Freitag, 5. April 2024
Spoiler 21
1992 - Ingrid
Die Pflege ihrer Mutter hatte sie sich einfacher vorgestellt, so wie die Versorgung eines Angehörigen, der an Grippe erkrankt war: Tee kochen, etwas zu essen bringen, Fieber messen, einmal täglich das Bett aufschütteln und zwei tatkräftige Hände, die für ein bis zwei Wochen ausfielen.
Doch jedes Mal, wenn sie nach Lisbeth sah, beklagte die sich mit Blicken und aufgeregten, unartikulierten Lauten, so lange, bis Ingrid verstand, was sie brauchte: mal war es Durst, mal wollte sie umgelagert werden, dann war ihr kalt, dann zu warm, dann hing die Gardine schief, und vermutlich war sie grundsätzlich unzufrieden, weil sie so lange allein war. Aber Haus- und Stallarbeit machten sich nicht von allein und ihr Bruder Gerd verweigerte jegliche Unterstützung: "Du hast den Hof, dann ist es auch deine Aufgabe, die Alten zu versorgen."
Ingrid fragte sich, wie lange sie das wohl ohne Hilfedurchhalten würde. Sie tat wirklich alles, um am Ende nicht als treulose Tochter dazustehen, aber sie fragte sich täglich, ob sie ihrer Mutter diese aufopferungsvolle Pflege überhaupt schuldig war. Sie hatte sie nicht vor dem gewalttätigen Vater beschützt und sie zu einem Sonderling erzogen, isoliert von Gleichaltrigen und altersgemäßer Zerstreuung. Kindheit und Jugend hatte sie ihr gestohlen und jetzt würde sie sie um ihre besten Jahre bringen. Von Gerd wurde gar nichts verlangt. Der hatte einfach einen Batzen Geld kassiert und sich anderenorts ins gemachte Nest gesetzt.
Auf die Idee, Raimund um Unterstützung zu bitten, wäre sie nie gekommen. Er war noch immer ihr Herzblatt, das sie vor allem Ungemach beschützen musste. Er musste sich auf seine Ausbildung konzentrieren und wenn sie seine Hilfe in Anspruch nahm, dann ausschließlich in der Landwirtschaft.

So bemühte sie sich, durchzuhalten, mimte die fürsorgliche Tochter, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Doch sie fragte sich täglich, ob und wie lange sich dieses Arbeitspensum aufrechterhalten ließ. Sie konnte ja keine professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen, dafür war das Geld zu knapp und ihr Bruder verweigerte auch in dieser Hinsicht jegliche Zuwendung. Bei so viel Herzenskälte war es auch mit Ingrids familiärer Loyalität zu Ende. Sie versäumte keine Gelegenheit, von der mangelnden geschwisterlichen Unterstützung zu berichten, und so gab es bald keine alteingesessenen Einwohner:innen mehr in Häger, die nicht wussten, wie Ingrid sich aufopferte und wie unfassbar gleichgültig ihr Bruder sich aus der Affäre zog. Nicht einmal zu Besuch kam Gerd, um nach seiner pflegebedürftigen Mutter zu sehen.

Es dauerte nur zwei Wochen, dann schloss Lisbeth gnädigerweise für immer die Augen. Ingrid hatte durchgehalten und alles richtig gemacht. Nur davon, dass sie dabei ihre schmutzige Wäsche überall im Dorf gewaschen hatte, waren manche befremdet. Die meisten hatten aber Verständnis, dass sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte und verachteten stattdessen Gerd, dem so mancher bei der Trauerfeier die Beileidsbekundung verweigerte.

Ingrid hatte Mühe, überzeugend die trauernde Tochter zu spielen, sie empfand Erleichterung und Befreiung und war innerlich nur noch von einem Gedanken erfüllt: dass ihr Leben nun endlich anfing.

1992 – Raimund
Auch Raimund spürte nicht einmal eine Spur von Trauer. Endlich konnte seine Mutter wieder ihren Anteil der Stallarbeit übernehmen und etwas Anständiges zu essen kochen.
Nur noch ein halbes Jahr, dann würde er die Lehre abgeschlossen haben. Er würde den Hof komplett übernehmen und auf Vordermann bringen. Mehr Schweine würde er anschaffen, die Pachtverträge kündigen, damit er wieder mehr Flächen für die Futtermittel zur Verfügung hatte. Seine Mutter würde den Haushalt schmeißen, bis er eine passende Frau gefunden hatte. Vermutlich würden sie dann das Wohnhaus umbauen und Ingrid könnte in ein eigenes Altenteil ziehen, damit sie ihnen nicht täglich zu nahe kam. Auch Raimund fühlte, dass es jetzt endlich losging.

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Samstag, 30. März 2024
Spoiler 20
1992 - Raimund
Es war eine willkommene Ausrede gewesen, die Arbeit auf dem zugigen Feld den Anderen überlassen zu dürfen und sich nach einer warmen Mittagsmahlzeit und einer Dosis Lieblingsmusik stattdessen der warmen, windgeschützten Stallarbeit zu widmen. Raimund schätzte seine Großmutter nicht sonderlich, sie verbreitete stets schlechte Stimmung und ihr Dasein brachte für ihn keinerlei Vorteile mit sich. Auch wenn seine Mutter in den folgenden Wochen täglich das Krankenhaus aufsuchte, änderte sich für ihn persönlich so gut wie nichts. Er war weiterhin auf dem Lehrhof, das Essen kam jetzt häufiger aus dem Imbiss oder der Tiefkühltruhe und das fand er ohnehin schmackhafter, als Omas traditionelle Hausmannskost.
An den Wochenenden ließ er sich auch im Krankenhaus blicken, saß seine Zeit am Bett der hinfälligen Greisin ab und fragte sich stets, wie lange es wohl noch dauern würde. Als sie dann nach drei Wochen entlassen wurde und im Pflegebett wieder Teil der täglichen Routine wurde, war er regelrecht enttäuscht. Es war Zeit, dass sie verschwand. Sie war nie auf seiner Seite gewesen, hatte ihn nur drangsaliert, ihn gefordert und ihm nichts gegönnt. Jetzt war sie nur noch eine Last, verwandelte seine Mutter in ein hohläugiges Nervenbündel und das Haus in eine Stätte immerwährender Düsternis. Sie sollte gehen. Sie war dran.

Lisbeth
Es waren die schlimmsten Stunden ihres Lebens gewesen, dort auf dem kalten Kellerboden, zur Hilflosigkeit verdammt, frierend in einer empfundenen Ewigkeit. So musste sich die Hölle anfühlen. Als ihre Tochter sie schließlich gefunden und zunächst nur geschrien hatte wie am Spieß, hätte sie sie am liebsten geschüttelt und eine Ansage gemacht: "Jetzt reiß dich mal zusammen! Hilf mir lieber! Ich bin nämlich noch nicht tot."
Aber dann hatte sie ja etwas unternommen, Hilfe geholt, sie gewärmt und alles, was sie brauchte ins Krankenhaus gebracht.
Dort hatte sie anfangs noch gehofft, dass alles wieder gut würde, dass sie sie schon wieder hinbekämen. Sie hatten sie ja reichlich gequält mit Untersuchungen, Krankengymnastik und dem unsäglich faden Essen, mit dem sie sie wieder aufpäppeln wollten. Als sie dann austherapiert nach Hause entlassen wurde, freute sie sich zwar, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren, doch als sie das Pflegebett in ihrem eichenen Schlafzimmer erblickte, sank ihr Mut - diesen Raum würde sie nicht mehr lebend verlassen, daran änderten auch die frischen Blumen nichts,die jemand aus der Nachbarschaft vorbei gebracht hatte. Sie ergab sich in ihr Schicksal, was blieb ihr auch anderes übrig? Und so lag sie da, starrte abwechselnd die Zimmerdecke, den Kleiderschrank und den durchs Fenster sichtbaren Himmel an und wartete, dass es endlich aufhörte.

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Freitag, 8. März 2024
Spoiler 19
1992 - Ingrid

Die Kellertür stand offen und Lisbeth war nicht in der Küche, dabei wäre es längst zeit für das Mittagessen gewesen. Ingrid wollte die Tür schon einfach schließen, aber das brennende Licht neben der Treppe hielt sie zurück. Wobei hielt ihre Mutter sich so lange auf, dass sie darüber das Mittagessen vergessen hatte? Sie rief hinunter: „Mama? Was machst du?“
Als sie keine Antwort bekam, schritt sie mit einem mulmigen Gefühl die Stufen hinunter und entdeckte Lisbeth, starr auf der Seite liegend neben der Kartoffelkiste. Das Entsetzen brach aus ihr heraus und sie schrie aus Leibeskräften. Warum musste sie immer die soeben Verstorbenen auffinden? Sie hasste die kalte Fratze des Todes, das eisige Grauen, das durch jede Pore in ihren Körper kroch, ihr den Magen umdrehte und das Herz einzwängte, im Kopf ein bösartiges Kribbeln auslöste und Arme und Beine erstarren ließ. Mit dem Schrei stieß sie das Grauen aus sich heraus, machte sich frei davon, schaffte Distanz zwischen sich und dem Tod. Er hatte wieder zugeschlagen, aber sie wollte am Leben bleiben.
Kaum wahrnehmbar, aber doch stark genug, um es zu registrieren, hob und senkte sich Lisbeths Brustkorb. Sie atmete, sie war am Leben. Ingrid beugte sich über sie. „Mama? Hörst du mich?“
Ein unartikuliertes Stöhnen war die Antwort.
„Ich hole Hilfe.“, sagte Ingrid. „Ich bin gleich zurück.“
Sie stürmte nach oben, lief ins Wohnzimmer und rief einen Rettungswagen. Raimund war noch bei der Arbeit, also riss sie alle Türen auf, schnappte sich eine Decke und rannte zurück in den Keller, wo sie versuchte, ihre Mutter auf die Decke zu rollen. Das gestaltete sich weitaus schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte, weil Lisbeth nicht mithelfen konnte, obwohl sie doch klein und mager war. Es gelang ihr einigermaßen und sie versuchte, den ausgekühlten, alten Körper ein wenig aufzuwärmen. Lisbeth hatte sicher bereits zwei Stunden auf dem klammen, kalten Kellerboden zugebracht und während sie bei ihrer Mutter saß, dachte sie darüber nach, was als Nächstes zu tun sei, wenn der Notarzt seine Arbeit getan hatte. Das Vieh war für die nächsten Stunden versorgt, die Küche blieb heute kalt, abends könnte Raimund Pommes und Bratwurst aus einem Imbiss holen, aber wenn sie mit ins Krankenhaus fahren musste, dann würde keiner das Vieh am Abend versorgen. Sie musste auf dem Lehrhof anrufen. Raimund musste sich freischaufeln oder eine Vertretung organisieren.

Der Rettungswagen traft bereits nach wenigen Minuten ein. Die Sanitäter brachten Lisbeth ins nahe gelegene Krankenhaus nach Werther. Sie versicherten Ingrid, dass sie in den nächsten Stunden nicht viel tun könne, außer ein paar Sachen für ihre Mutter vorbei zu bringen. Also packte sie in Ruhe eine Tasche, rief bei Raimund Lehrstelle an, die ihn sofort nach Hause gehen ließen. Ingrid zauberte nun doch ein einfaches Mittagessen, ruhte sich kurz aus, wusch sich und wechselte die Kleidung. Dann machte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus und übertrug Raimund die Sorge um das Vieh.

Lisbeth blieb eine Weile dort. Sie hatte einen schweren Schlaganfall erlitten und man hatte zunächst stabilisierende Maßnahmen eingeleitet. Ingrid schaute täglich vorbei, sprach mit den Schwestern, selten mit den Ärzten, ihre Mutter war ansprechbar, erkannte sie, konnte aber nicht sprechen und war halbseitig gelähmt. Es folgten eine Menge Untersuchungen und medikamentöse Einstellungen, aber schon bald betrachteten die Ärzte die alte Frau als austherapiert und dauerhaft pflegebedürftig. Die Unterbringung in einem Heim kam nicht infrage, also organisierte Ingrid mit Unterstützung aus dem Krankenhaus ein Pflegebett und jedes Zubehör, das sie für die Pflege ihrer Mutter benötigte. Nach drei Wochen lag Lisbeth wieder in ihrer vertrauten Umgebung.

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Samstag, 2. März 2024
Spoiler 18
Vier Wochen Schweigen, dafür entschuldige ich mich. Die Kladde mit meinen handschriftlichen Aufzeichnungen hatte ich verlegt und wollte mir nicht bereits Geschriebenes ein zweites Mal ausdenken. jetzt geht es weiter:

1992 - Lisbeth
Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen. Großmutter und Mutter hielten den Hof seit nunmehr fünf Jahren mehr schlecht als recht über Wasser, aber der heranwachsende Azubi hatte mittlerweile exorbitante Muskeln entwickelt und an den Berufsschultagen sowie am Wochenende übernahm er immer mehr von auf dem Hof anfallenden, körperlich schweren Arbeiten, sodass sie das Geld für eingekaufte Helfer sparen konnten.
Sie gingen alle täglich an ihre Grenzen, auch Lisbeth, die mit 70 Jahren zwar noch nicht steinalt war, aber nach einem Leben voller Entbehrungen und ohne Erbarmen kaum noch über Reserven verfügte, die sie hätte mobilisieren können.

1922 war sie als drittes Kind einer siebenköpfigen Familie zur Welt gekommen, der Vater ein Trinker und jähzorniger Schläger, die Mutter macht- und antriebslos, die Großmutter verbittert. Sie hatte ihre Kindheit irgendwie überlebt, Kraft geschöpft aus den Spielen am Sonntag Nachmittag, mit den Kameradinnen aus der Nachbarschaft.
Die Schule war ein Zufluchtsort gewesen, auch wenn es nicht gewaltfrei zugegangen war, so war es für Lisbeth dort sicher gewesen. Sie hatte sich anstrengen müssen, war aber mitgekommen, obwohl sie kaum Gelegenheit gehabt hatte, ihre Hausaufgaben in Ruhe zu erledigen. Mit dem Ende der Schulzeit hatte 1936 ihre Kindheit geendet, sie hatte dem täglichen Einerlei von Haus- Stall- und Feldarbeit unter dem Damoklesschwert ständig drohender väterlicher Zornausbrüche nicht mehr entkommen können.

Siebzehnjährig hatte sie beim Tanz in den Mai Fritz Vollweiter kennengelernt, einen kräftigen Burschen, der eines Tages einen stattlichen Hof erben würde, der gern Späße und ihr schöne Augen gemach hatte. Mehr hatte sie vom Leben nicht erwarten könnenund so hatten sie bereits im August Verlobung gefeiert. Zwei Wochen später hatte Adolf Hitler deutsche Truppen in Polen einmarschieren lassen und im Angesicht des Krieges und Lisbeths Sorge, vielleicht schon schwanger zu sein und dann als ledige Mutter einem Leben in sozialer Ächtung ausgesetzt zu sein, hatte sie Fritz zur Heirat gedrängt. Mitte Oktober war es so weit gewesen, schlicht und schmucklos, mit einem geborgten Brautkleid, Platenkuchen zum Kaffee, ohne Tanz und Abendessen.
Anfang Dezember hatte Fritz seine Einberufung erahlten, sechs Wochen nachdem Lisbeth der elterlichen Hölle entkommen war. Die Schwiegereltern waren ebenfalls rau gewesen, aber sie hatte sich nicht mehr vor Schlägen fürchten müssen. Zum Weihnachtsfest 1939 hatte Fritz noch einmal nach Hause gedurft, danach bekam Lisbeth ihren Mann jahrelang nicht zu sehen.
Es folgten Jahre der Angst und Entbehrung. Nahrungsmittel und Verbrauchswaren wurden knapp, da war immer die Sorge, ob Fritz wieder heim käme und welche Katastrophen der Krieg noch so mit sich brächte.
Bereits Ende 1943 war Fritz verwundet heimgekehrt. Ein Geschoss, das in die Schulter eingedrungen war, hatte ihn monatelang zur Untätigkeit gezwungen, die Wunde war schlecht geheilt und hatte ihm starke Schmerzen bereitet. Er war launisch gewesen und nachts schreiend und schweißgebadet aufgewacht. Es war eine schwere Zeit gewesen, aber Lisbeth war dankbar gewesen, dass er am Leben war. Immerhin war sie endlich schwanger geworden und brachte 1944 ihren ersten Sohn Gerd zur Welt. Die Schwiegermutter war zwar nicht freundlich gewesen, hatte sie aber bei der Säuglingspflege unterstützt.
Im Mai 1945 war der Krieg vorbei, das Elend und die Warenknappheit jedoch noch lange nicht. Fritz war nur langsam zu Kräften gekommen und die Last der harten letzten Jahre zusammen mit der schweren Arbeit hatte Lisbeths Schwiegervater während der Heuernte aus dem Leben gerissen. Dieser Schicksalsschlag hatte Fritz jedoch dazu gebracht, seine seelischen und körperlichen Verletzungen beiseite zu schieben. Er war jetzt der Mann im Haus. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, sich ins Leben zurück zu kämpfen, abends war er stets unendlich erschöpft ins Bett gesunken, aber mit der Zeit hatten sich seine Kräfte gesteigert und etwa ein Jahr nach Ende des Krieges schien er zu seiner alten Form zurück gefunden zu haben. 1947 war Rainer zur Welt gekommen, die Schwiegermutter hatte Lisbeth entlastet, wenn die ihre Stallarbeit erledigte und das Leben schien eine Weile wohlgeordnet, ja fast schön zu sein.
1948 war Lisbeth zum dritten Mal schwanger geworden und gerade als besonders viel zu tun war: Das Schlachten und Verwursten eines Schweines, Weihnachtsbäckerei und großer Hausputz, war Mutter Vollweiter unter der Last ihrer Aufgaben zusammengebrochen, hatte einen Schlaganfall erlitten und musste bis zum Jahreswechsel gepflegt werden – natürlich von der schwangeren Lisbeth, die sich um den Haushalt, den vierjährigen Gerd und den ein-ein-halb-jährigen Rainer allein hatte kümmern müssen - und um ein Weihnachtsfest mit Gaben für die Kinder, Braten, Plätzchen und Schmuck im Lichterbaum. Sie hatte das alles geschafft, aber als sie die Schwiegermutter am 6. Januar zum Friedhof getragen hatten, war sie vor allem erleichtert gewesen.
Als 1949 Ingrid geboren wurde, war niemand mehr da gewesen, der ihr mit den Kindern etwas hätte abnehmen können. Sie war überfordert gewesen und immer reizbarer geworden. Gerd hatte eine Hornhaut auf seiner Kinderseele entwickelt, Rainer war zu Schaden gekommen und Ingrid war vernachlässigt worden. Lisbeth war den Anforderungen hinterher gehetzt, hatte ihrem Herzen oft in aller Deutlichkeit Luft gemacht, wie sie es im eigenen Elternhaus erlebt hatte und hatte damit immer häufiger den Zorn ihres Ehemannes erregt. Der hatte zugeschlagen, wenn es ihm reichte; anfangs nur selten und beiläufig, später häufiger und brutaler. Sie war chronisch erschöpft gewesen und hatte nur schwer die sogenannten ehelichen Pflichten ertragen, die ihr nicht das geringste Vergnügen bereitet hatten. Oft hattete sich Fritz mitten in der Nacht an sie heran gemacht wenn Alpträume ihn aus dem Schlaf gerissen hatten und er in ihrem weiblichen Körper, den er offenbar als die exakte Gegenwelt zu den unverarbeiteten Kriegstraumata empfand, Trost suchte; vielleicht sogar Erlösung. Für Lisbeth war es die Hölle gewesen und im Laufe der Jahre hatte sie Strategien entwickelt, sich seinem nächtlichen Zugriff zu verweigern.
Sie hatte die Tage herumgebracht, getan, was von ihr erwartet wurde und hatte nicht nur unter dem rücksichtslosen Ehemann, sondern auch unter den Kindern gelitten, die allesamt nicht die Entwicklung nahmen, die sie sich vorgestellt hatte. Von starken, strahlenden Söhnen hatte sie geträumt, freundlich, zupackend und hilfsbereit, von jedermann geschätzt und geachtet. Von einer anmutigen, tugendhaften Tochter, fleißig, fröhlich und Mutter vieler Enkelkinder. Aber sie hatten sie alle enttäuscht. Aus Gerd war ein ungehobelter Rüpel geworden, der seinem Vater auf erschreckende Weise ähnlich war. Er hatte eine ebenso wenig mitfühlende Frau geheiratet und die Enkel waren laut, ungeschickt und verhielten sich, sobald sie sich der elterlichen Kontrolle entzogen hatten, geradezu bösartig gegenüber anderen Menschen. Auch wenn sie sich ursprünglich gewünscht hatte, dass ein Sohn den Hof weitergeführt hätte, so empfand sie es am Ende ihres Lebens als das kleinere Übel, dass Ingrid zu Hause geblieben war.

Rainer war schon immer verweichlicht und schwächlich gewesen, einen greinendes Kind, das vor sämtlichen Herausforderungen des Lebens zu kapitulieren schien. Nur als er sich als Dreizehnjähriger einmal schützend vor sie gestellt hatte, als ihr Ehemann sie wegen eines ungebügelten Hemdes verdroschen hatte, da war in ihr die Hoffnung aufgekeimt, dass noch einmal ein richtiger Kerl aus ihm würde. Doch Fritz hatte ihm damals sämtlichen Mumm herausgeprügelt. Umso überraschter war sie gewesen, als er als junger Mann zur Marine ging. Das war bekanntermaßen eine harte Schule, der er sich da ausgesetzt hatte. Doch am Ende war er eingeknickt und hatte seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Dass er eine solche Schande über die Familie gebracht hatte, hatte sie ihm nie verziehen. Alle Bilder von ihm und jede Erinnerung hatten sie aus ihrem Leben verbannt. Da waren Fritz und sie sich ausnahmsweise einmal einig gewesen.

Und dann war da schließlich Ingrid, die sich aufs Ungesundeste entwickelt hatte, indem sie schon als Kind an sich herum gespielt und schließlich den eigenen Vater in ihr Bett gelockt hatte. Erst als Lisbeth ihm gedroht hatte, es überall herum zu erzählen und ihn zu verlassen, hatte er sich von der Heranwachsenden ferngehalten. Sie hatte sie wegsperren müssen, damit sie sich zu einer anständigen Frau entwickelte und weiß Gott, das war ihr gelungen. Sie war nicht hübsch und nicht besonders fruchtbar, hatte es nur zu einem einzigen Kind gebracht, aber immerhin war es ein Sohn und ihr Mann hatte den Hof ordentlich weiter geführt, das war mehr gewesen, als sie gehofft hatte.

Als ihr Mann 1970 starb, war sie gerade einmal 48 Jahre alt gewesen. Zuerst war es nur ein Schock gewesen: Das Grauen beim Anblick eines plötzlich Verstorbenen, die Sorge um die Zukunft, die Berge von Arbeit und Verantwortung…
Aber dann hatte sie eine Menge Unterstützung erlebt, so viel wie nie zuvor in ihrem Leben und plötzlich war da eine Leichtigkeit eingezogen, die sie nie zuvor gekannt hatte. Sie hatte auch mal zur Frauenhilfe gehen können, oder einen Sonntagsspaziergang unternehmen. Sie hatte sich nicht vor Schlägen fürchten müssen und es waren keine speckigen Kragen mehr zu reinigen gewesen, Hemden hatten weder gestärkt noch gebügelt werden müssen, niemand hatte ihr die Nachtruhe geraubt, weder durch Schnarchen und Gestank, noch durch aufgedrängte körperliche Nähe. Und als Ingrid schließlich einen tauglichen Bauern geheiratet hatte, war ihr ein weiterer Stein vom Herzen gefallen.

Doch auch im Alter war sie nicht zur Ruhe gekommen. Ihrer Tochter fehlte für so vieles der Blick, wie oft musste sie hinter ihr her räumen. Als Raimund klein war, hatte sie sich fast nur um das Kind gekümmert und Kochen und Wäsche waren zu einem großen Teil an Lisbeth hängen geblieben. Später hatte Ingrid dann zunehmend bei der Stallarbeit geholfen, weil sie mehr Schweine angeschafft hatten und Horst infolgedessen auch sehr viel Zeit mit der Feldarbeit zubrachte, um dem erhöhten Bedarf an Futtermitteln nachzukommen.

Als dann auch 1988 Ingrid mit erst 39 Jahren Witwe geworden war, waren wieder viele Veränderungen auf sie zugekommen und Lisbeths Arbeitskraft war unentbehrlich gewesen, ganz besonders bei Raimunds Konfirmation.

Fünf Jahre waren seit Horsts Ableben vergangen, harte Jahre der Existenzangst und der Ruhelosigkeit. Nun war der Junge bald mit der Ausbildung fertig, der Hof hatte eine Zukunft und sie hoffte von ganzem Herzen, dass sie sich nun endlich bald zur Ruhe setzen konnte, denn die Knie und die Hüften schmerzten, die Hände waren krumm und geschwollen, das Sehen hatte nachgelassen und in der letzten Zeit hatte sie häufiger mit Kopfweh und Schwindel zu kämpfen. Sie wollte sich heute etwas schonen, nur die Kartoffeln schälen und danach eine Weile am Ofen die klammen Finger wärmen.
Sie stieg in den kühlen Keller mit der angeschlagenen Emaille-Schüssel, die noch aus ihrer Aussteuer stammte. Sie wählte große Kartoffeln aus, denn sie hatte heute einfach keine Lust, sich so lange mit dem Schälen aufzuhalten. Sie konnte nicht richtig sehen und da war so ein Stechen im Kopf, als hätte ihr jemand ein Messer hinein gerammt. Sie konnte sich nicht mehr halten und stürzte zu Boden.

Sie verlor nur kurz das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, bemerkte sie, dass sie nicht aufstehen konnte, das linke Bein gehorchte nicht. Sie war aber auch nicht in der Lage, um Hilfe zu rufen, weil sie nicht wusste, wie das ging. Der Kellerboden war kalt und klamm und die Kälte kroch in ihren ganzen Körper. Aus dieser Perspektive hatte sie die Kartoffelkisten und den gestampften Lehmboden noch nie gesehen. Wie viele Schattierungen von Ocker und von Grau es gab, Farben, die sie ihr Leben lang gehasst hatte, sie standen für Schmutz, Unordnung, Versagen.
Versagt hatte sie ja nun auch. Sie kam nicht mehr hoch, nicht auf die Beine und schon gar nicht auf die Kellertreppe. Sie spürte großen Durst, aber hier gab es nichts zu Trinken und bald konnte sie kaum noch unterscheiden, ob es die Lähmung oder die anhaltende Kälte war, die sie zur Unbeweglichkeit verdammten. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Hölle wurde ihr erneut die Gnade der Bewusstlosigkeit zuteil.

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