und die Tränen zuerst nicht in Fluss geraten wollten, weil der Schock alle Bahnen blockierte und wie sie sich dann Bahn gebrochen hatten, über welche Schwelle auch immer, und nicht mehr aufgehört hatten, aus ihr herauszulaufen. Wie sie sich tagelang – ach was wochen- oder sogar monatelang gefühlt hatte, als sei ihr Körper ein Gefäß aus hauchdünnen, brüchigen Textilien, gefüllt mit winzigen Kügelchen aus Styropor, ja wie ein maroder Sitzsack hatte sie sich gefühlt, kraftlos und unzusammenhängend. Und hätte jemand nur eine winzige Stelle ihrer Außenhaut verletzt, wäre all ihr Innerstes einfach aus ihr herausgelaufen und sie hätte sich aufgelöst. Eigentlich war es damals genau das gewesen, was sie sich gewünscht hatte. Ihre große Liebe war für immer von ihr gegangen und sie durfte noch nicht einmal in aller Form um ihn trauern, denn sie war für ihn offiziell nur irgendjemand gewesen und sie war sich noch nicht einmal sicher, ob er sie auch geliebt hatte.
Dann brachen die schönen Erinnerungen über sie herein. Alexanders Hände bei ihrer Konfirmation. Sie hatten bei der Einsegnung gezittert und das hatte sie verwirrt. Die Grillparty mit den anderen Helferinnen im Pfarrgarten und Alexander hatte seinen ganzen Charme spielen lassen. Graue Novembernachmittage bei Händel, knusprigen Keksen und Sherry. Alexander hatte Scotch getrunken, aber Kirstin durfte als Fünfzehnjährige keinen Branntwein trinken – eigentlich gar keinen Alkohol, aber so ein kleiner Sherry, hatte Alexander gemeint – das diene ja eher dem Erlernen eines angemessenen Umgangs mit Alkohol. Sie rekapitulierte, an welchen Stellen ihres Körpers sie überall schon seine Hände gespürt hatte und kam auf eine beträchtliche Fläche. Alles war wieder da, das Herzklopfen, das Gefühl von Verheißung und nahender Erfüllung aller Sehnsüchte und dann wieder der große Schmerz des Verlustes, der ihr beinahe das Herz heraus riss. Sie befühlte den Brief, wagte aber noch immer nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn er Verletzendes enthielt? Den unumstößlichen Beweis, dass er sie nicht einmal besonders geschätzt hatte. Was, wenn er ihr in dem Brief seine Liebe gestanden hatte? Sie würde verrückt werden, wenn ihr klar würde, was sie hätte haben können und was man ihr genommen hatte, bevor sie auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte.
Vor dem Zubettgehen nahm sie den Umschlag erneut in die Hand. Nein, sie würde ihn jetzt nicht lesen, denn wie konnte sie wissen, ob die Zeilen nicht entsetzliche Dämonen heraufbeschworen, die sie die ganze Nacht kein Augen zutun ließen. Beim Einschlafen lenkte sie ihre Gedanken zu alltäglichen, leichten Dingen: Ruwens anstehende Klassenfahrt, das Strickmuster für Sophias Pullover. Darüber schlummerte sie entspannt ein. Doch die Dämonen ließen sich in keinem papiernen Umschlag einsperren. Alexander stand vor ihr mit einem gewinnenden Lächeln und einer nie gekannten Glut in seinen Augen. Seine Stimme war warm, sein Tonfall anzüglich und er sprach davon, dass er ihr Dinge zeigen wollte, von denen sie nicht einmal ahnte, dass sie existierten. Sie wusste nicht, ob es freudige Erregung und unbändige Lust oder Panik und Ekel waren, die wie ein Hurrikan in ihrem Magen herumwirbelten. Sie konnte ihn riechen – Talg und Magensäure überdeckt von einem herben Herrenduft. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen, seine fleischigen, sehr warmen Hände, ja wo eigentlich? Sie schienen überall gleichzeitig zu sein. Sie erwachte schweißgebadet und mit rasendem Puls, lag einen Moment da, starrte an die Decke bis ihr Atem wieder gleichmäßiger ging, taumelte zur Toilette, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, das sie in einem Zug leerte und ging zurück ins Bett. Sie war so müde und erschöpft, bald glitt sie wieder in den Schlaf und die Träume wurden nicht besser. Es war immer das gleiche: Alexander kam ihr unendlich nah und sie wusste nicht, ob sie es liebte oder hasste. Als der Wecker um sechs Uhr klingelte, fühlte sie sich wie durchgeprügelt. Sie schaltete sich selbst auf Autopilot, deckte mit ihrem Mann den Frühstückstisch und schmierte die Pausenbrote für die Kinder.
„Ich habe ganz schlecht geschlafen heute Nacht.“, verkündete sie. „Ein Glück, dass ich heute frei habe. Ich glaube, ich lege mich gleich wieder hin.“
Als alle aus dem Haus waren und sie wieder allein war, kam sie über den toten Punkt hinweg . Sie duschte lange und ausgiebig, zog bequeme Kleidung an, kochte sich einen starken Kaffee und öffnete den Brief.
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt.
Es war 10 Tage vor Kirstins vierzigsten Geburtstag und sie freute sich schon lange auf die rauschende Party, glücklich und zufrieden wie sie zur Zeit mit ihrem Leben war. Und jetzt das. Ein Brief von A. Buschmann. Nur der Name stand im Absender. Keine Anschrift. Aber der Brief schien vor langer Zeit verfasst worden zu sein und das war ja auch kein Wunder, denn A. Buschmann war vor fünfundzwanzig Jahren plötzlich gestorben. Kirstin traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Was hatte Alexander ihr mitteilen wollen und warum war der Brief mindestens fünfundzwanzig Jahre unterwegs gewesen? Wer hatte ihre Adresse korrigiert, ohne sich als Vollstrecker zu erkennen zu geben?
Kirstin spürte einen tiefen Schmerz im Bauch. Keinen seelischen, sicher den auch, aber was sie vor allem spürte, war ein stechender Schmerz im Unterleib, als würde jemand sie rektal mit einem Messer penetrieren und das Folterwerkzeug zu allem Übel auch noch umdrehen. Sicher hätte es sich um ein Vielfaches schmerzhafter angefühlt, wenn so ein brutaler Akt Wirklichkeit gewesen wäre, aber es war genau dieses Bild, mit dem sie ihr gegenwärtiges Gefühl am besten beschreiben konnte.
Kirstin dachte an Alexander Buschmann. Sie dachte daran, wie sie fassungslos vor Trauer unter der riesigen Rotbuche neben der Kirche gelehnt hatte und die Tränen zuerst nicht in Fluss geraten wollten, weil der Schock alle Bahnen blockierte und wie sie sich dann Bahn gebrochen hatten, über welche Schwelle auch immer, und nicht mehr aufgehört hatten, aus ihr herauszulaufen. Wie sie sich tagelang – ach was wochen- oder sogar monatelang gefühlt hatte, als sei ihr Körper ein Gefäß aus hauchdünnen, brüchigen Textilien, gefüllt mit winzigen Kügelchen aus Styropor, ja wie ein maroder Sitzsack hatte sie sich gefühlt, kraftlos und unzusammenhängend. Und hätte jemand nur eine winzige Stelle ihrer Außenhaut verletzt, wäre all ihr Innerstes einfach aus ihr herausgelaufen und sie hätte sich aufgelöst. Eigentlich war es damals genau das gewesen, was sie sich gewünscht hatte. Ihre große Liebe war für immer von ihr gegangen und sie durfte noch nicht einmal in aller Form um ihn trauern, denn sie war für ihn offiziell nur irgendjemand gewesen und sie war sich noch nicht einmal sicher, ob er sie auch geliebt hatte.
Dann brachen die schönen Erinnerungen über sie herein. Alexanders Hände bei ihrer Konfirmation. Sie hatten bei der Einsegnung gezittert und das hatte sie verwirrt. Die Grillparty mit den anderen Helferinnen im Pfarrgarten und Alexander hatte seinen ganzen Charme spielen lassen. Graue Novembernachmittage bei Händel, knusprigen Keksen und Sherry. Alexander hatte Scotch getrunken, aber Kirstin durfte als Fünfzehnjährige keinen Branntwein trinken – eigentlich gar keinen Alkohol, aber so ein kleiner Sherry, hatte Alexander gemeint – das diene ja eher dem Erlernen eines angemessenen Umgangs mit Alkohol. Sie rekapitulierte, an welchen Stellen ihres Körpers sie überall schon seine Hände gespürt hatte und kam auf eine beträchtliche Fläche. Alles war wieder da, das Herzklopfen, das Gefühl von Verheißung und nahender Erfüllung aller Sehnsüchte und dann wieder der große Schmerz des Verlustes, der ihr beinahe das Herz heraus riss. Sie befühlte den Brief, wagte aber noch immer nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn er Verletzendes enthielt? Den unumstößlichen Beweis, dass er sie nicht einmal besonders geschätzt hatte. Was, wenn er ihr in dem Brief seine Liebe gestanden hatte? Sie würde verrückt werden, wenn ihr klar würde, was sie hätte haben können und was man ihr genommen hatte, bevor sie auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte.
Vor dem Zubettgehen nahm sie den Umschlag erneut in die Hand. Nein, sie würde ihn jetzt nicht lesen, denn wie konnte sie wissen, ob die Zeilen nicht entsetzliche Dämonen heraufbeschworen, die sie die ganze Nacht kein Augen zutun ließen. Beim Einschlafen lenkte sie ihre Gedanken zu alltäglichen, leichten Dingen: Ruwens anstehende Klassenfahrt, das Strickmuster für Sophias Pullover. Darüber schlummerte sie entspannt ein. Doch die Dämonen ließen sich in keinem papiernen Umschlag einsperren. Alexander stand vor ihr mit einem gewinnenden Lächeln und einer nie gekannten Glut in seinen Augen. Seine Stimme war warm, sein Tonfall anzüglich und er sprach davon, dass er ihr Dinge zeigen wollte, von denen sie nicht einmal ahnte, dass sie existierten. Sie wusste nicht, ob es freudige Erregung und unbändige Lust oder Panik und Ekel waren, die wie ein Hurrikan in ihrem Magen herumwirbelten. Sie konnte ihn riechen – Talg und Magensäure überdeckt von einem herben Herrenduft. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen, seine fleischigen, sehr warmen Hände, ja wo eigentlich? Sie schienen überall gleichzeitig zu sein. Sie erwachte schweißgebadet und mit rasendem Puls, lag einen Moment da, starrte an die Decke bis ihr Atem wieder gleichmäßiger ging, taumelte zur Toilette, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, das sie in einem Zug leerte und ging zurück ins Bett. Sie war so müde und erschöpft, bald glitt sie wieder in den Schlaf und die Träume wurden nicht besser. Es war immer das gleiche: Alexander kam ihr unendlich nah und sie wusste nicht, ob sie es liebte oder hasste. Als der Wecker um sechs Uhr klingelte, fühlte sie sich wie durchgeprügelt. Sie schaltete sich selbst auf Autopilot, deckte mit ihrem Mann den Frühstückstisch und schmierte die Pausenbrote für die Kinder.
„Ich habe ganz schlecht geschlafen heute Nacht.“, verkündete sie. „Ein Glück, dass ich heute frei habe. Ich glaube, ich lege mich gleich wieder hin.“
Als alle aus dem Haus waren und sie wieder allein war, kam sie über den toten Punkt hinweg . Sie duschte lange und ausgiebig, zog bequeme Kleidung an, kochte sich einen starken Kaffee und öffnete den Brief.
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt.
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