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Samstag, 11. Mai 2024
Spoiler 24
c. fabry, 20:33h
2002
Im Juli 2002 brachte Astrid ihr erstes Kind zur Welt. Viola. Sie hatte einen vollen Tag in den Wehen zugebracht und war äußerst erschöpft. Die Schwangerschaft war ebenfalls nicht leicht gewesen. Den ganzen Herbst hindurch hatte sie unter Übelkeit und Erbrechen gelitten und deutlich an Gewicht verloren. Im Winter war sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen aber im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte sie mit heftigen Wassereinlagerungen, Beckenproblemen, Sodbrennen und chronischer Erschöpfung zu kämpfen.
Als es endlich geschafft war, trat neben der Freude und Erleichterung auch bald neue Tatkraft an die Stelle des Leidensdrucks. Die Hormone machten sie belastbar und sie blühte förmlich auf durch die Mutterschaft.
Nicht einmal das chronische Naserümpfen der Schwiegermutter über alles und jedes brachte sie aus dem emotionalen Gleichgewicht, Ingrid war voller Neid auf das junge Lebensglück, das ihr ungerechterweise so perfekt erschien.
Die sogenannte Pinkelparty hatte Astrid hingegen zuriefst erschüttert. Kaum war sie nach der Entbindung mit dem Neugeborenen in das Familiennest zurückgekehrt, wurden Freunde und Bekannte eingeladen, um auf die neue Erdenbürgerin anzustoßen. Raimunds Kumpel von der Feuerwehr und aus der Zeit der Landjugend waren schnell vollgetankt und mit jedem Bier wurde deren Scherze zotiger und abstoßender. Astridt war entsetzt, stellte Raimund am nächsten Tag zur Rede und die Fortsetzung dieser Freundschaften infrage.
"Das war doch nur Spaß.", versuchte Raimund sie zu beschwichtigen. "Die waren besoffen und haben ein bisschen Scheiße gelabert."
"Der Spaß hört für mich da auf, wo man Witze macht, in denen es darum geht, sich an Kindern zu vergreifen.", entgegnete Astrid. "Die haben nicht ein bisschen Scheiße gelabert, die haben sich ausgemalt, wie es wäre, es mit einem kleinen Mädchen zu machen . Warum sonst hätten sie den Spruch abgelassen, dass bis zur Hochzeit alles wieder verheilt ist?"
"So war das bestimmt nicht gemeint.", verteidigte Raimund seine Freunde. "Ich kann' die schon ewig. Das sind doch keine Kinderficker!"
"Aber keiner von denen bleibt jemals mit Viola allein! Das musst du mir versprechen!"
"Versprochen. Das will ja auch keiner."
Als die Zeit des Mutterschutzes um war, setzte Astrid die Babypause fort. Drei Jahre Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen, erschien ihr sinnvoll, danach würde sie in Teilzeit wieder einsteigen.
Raimund war nur mäßig zufrieden mit der neuen Lebenssituation: Einerseits erfüllte die Vaterschaft ihn mit Stolz und er war zufrieden, dass alles nach Plan lief. Andererseits empfand er es als herbe Enttäuschung, dass seine Frau, die nun den ganzen Tag lang zu Hause war, nicht sanft lächelnd und wegen des Verzichts auf Erwerbsarbeit entspannt und ausgeglichen darüber nachsann, mit welchen kulinarischen und zärtlichen Leckerbissen sie ihn überraschen und verwöhnen konnte, sondern gereizt und bisweilen überfordert mit der Versorgung des Säuglings und der Regeneration ihres eigenen Körpers nach der Schwangerschaft vollauf beschäftigt war. Es trübte seine Laune, doch er erfuhr in Männergesprächen, dass es anderen jungen Vätern ähnlich erging.
Astrid war angesichts von Stress und Arbeitsbelastung keineswegs verwundert; sie war sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen. Worauf sie nicht vorbereitet gewesen war, war die penetrante Einmischung ihrer Schwiegermutter. Statt sich in ihrer behaglichen Wohnung zu entspannen oder etwas Anregendes zu unternehmen, kaufte sie gesüßte Säuglingsnahrung, billige Babywäsche und minderwertige Windeln. Astrid sollte lieber auf Flaschennahrung umsteigen, dann könnte die Oma das Füttern übernehmen und sie habe mehr Zeit, ihren Mann zu verwöhnen.
Wenn Astrid die kleine Viola im schattigen Teil des Gartens auf einer Decke strampeln ließ, erklärte ihr Ingrid, man müsse die Kinder kurz in die Sonne legen, damit sie nicht an Rachitis erkrankten und dann fest eingepackt im Körbchen oder im Kinderwagen schlafen lassen.
Astrid verdrehte die Augen, erklärte, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gebe und dass sie Viola weder der direkten Sonne aussetze noch gedenke, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Bei jedem Interventionsversuch schlug Ingrid einen freundlichen, lockeren Ton an und lächelte gewinnend, so als wolle sie nur unterstützen, aber Astrid spürte nur allzu deutlich, dass es hier um nichts Anderes als Macht ging. Umso entschiedener richtete sie all ihre Bestrebungen darauf aus, bis zur Rückkehr in den Beruf einen verlässlichen Kita-Platz für ihre Tochter zu organisieren, um ihr Kind vor der wenig altersgerechten Behandlung durch die eigenwillige Großmutter zu beschützen.
Im Juli 2002 brachte Astrid ihr erstes Kind zur Welt. Viola. Sie hatte einen vollen Tag in den Wehen zugebracht und war äußerst erschöpft. Die Schwangerschaft war ebenfalls nicht leicht gewesen. Den ganzen Herbst hindurch hatte sie unter Übelkeit und Erbrechen gelitten und deutlich an Gewicht verloren. Im Winter war sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen aber im letzten Drittel der Schwangerschaft hatte sie mit heftigen Wassereinlagerungen, Beckenproblemen, Sodbrennen und chronischer Erschöpfung zu kämpfen.
Als es endlich geschafft war, trat neben der Freude und Erleichterung auch bald neue Tatkraft an die Stelle des Leidensdrucks. Die Hormone machten sie belastbar und sie blühte förmlich auf durch die Mutterschaft.
Nicht einmal das chronische Naserümpfen der Schwiegermutter über alles und jedes brachte sie aus dem emotionalen Gleichgewicht, Ingrid war voller Neid auf das junge Lebensglück, das ihr ungerechterweise so perfekt erschien.
Die sogenannte Pinkelparty hatte Astrid hingegen zuriefst erschüttert. Kaum war sie nach der Entbindung mit dem Neugeborenen in das Familiennest zurückgekehrt, wurden Freunde und Bekannte eingeladen, um auf die neue Erdenbürgerin anzustoßen. Raimunds Kumpel von der Feuerwehr und aus der Zeit der Landjugend waren schnell vollgetankt und mit jedem Bier wurde deren Scherze zotiger und abstoßender. Astridt war entsetzt, stellte Raimund am nächsten Tag zur Rede und die Fortsetzung dieser Freundschaften infrage.
"Das war doch nur Spaß.", versuchte Raimund sie zu beschwichtigen. "Die waren besoffen und haben ein bisschen Scheiße gelabert."
"Der Spaß hört für mich da auf, wo man Witze macht, in denen es darum geht, sich an Kindern zu vergreifen.", entgegnete Astrid. "Die haben nicht ein bisschen Scheiße gelabert, die haben sich ausgemalt, wie es wäre, es mit einem kleinen Mädchen zu machen . Warum sonst hätten sie den Spruch abgelassen, dass bis zur Hochzeit alles wieder verheilt ist?"
"So war das bestimmt nicht gemeint.", verteidigte Raimund seine Freunde. "Ich kann' die schon ewig. Das sind doch keine Kinderficker!"
"Aber keiner von denen bleibt jemals mit Viola allein! Das musst du mir versprechen!"
"Versprochen. Das will ja auch keiner."
Als die Zeit des Mutterschutzes um war, setzte Astrid die Babypause fort. Drei Jahre Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen, erschien ihr sinnvoll, danach würde sie in Teilzeit wieder einsteigen.
Raimund war nur mäßig zufrieden mit der neuen Lebenssituation: Einerseits erfüllte die Vaterschaft ihn mit Stolz und er war zufrieden, dass alles nach Plan lief. Andererseits empfand er es als herbe Enttäuschung, dass seine Frau, die nun den ganzen Tag lang zu Hause war, nicht sanft lächelnd und wegen des Verzichts auf Erwerbsarbeit entspannt und ausgeglichen darüber nachsann, mit welchen kulinarischen und zärtlichen Leckerbissen sie ihn überraschen und verwöhnen konnte, sondern gereizt und bisweilen überfordert mit der Versorgung des Säuglings und der Regeneration ihres eigenen Körpers nach der Schwangerschaft vollauf beschäftigt war. Es trübte seine Laune, doch er erfuhr in Männergesprächen, dass es anderen jungen Vätern ähnlich erging.
Astrid war angesichts von Stress und Arbeitsbelastung keineswegs verwundert; sie war sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen. Worauf sie nicht vorbereitet gewesen war, war die penetrante Einmischung ihrer Schwiegermutter. Statt sich in ihrer behaglichen Wohnung zu entspannen oder etwas Anregendes zu unternehmen, kaufte sie gesüßte Säuglingsnahrung, billige Babywäsche und minderwertige Windeln. Astrid sollte lieber auf Flaschennahrung umsteigen, dann könnte die Oma das Füttern übernehmen und sie habe mehr Zeit, ihren Mann zu verwöhnen.
Wenn Astrid die kleine Viola im schattigen Teil des Gartens auf einer Decke strampeln ließ, erklärte ihr Ingrid, man müsse die Kinder kurz in die Sonne legen, damit sie nicht an Rachitis erkrankten und dann fest eingepackt im Körbchen oder im Kinderwagen schlafen lassen.
Astrid verdrehte die Augen, erklärte, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gebe und dass sie Viola weder der direkten Sonne aussetze noch gedenke, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Bei jedem Interventionsversuch schlug Ingrid einen freundlichen, lockeren Ton an und lächelte gewinnend, so als wolle sie nur unterstützen, aber Astrid spürte nur allzu deutlich, dass es hier um nichts Anderes als Macht ging. Umso entschiedener richtete sie all ihre Bestrebungen darauf aus, bis zur Rückkehr in den Beruf einen verlässlichen Kita-Platz für ihre Tochter zu organisieren, um ihr Kind vor der wenig altersgerechten Behandlung durch die eigenwillige Großmutter zu beschützen.
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Sonntag, 5. Mai 2024
Spoiler 23
c. fabry, 18:39h
2000
Die rauschende Millenniumsfeier hatte in der leergeräumten Scheune stattgefunden, dies war eine willkommene Gelegenheit für Raimund gewesen, es allen zu zeigen, und sein neues Heim fand in der Tat viele Bewunderer. Sie hatten viel geschafft in den vergangenen drei Jahren. Die Bauarbeiten waren weitestgehend abgeschlossen, inklusive einer schönen neuen Wohnung für Ingrid in einem separaten Gebäudeteil. Im Haupthaus gab es ausreichend Platz für eine große Familie und an keiner Stelle war Improvisation vonnöten; Raimund hatte mithilfe von Astrids erlesenem Geschmack und einer gewissen Kenntnis der aktuellen Standards für eine moderne Ausstattung gesorgt. Ingrid erkannte ihr Elternhaus kaum wieder, was ihr keine nennenswerten Kopfschmerzen bereitete, denn ihr Zuhause hatte sie niemals als einen behaglichen Ort empfunden.
Jedoch nagte angesichts dieser eleganten, freundlichen Räume der Neid in ihr, dass ihr eine solche Verbesserung in ihrem Leben versagt geblieben war. Ihrem Sohn gönnte sie es von Herzen, nicht aber der angehenden Schwiegertochter, die sich ins gemachte Nest setzte. Dass diese ihre gesamten Ersparnisse in den Umbau investiert hatte, ließ sie nicht gelten, obwohl es sich dabei um eine ansehnliche Summe handelte. Es fiel ihr schwer, loszulassen: die vertraute Umgebung, die Vormachtstellung, die exklusive Beziehung zu ihrem Sohn. Groll machte sich breit in ihr, aber aus Furcht vor öffentlicher Ächtung fügte sie sich in ihr Los, zog in die neue Wohnung und gab sich Mühe, den Blick auf die Vorteile zu richten: es war auch hier alles frisch und hübsch, sie hatte die Ausstattung und Gestaltung selbst ausgesucht, sie musste viel weniger putzen und musste ihr Reich mit niemandem teilen.
Im Mai fand eine Landhochzeit nach allen Regeln des örtlichen Brauchtum statt: Ein Polterabend in der Scheune mit fast zweihundert Gästen, viel Bier, Bratwurst und Salaten, DJ und Polterpaket, laut, wild und bis zum Morgengrauen.
Beide Partner feierten einen Junggesell:innen-Abschied in der Großstadt, die Männer zum Teil auch an der Peripherie, das Brautkleid war sündhaft teuer, geheiratet wurde zuerst auf dem Standesamt im Schloss, danach in der Kirche in Häger und für die große Feier mit etwa Einhundert Gästen wurde ein Saal im nahegelegenen Spenge angemietet.
Dort gab es einen Sektempfang, ein mehrgängiges Menü, Tanz mit Kapelle, schlüpfrige Festreden, noch schlüpfrigere Tanzspiele, das Zerreißen des Schleiers, ein kaltes Buffet um Mitternacht und sehr viel zu trinken.
Eine weitere Tradition durfte nicht fehlen: Die Entführung der Braut, die vom Bräutigam mit einem Kasten Bier wieder ausgelöst werden musste. Drei Mitglieder der Landjugend entführten Astrid nach Häger in den Gasthof Bierhoff. Hier gab es ein großes Hallo, als die Braut an die Theke geführt wurde, bewundernde Blicke, Komplimente und neugierige Nachfragen der Berufstrinker. Astrid war bester Laune und fühlte sich in der Obhut ihrer Entführer bestens aufgehoben.
"Und du heiratest also den perversen Ramöller?", lallte einer der Betrunkenen. "Dassis aber mutig!"
"Wie kommst du darauf, dass Raimund pervers ist?", entgegnete Astrid konsterniert.
"Weiß doch jeder im Dorf.", erklärte der Betrunkene. "Der ist durch sämtliche Betten gerutscht, von denen, die ihn reingelassen haben, und hinterher haben die Bräute erzählt, dass er komische Sachen mit ihnen gemacht hat."
"Hat wohl zu viele Pornos geguckt.", meinte ein anderer.
"Das mit den Mädels machen doch alle in dem Alter.", sagte ein dritter. "Ausprobieren, was man in den Pornos gesehen hat, ist ja normal. Aber die Sache mit den Kindern, die war schon speziell."
"Welche Sache mit welchen Kindern?", fragte nun einer der Brautentführer deutlich verärgert.
"Machte doch damals die Runde.", erklärte der Betrunkene. "Der kleine Ramöller war noch keine achtzehn, aber schon 'ne ausgewachsene Drecksau. Hat Kinder auf‘m Strohboden gezwungen, sich auszuziehen und Schlimmeres verlangt. Die Kinder sind dann nackt abgehauen und die Kleider blieben unauffindbar. Keine Ahnung, was er damit gemacht hat."
"Unsere Angelika hat erzählt, dass er einmal morgens im Schlüpper aus Heikes Zimmer gekommen is' und und nich' mal gegrüßt hat. Und Heike soll danach total durcheinander gewesen sein."
Astrid schwieg betreten. Sie glaubte kein Wort von dem, was die Trinker zu wissen meinten, aber sie fühlte sich unwohl. Einer der Entführer hatte die Auslösung beschleunigt und schon bald kehrte Astrid auf die Feier zurück und wischte das ekelhafte Geschwätz beiseite wie eine lästige Fliege. Dies sollte der schönste Tag in ihrem Leben bleiben.
Das Abenteuer der Ehe begann. Die Hochzeitsreise verschoben sie auf den Spätsommer, zunächst richteten sie sich ein in ihrem gemeinsamen Heim, Raimund sorgte dafür, dass auf dem Hof alles zum Besten stand, Astrid arbeitete weiterhin in der Krankenpflege und Ingrid unterstützte beide bei ihren Aufgaben, so wie es dem allgemeinen Verhaltenskodex entsprach.
Im September ging es für das junge Paar nach Ibiza: Strandleben, gutes Essen, Cocktails, Tanz, Spaziergänge und leidenschaftliche Nächte im Hotelbett. Sie fühlten beide, dass sie angekommen waren.
Die rauschende Millenniumsfeier hatte in der leergeräumten Scheune stattgefunden, dies war eine willkommene Gelegenheit für Raimund gewesen, es allen zu zeigen, und sein neues Heim fand in der Tat viele Bewunderer. Sie hatten viel geschafft in den vergangenen drei Jahren. Die Bauarbeiten waren weitestgehend abgeschlossen, inklusive einer schönen neuen Wohnung für Ingrid in einem separaten Gebäudeteil. Im Haupthaus gab es ausreichend Platz für eine große Familie und an keiner Stelle war Improvisation vonnöten; Raimund hatte mithilfe von Astrids erlesenem Geschmack und einer gewissen Kenntnis der aktuellen Standards für eine moderne Ausstattung gesorgt. Ingrid erkannte ihr Elternhaus kaum wieder, was ihr keine nennenswerten Kopfschmerzen bereitete, denn ihr Zuhause hatte sie niemals als einen behaglichen Ort empfunden.
Jedoch nagte angesichts dieser eleganten, freundlichen Räume der Neid in ihr, dass ihr eine solche Verbesserung in ihrem Leben versagt geblieben war. Ihrem Sohn gönnte sie es von Herzen, nicht aber der angehenden Schwiegertochter, die sich ins gemachte Nest setzte. Dass diese ihre gesamten Ersparnisse in den Umbau investiert hatte, ließ sie nicht gelten, obwohl es sich dabei um eine ansehnliche Summe handelte. Es fiel ihr schwer, loszulassen: die vertraute Umgebung, die Vormachtstellung, die exklusive Beziehung zu ihrem Sohn. Groll machte sich breit in ihr, aber aus Furcht vor öffentlicher Ächtung fügte sie sich in ihr Los, zog in die neue Wohnung und gab sich Mühe, den Blick auf die Vorteile zu richten: es war auch hier alles frisch und hübsch, sie hatte die Ausstattung und Gestaltung selbst ausgesucht, sie musste viel weniger putzen und musste ihr Reich mit niemandem teilen.
Im Mai fand eine Landhochzeit nach allen Regeln des örtlichen Brauchtum statt: Ein Polterabend in der Scheune mit fast zweihundert Gästen, viel Bier, Bratwurst und Salaten, DJ und Polterpaket, laut, wild und bis zum Morgengrauen.
Beide Partner feierten einen Junggesell:innen-Abschied in der Großstadt, die Männer zum Teil auch an der Peripherie, das Brautkleid war sündhaft teuer, geheiratet wurde zuerst auf dem Standesamt im Schloss, danach in der Kirche in Häger und für die große Feier mit etwa Einhundert Gästen wurde ein Saal im nahegelegenen Spenge angemietet.
Dort gab es einen Sektempfang, ein mehrgängiges Menü, Tanz mit Kapelle, schlüpfrige Festreden, noch schlüpfrigere Tanzspiele, das Zerreißen des Schleiers, ein kaltes Buffet um Mitternacht und sehr viel zu trinken.
Eine weitere Tradition durfte nicht fehlen: Die Entführung der Braut, die vom Bräutigam mit einem Kasten Bier wieder ausgelöst werden musste. Drei Mitglieder der Landjugend entführten Astrid nach Häger in den Gasthof Bierhoff. Hier gab es ein großes Hallo, als die Braut an die Theke geführt wurde, bewundernde Blicke, Komplimente und neugierige Nachfragen der Berufstrinker. Astrid war bester Laune und fühlte sich in der Obhut ihrer Entführer bestens aufgehoben.
"Und du heiratest also den perversen Ramöller?", lallte einer der Betrunkenen. "Dassis aber mutig!"
"Wie kommst du darauf, dass Raimund pervers ist?", entgegnete Astrid konsterniert.
"Weiß doch jeder im Dorf.", erklärte der Betrunkene. "Der ist durch sämtliche Betten gerutscht, von denen, die ihn reingelassen haben, und hinterher haben die Bräute erzählt, dass er komische Sachen mit ihnen gemacht hat."
"Hat wohl zu viele Pornos geguckt.", meinte ein anderer.
"Das mit den Mädels machen doch alle in dem Alter.", sagte ein dritter. "Ausprobieren, was man in den Pornos gesehen hat, ist ja normal. Aber die Sache mit den Kindern, die war schon speziell."
"Welche Sache mit welchen Kindern?", fragte nun einer der Brautentführer deutlich verärgert.
"Machte doch damals die Runde.", erklärte der Betrunkene. "Der kleine Ramöller war noch keine achtzehn, aber schon 'ne ausgewachsene Drecksau. Hat Kinder auf‘m Strohboden gezwungen, sich auszuziehen und Schlimmeres verlangt. Die Kinder sind dann nackt abgehauen und die Kleider blieben unauffindbar. Keine Ahnung, was er damit gemacht hat."
"Unsere Angelika hat erzählt, dass er einmal morgens im Schlüpper aus Heikes Zimmer gekommen is' und und nich' mal gegrüßt hat. Und Heike soll danach total durcheinander gewesen sein."
Astrid schwieg betreten. Sie glaubte kein Wort von dem, was die Trinker zu wissen meinten, aber sie fühlte sich unwohl. Einer der Entführer hatte die Auslösung beschleunigt und schon bald kehrte Astrid auf die Feier zurück und wischte das ekelhafte Geschwätz beiseite wie eine lästige Fliege. Dies sollte der schönste Tag in ihrem Leben bleiben.
Das Abenteuer der Ehe begann. Die Hochzeitsreise verschoben sie auf den Spätsommer, zunächst richteten sie sich ein in ihrem gemeinsamen Heim, Raimund sorgte dafür, dass auf dem Hof alles zum Besten stand, Astrid arbeitete weiterhin in der Krankenpflege und Ingrid unterstützte beide bei ihren Aufgaben, so wie es dem allgemeinen Verhaltenskodex entsprach.
Im September ging es für das junge Paar nach Ibiza: Strandleben, gutes Essen, Cocktails, Tanz, Spaziergänge und leidenschaftliche Nächte im Hotelbett. Sie fühlten beide, dass sie angekommen waren.
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Samstag, 13. April 2024
Spoiler 22
c. fabry, 15:06h
1997
Mehr als 24 Jahre war Raimund Ramöller nun schon auf der Welt, führte nahezu selbstständig einen Bauernhof, die die Mutter ihm beizeiten überschreiben würde, war erfolgreich, fleißig und stark und saß nun in den Startlöchern für den nächsten Schritt. Eine feste Partnerin war jedoch nicht in Sicht. Er lebte nicht in den Fünfzigern, wo er mit einem ordentlich geführten und reichlich ausgestatteten Hof noch eine gute Partie abgegeben hätte. Es brauchte mehr als wirtschaftliche Sicherheit. Raimund war bei der Weiblichkeit in der Umgebung als liebloser Rüpel verschrien, der ohne jegliche Empathie nur sein eigenes Vergnügen suchte. Ebenso hielt sich seine körperliche Attraktivität in Grenzen: die definierten Muskeln saßen nicht an den richtigen Stellen und aus dem vierschrötigen Bauerngesicht blickten nicht gerade die elektrisierenden Augen eines Brad Pitt.
Alle Zelt- und Spritzenhausfeste der vergangenen drei Jahre waren ergebnislos für ihn verlaufen, ihm blieben weiterhin nur harte Arbeit und Männerabende, sonst nichts. Doch sollte ihm ein gänzlich anderer ruraler Brauch in seinem 24. Frühling weiterhelfen. Die Landjugend übernahm in diesem Jahr die Wache beim Osterfeuer und Heike Sommer brachte ihre Schulfreundin Astrid aus Halle mit. Sie fiel ihm sofort auf, gertenschlank und vorteilhaft gekleidet wie sie war in ihrer Boyfriend-Jeans mit dem breiten Ledergürtel, der unter dem lässigen Kurzpulli hervor lugte.
Er machte ein paar unverfängliche Scherze, nahm neben ihr auf einem Strohballen Platz und fragte neugierig, wer sie sei und was sie so mache.
Astrid war 19 Jahre alt, schloss gerade ihre Ausbildung in der Krankenpflege ab, lebte noch bei ihren Eltern, plante jedoch, in Kürze mit einer Freundin zusammen zu ziehen, gern auf dem Land, weil die bezahlbaren Wohnungen hier oft großzügiger geschnitten waren und man sich in der Ruhe und Abgeschiedenheit besser von dem turbulenten Berufsalltag regenerieren konnte.
Sie betrachtete Raimund nicht mit der gewohnten Herablassung, hörte ihm aufmerksam zu, lachte über seine ausgewählten, harmlosen Witze, die er mit Bedacht gegen die üblichen derben Späße austauschte, um es nicht zu vermasseln. Er trank auch wenig Alkohol, um die Kontrolle zu behalten. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit hatte er so ein tiefschürfendes und freundliches Gespräch mit einem weiblichen Wesen geführt. In der Nacht ging sein Kopf auf Reisen in triefend kitschige Kulissen, aber auch in seine reale Umgebung, jedoch niemals allein, sondern immer mit Astrid.
Sie trafen sich schon bald darauf wieder, beim Tanz in den Mai, tanzten, scherzten, tranken, kamen sich näher. Es folgten Freizeitaktivitäten mit ausgewählten Mitgliedern der Landjugend: Bowling, Kartbahn, Spaßbad, sowie ein gemischter Himmelfahrtsausflug.
Im Juni ließ er es krachen und feierte eine Garagenparty, um den 24. Geburtstag vom unwirtlichen Februar in den lauen Frühsommer zu verlegen. Natürlich war Astrid ebenfalls eingeladen und natürlich nahm sie die Einladung an. Und praktischerweise blieb sie über Nacht. Er hielt sich dennoch zurück, drängte sich ihr nicht auf, um seine Chancen nicht zu verspielen. Am nächsten Morgen zeigte er ihr sein Elternhaus und sprach von seinen Umbauplänen für die Zukunft. Sie war äußerst interessiert, machte Vorschläge, empfahl ihm dieses und riet von jenem ab. Er war hingerissen. Als sie heimfuhr, verabredeten sie sich zu einem weiteren „Beratungstermin“ bei gepflegten Getränken.
Raimund hatte Zeichnungen angefertigt, die besprachen und überarbeiteten sie bei Campari-Orange. Sie tauschten sich aus über ihre Lebensträume: Er sprach über effektive Landwirtschaft, Synergieeffekte durch betriebliche Kooperationen, Spezialisierung und Arbeitsteilung, sie sprach über mobile Palliativ-Pflegedienste, insbesondere für Kinder, die es flächendeckend aufzubauen galt. Beide träumten von großzügigen Wohnräumen und glücklichen Kindern und von einer großen Reise in die Sonne.
Am Ende des Abends blieb sie nicht über Nacht, denn sie musste am nächsten Tag arbeiten, darum radelte sie nach Hause, doch zum Abschied kam es zu ersten Küssen, vorsichtig, zart, aber eindeutig.
Bereits eine Woche später lud Astrid ihn zu sich nach Hause ein, eine kleine Kellerparty, mit Raimund als einzigem Übernachtungsgast in ihrem Ein-Meter-Zwanzig-Bett, zu zweit. Es passierte, was passieren musste und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Raimund sich ganz und heil und richtig.
Von nun an waren sie ein Paar, trafen sich regelmäßig, rückten näher zusammen und trieben die Umbaupläne voran. Sie verlobten sich klassisch unterm Weihnachtsbaum, mit Solitär-Brillantring und Sekt zum Anstoßen. Heiraten wollten sie erst, wenn das neue Heim bezugsfertig war.
Ingrid war sich in diesem Tagen nicht im Klaren darüber, was sie fühlte. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Genugtuung, dass mit ihrem Sohn alles in Ordnung war, inklusive Enkelkindern, auf die sie sich freuen durfte und der nagenden Eifersucht, weil sie ihren Sohn künftig teilen musste und in seinem Leben auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Sie wurde zum Zaungast in ihrem eigenen Zuhause, so machtlos und der Gunst anderer hilflos ausgeliefert wie die längste zeit in ihrem Leben.
Mehr als 24 Jahre war Raimund Ramöller nun schon auf der Welt, führte nahezu selbstständig einen Bauernhof, die die Mutter ihm beizeiten überschreiben würde, war erfolgreich, fleißig und stark und saß nun in den Startlöchern für den nächsten Schritt. Eine feste Partnerin war jedoch nicht in Sicht. Er lebte nicht in den Fünfzigern, wo er mit einem ordentlich geführten und reichlich ausgestatteten Hof noch eine gute Partie abgegeben hätte. Es brauchte mehr als wirtschaftliche Sicherheit. Raimund war bei der Weiblichkeit in der Umgebung als liebloser Rüpel verschrien, der ohne jegliche Empathie nur sein eigenes Vergnügen suchte. Ebenso hielt sich seine körperliche Attraktivität in Grenzen: die definierten Muskeln saßen nicht an den richtigen Stellen und aus dem vierschrötigen Bauerngesicht blickten nicht gerade die elektrisierenden Augen eines Brad Pitt.
Alle Zelt- und Spritzenhausfeste der vergangenen drei Jahre waren ergebnislos für ihn verlaufen, ihm blieben weiterhin nur harte Arbeit und Männerabende, sonst nichts. Doch sollte ihm ein gänzlich anderer ruraler Brauch in seinem 24. Frühling weiterhelfen. Die Landjugend übernahm in diesem Jahr die Wache beim Osterfeuer und Heike Sommer brachte ihre Schulfreundin Astrid aus Halle mit. Sie fiel ihm sofort auf, gertenschlank und vorteilhaft gekleidet wie sie war in ihrer Boyfriend-Jeans mit dem breiten Ledergürtel, der unter dem lässigen Kurzpulli hervor lugte.
Er machte ein paar unverfängliche Scherze, nahm neben ihr auf einem Strohballen Platz und fragte neugierig, wer sie sei und was sie so mache.
Astrid war 19 Jahre alt, schloss gerade ihre Ausbildung in der Krankenpflege ab, lebte noch bei ihren Eltern, plante jedoch, in Kürze mit einer Freundin zusammen zu ziehen, gern auf dem Land, weil die bezahlbaren Wohnungen hier oft großzügiger geschnitten waren und man sich in der Ruhe und Abgeschiedenheit besser von dem turbulenten Berufsalltag regenerieren konnte.
Sie betrachtete Raimund nicht mit der gewohnten Herablassung, hörte ihm aufmerksam zu, lachte über seine ausgewählten, harmlosen Witze, die er mit Bedacht gegen die üblichen derben Späße austauschte, um es nicht zu vermasseln. Er trank auch wenig Alkohol, um die Kontrolle zu behalten. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit hatte er so ein tiefschürfendes und freundliches Gespräch mit einem weiblichen Wesen geführt. In der Nacht ging sein Kopf auf Reisen in triefend kitschige Kulissen, aber auch in seine reale Umgebung, jedoch niemals allein, sondern immer mit Astrid.
Sie trafen sich schon bald darauf wieder, beim Tanz in den Mai, tanzten, scherzten, tranken, kamen sich näher. Es folgten Freizeitaktivitäten mit ausgewählten Mitgliedern der Landjugend: Bowling, Kartbahn, Spaßbad, sowie ein gemischter Himmelfahrtsausflug.
Im Juni ließ er es krachen und feierte eine Garagenparty, um den 24. Geburtstag vom unwirtlichen Februar in den lauen Frühsommer zu verlegen. Natürlich war Astrid ebenfalls eingeladen und natürlich nahm sie die Einladung an. Und praktischerweise blieb sie über Nacht. Er hielt sich dennoch zurück, drängte sich ihr nicht auf, um seine Chancen nicht zu verspielen. Am nächsten Morgen zeigte er ihr sein Elternhaus und sprach von seinen Umbauplänen für die Zukunft. Sie war äußerst interessiert, machte Vorschläge, empfahl ihm dieses und riet von jenem ab. Er war hingerissen. Als sie heimfuhr, verabredeten sie sich zu einem weiteren „Beratungstermin“ bei gepflegten Getränken.
Raimund hatte Zeichnungen angefertigt, die besprachen und überarbeiteten sie bei Campari-Orange. Sie tauschten sich aus über ihre Lebensträume: Er sprach über effektive Landwirtschaft, Synergieeffekte durch betriebliche Kooperationen, Spezialisierung und Arbeitsteilung, sie sprach über mobile Palliativ-Pflegedienste, insbesondere für Kinder, die es flächendeckend aufzubauen galt. Beide träumten von großzügigen Wohnräumen und glücklichen Kindern und von einer großen Reise in die Sonne.
Am Ende des Abends blieb sie nicht über Nacht, denn sie musste am nächsten Tag arbeiten, darum radelte sie nach Hause, doch zum Abschied kam es zu ersten Küssen, vorsichtig, zart, aber eindeutig.
Bereits eine Woche später lud Astrid ihn zu sich nach Hause ein, eine kleine Kellerparty, mit Raimund als einzigem Übernachtungsgast in ihrem Ein-Meter-Zwanzig-Bett, zu zweit. Es passierte, was passieren musste und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Raimund sich ganz und heil und richtig.
Von nun an waren sie ein Paar, trafen sich regelmäßig, rückten näher zusammen und trieben die Umbaupläne voran. Sie verlobten sich klassisch unterm Weihnachtsbaum, mit Solitär-Brillantring und Sekt zum Anstoßen. Heiraten wollten sie erst, wenn das neue Heim bezugsfertig war.
Ingrid war sich in diesem Tagen nicht im Klaren darüber, was sie fühlte. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Genugtuung, dass mit ihrem Sohn alles in Ordnung war, inklusive Enkelkindern, auf die sie sich freuen durfte und der nagenden Eifersucht, weil sie ihren Sohn künftig teilen musste und in seinem Leben auf den zweiten Platz verwiesen wurde. Sie wurde zum Zaungast in ihrem eigenen Zuhause, so machtlos und der Gunst anderer hilflos ausgeliefert wie die längste zeit in ihrem Leben.
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Freitag, 5. April 2024
Spoiler 21
c. fabry, 20:38h
1992 - Ingrid
Die Pflege ihrer Mutter hatte sie sich einfacher vorgestellt, so wie die Versorgung eines Angehörigen, der an Grippe erkrankt war: Tee kochen, etwas zu essen bringen, Fieber messen, einmal täglich das Bett aufschütteln und zwei tatkräftige Hände, die für ein bis zwei Wochen ausfielen.
Doch jedes Mal, wenn sie nach Lisbeth sah, beklagte die sich mit Blicken und aufgeregten, unartikulierten Lauten, so lange, bis Ingrid verstand, was sie brauchte: mal war es Durst, mal wollte sie umgelagert werden, dann war ihr kalt, dann zu warm, dann hing die Gardine schief, und vermutlich war sie grundsätzlich unzufrieden, weil sie so lange allein war. Aber Haus- und Stallarbeit machten sich nicht von allein und ihr Bruder Gerd verweigerte jegliche Unterstützung: "Du hast den Hof, dann ist es auch deine Aufgabe, die Alten zu versorgen."
Ingrid fragte sich, wie lange sie das wohl ohne Hilfedurchhalten würde. Sie tat wirklich alles, um am Ende nicht als treulose Tochter dazustehen, aber sie fragte sich täglich, ob sie ihrer Mutter diese aufopferungsvolle Pflege überhaupt schuldig war. Sie hatte sie nicht vor dem gewalttätigen Vater beschützt und sie zu einem Sonderling erzogen, isoliert von Gleichaltrigen und altersgemäßer Zerstreuung. Kindheit und Jugend hatte sie ihr gestohlen und jetzt würde sie sie um ihre besten Jahre bringen. Von Gerd wurde gar nichts verlangt. Der hatte einfach einen Batzen Geld kassiert und sich anderenorts ins gemachte Nest gesetzt.
Auf die Idee, Raimund um Unterstützung zu bitten, wäre sie nie gekommen. Er war noch immer ihr Herzblatt, das sie vor allem Ungemach beschützen musste. Er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren und wenn sie seine Hilfe in Anspruch nahm, dann ausschließlich in der Landwirtschaft.
So bemühte sie sich, durchzuhalten, mimte die fürsorgliche Tochter, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Doch sie fragte sich täglich, ob und wie lange sich dieses Arbeitspensum aufrechterhalten ließ. Sie konnte ja keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, dafür war das Geld zu knapp und ihr Bruder verweigerte auch in dieser Hinsicht jegliche Zuwendung. Bei so viel Herzenskälte war es auch mit Ingrids familiärer Loyalität zu Ende. Sie versäumte keine Gelegenheit, von der mangelnden geschwisterlichen Unterstützung zu berichten, und so gab es bald keine alteingesessenen Einwohner:innen mehr in Häger, die nicht wussten, wie Ingrid sich aufopferte und wie unfassbar gleichgültig ihr Bruder sich aus der Affäre zog. Nicht einmal zu Besuch kam Gerd, um nach seiner pflegebedürftigen Mutter zu sehen.
Es dauerte nur zwei Wochen, dann schloss Lisbeth gnädigerweise für immer die Augen. Ingrid hatte durchgehalten und alles richtig gemacht. Nur davon, dass sie dabei ihre schmutzige Wäsche überall im Dorf gewaschen hatte, waren manche befremdet. Die meisten hatten aber Verständnis, dass sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte und verachteten stattdessen Gerd, dem so mancher bei der Trauerfeier die Beileidsbekundung verweigerte.
Ingrid hatte Mühe, überzeugend die trauernde Tochter zu spielen, sie empfand Erleichterung und Befreiung und war innerlich nur noch von einem Gedanken erfüllt: dass ihr Leben nun endlich anfing.
1992 – Raimund
Auch Raimund spürte nicht einmal eine Spur von Trauer. Endlich konnte seine Mutter wieder ihren Anteil der Stallarbeit übernehmen und etwas Anständiges zu essen kochen.
Nur noch ein halbes Jahr, dann würde er die Lehre abgeschlossen haben. Er würde den Hof komplett übernehmen und auf Vordermann bringen. Mehr Schweine würde er anschaffen, die Pachtverträge kündigen, damit er wieder mehr Flächen für die Futtermittel zur Verfügung hatte. Seine Mutter würde den Haushalt schmeißen, bis er eine passende Frau gefunden hatte. Vermutlich würden sie dann das Wohnhaus umbauen und Ingrid könnte in ein eigenes Altenteil ziehen, damit sie ihnen nicht täglich zu nahe kam. Auch Raimund fühlte, dass es jetzt endlich losging.
Die Pflege ihrer Mutter hatte sie sich einfacher vorgestellt, so wie die Versorgung eines Angehörigen, der an Grippe erkrankt war: Tee kochen, etwas zu essen bringen, Fieber messen, einmal täglich das Bett aufschütteln und zwei tatkräftige Hände, die für ein bis zwei Wochen ausfielen.
Doch jedes Mal, wenn sie nach Lisbeth sah, beklagte die sich mit Blicken und aufgeregten, unartikulierten Lauten, so lange, bis Ingrid verstand, was sie brauchte: mal war es Durst, mal wollte sie umgelagert werden, dann war ihr kalt, dann zu warm, dann hing die Gardine schief, und vermutlich war sie grundsätzlich unzufrieden, weil sie so lange allein war. Aber Haus- und Stallarbeit machten sich nicht von allein und ihr Bruder Gerd verweigerte jegliche Unterstützung: "Du hast den Hof, dann ist es auch deine Aufgabe, die Alten zu versorgen."
Ingrid fragte sich, wie lange sie das wohl ohne Hilfedurchhalten würde. Sie tat wirklich alles, um am Ende nicht als treulose Tochter dazustehen, aber sie fragte sich täglich, ob sie ihrer Mutter diese aufopferungsvolle Pflege überhaupt schuldig war. Sie hatte sie nicht vor dem gewalttätigen Vater beschützt und sie zu einem Sonderling erzogen, isoliert von Gleichaltrigen und altersgemäßer Zerstreuung. Kindheit und Jugend hatte sie ihr gestohlen und jetzt würde sie sie um ihre besten Jahre bringen. Von Gerd wurde gar nichts verlangt. Der hatte einfach einen Batzen Geld kassiert und sich anderenorts ins gemachte Nest gesetzt.
Auf die Idee, Raimund um Unterstützung zu bitten, wäre sie nie gekommen. Er war noch immer ihr Herzblatt, das sie vor allem Ungemach beschützen musste. Er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren und wenn sie seine Hilfe in Anspruch nahm, dann ausschließlich in der Landwirtschaft.
So bemühte sie sich, durchzuhalten, mimte die fürsorgliche Tochter, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Doch sie fragte sich täglich, ob und wie lange sich dieses Arbeitspensum aufrechterhalten ließ. Sie konnte ja keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, dafür war das Geld zu knapp und ihr Bruder verweigerte auch in dieser Hinsicht jegliche Zuwendung. Bei so viel Herzenskälte war es auch mit Ingrids familiärer Loyalität zu Ende. Sie versäumte keine Gelegenheit, von der mangelnden geschwisterlichen Unterstützung zu berichten, und so gab es bald keine alteingesessenen Einwohner:innen mehr in Häger, die nicht wussten, wie Ingrid sich aufopferte und wie unfassbar gleichgültig ihr Bruder sich aus der Affäre zog. Nicht einmal zu Besuch kam Gerd, um nach seiner pflegebedürftigen Mutter zu sehen.
Es dauerte nur zwei Wochen, dann schloss Lisbeth gnädigerweise für immer die Augen. Ingrid hatte durchgehalten und alles richtig gemacht. Nur davon, dass sie dabei ihre schmutzige Wäsche überall im Dorf gewaschen hatte, waren manche befremdet. Die meisten hatten aber Verständnis, dass sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte und verachteten stattdessen Gerd, dem so mancher bei der Trauerfeier die Beileidsbekundung verweigerte.
Ingrid hatte Mühe, überzeugend die trauernde Tochter zu spielen, sie empfand Erleichterung und Befreiung und war innerlich nur noch von einem Gedanken erfüllt: dass ihr Leben nun endlich anfing.
1992 – Raimund
Auch Raimund spürte nicht einmal eine Spur von Trauer. Endlich konnte seine Mutter wieder ihren Anteil der Stallarbeit übernehmen und etwas Anständiges zu essen kochen.
Nur noch ein halbes Jahr, dann würde er die Lehre abgeschlossen haben. Er würde den Hof komplett übernehmen und auf Vordermann bringen. Mehr Schweine würde er anschaffen, die Pachtverträge kündigen, damit er wieder mehr Flächen für die Futtermittel zur Verfügung hatte. Seine Mutter würde den Haushalt schmeißen, bis er eine passende Frau gefunden hatte. Vermutlich würden sie dann das Wohnhaus umbauen und Ingrid könnte in ein eigenes Altenteil ziehen, damit sie ihnen nicht täglich zu nahe kam. Auch Raimund fühlte, dass es jetzt endlich losging.
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