Freitag, 14. April 2023
Schwarzwälder
Jetzt sitze ich hier. Hinter mir eine kahle Wand, vor mir eine kahle Wand. Rechts ein vergittertes Fenster, links eine Stahltür mit Guckloch. Bei Gewahrsamszellen geben die sich überhaupt keine Mühe. Könnten je wenigstens ein freundliches Wimmelbild an die Wand malen. So viele sitzen unschuldig ein. Muss man sich in dieser von Angst und Unsicherheit geprägten Situation auch noch zu Tode langweilen?

Eingesperrt in einer winzigen Zelle. Nun hat sie es wieder geschafft. Nach so vielen Jahren. Meine Mutter. Mein Leben lang hat sie mich eingesperrt. Als ich klein war, durfte ich nicht allein zum Spielen raus, wie alle anderen Kinder, das sei zu gefährlich. Und dann musste ich mit ihr Schwarzwälder Kirschtorte essen, als Ausgleich. "Vom Feinsten!", meinte Mutter, aber ich ekelte mich vor der betont alkoholischen Note, denn nie ließ sie aus Rücksicht auf Kinder das Kirschwasser weg. Und sie mischte so viel Chemie in die Sahne, dass sie ganz künstlich schmeckte. Die dunklen Böden waren nicht einmal selbst gebacken. Sie tat mir nicht gut.

Nun meinen sie, dass ich ausbrechen wollte und ihr darum den Rest gegeben habe.
"Wie haben sie es gemacht, Frau Gebhart?", fragte die Kommissarin. "Geben Sie es wenigstens zu und machen Sie ihrem Herzen Luft. Es wird dann leichter für Sie und senkt auch das Strafmaß. Wenn wir mühsam alles selbst herausfinden müssen, wird das teuer und kostet Sie sehr viel Lebenszeit."
"Ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie einfach so gefunden."

Die Kommissarin hat Recht. Ich hätte das beste Motiv. Eine herrschsüchtige, gebrechliche Mutter, die ständig Forderungen stellte, mir ein schlechtes Gewissen einredete, manipulativ, rücksichtslos, unersättlich. Noch gestern musste ich vier Stückchen Schwarzwälder vom Bäcker holen und mindestens ein Stück mitessen. Ekelhaft. Und dann beklagte sie sich: "Die Bäcker heutzutage wissen auch nicht mehr wie es geht. Das habe ich seinerzeit besser hinbekommen. Viel zu wenig Kirschwasser und die Sahne zerfließt schon vom Angucken. Hast du den etwa wieder aus dem Supermarkt geholt? Du sollst doch den von Manegold kaufen."
"Das habe ich getan.", lautete meine Antwort. "Ich kann dir das Kuchenpapier zeigen."
"Ach, seit der Junge das Geschäft übernommen hat, haben die auch schwer nachgelassen."
Der Junge ist zweiundsechzig.
Meine Mutter schraubte sich trotzdem drei Stückchen Torte in den Rachen. Vom Besten darf man ja nichts umkommen lassen. Dann beklagte sie sich über Übelkeit und ich sei Schuld, weil ich nur ein Stückchen gegessen habe.

"Sie konnten nicht mehr, Frau Gebhart.", versuchte es die Kommissarin auf die einfühlsame Art. "Das verstehe ich. Wer will schon sein eigenes Leben den steinalten Eltern opfern? Aber warum haben Sie Ihre alte Dame nicht einfach in eine Einrichtung gegeben und sie dort einmal in der Woche besucht? Dann hätten Sie den nötigen Abstand gehabt."

Hat die eine Ahnung. In eine Einrichtung geben. Die kennt meine Mutter nicht und ihre perfiden Erpressungsmethoden. So hat sie mich jahrelang in die Kirchengemeinde gezwungen. Vom Kindergottesdienst bis zum Kirchenchor. Ich musste immer mitmachen. "Wenn du heute nicht in den Kindergottesdienst gehst, ist der Pastor Heine ganz traurig."
"Natürlich machst du beim Krippenspiel mit. Das ist bei uns Familientradition."
"Wenn sonst niemand den Jugendclub leiten kann, dann musst du das wohl machen, sonst findet das ja nicht mehr statt. Stell dir einmal vor, du hättest mit vierzehn nichts gehabt, wo du hingehen konntest!"
"Wir brauchen dich Sonntag im Chor, sonst ist der Sopran so dünn, dann kommen die Tenöre durcheinander."

Und jetzt hat sie mich wieder eingesperrt. Sie macht sich vom Acker und ich soll verantwortlich sein. Sie verlässt ihren Körper und ich kann nicht einmal diese zwei mal drei Meter verlassen. Zwei mal drei Meter. So groß war mein Kinderzimmer, in das sie mich einschloss, damit ich nicht mit Kerime spielte. Die war ja Muslima und hätte mich vom rechten Weg abbringen können, schließlich war ich erst acht.. Dafür gab es Schwarzwälder Kirsch. Und ich durfte mich nicht beklagen. Schließlich war es das Beste.

"Es gibt absolut keinen Hinweis darauf, dass jemand sich Zugang zur Wohnung Ihrer Mutter verschafft hat. Sie sind die Einzige, die infrage kommt. Sie waren da. Sie hatten ein Motiv und die Gelegenheit. Haben Sie sie mit einem Kissen erstickt? So eins von diesen gehäkelten Monstren, die paradeförmig auf dem Sofa thronen? Oder war es ein dicker Schal? Großflächig um den Hals geschlungen, um keine Erdrosselungs- oder Würgemale zu hinterlassen?"
"Nichts dergleichen. Ich hatte mich ein wenig hingelegt. Als ich wieder aufstand, habe ich sie leblos am Esszimmertisch vorgefunden. Wie oft soll ich das noch wiederholen?"
"Gar nicht. Sie sollen mir erzählen, was wirklich passiert ist. War es nicht so, dass Ihre Mutter Sie ihr Leben lang festgehalten und eingeengt hat?"

Ja. So war es. Aber das kann diese Polizistin nicht wissen. Und das geht sie auch nichts an. Ich war bereits achtzehn Jahre alt, wollte zu einer Versammlung der grünen Ortsgruppe. Beim Gründungstreffen war ich dabei gewesen und nun ging es weiter. Meine Mutter fragte: "Wo willst du hin?", als ich meine Jacke anzog.
"Zur grünen Ortsgruppe."
"Das wirst du bleiben lassen. Parteipolitik verdirbt den Charakter und gefährdet deine Zukunft."
"Wieso das denn?"
"Erfahrung."
Dann schubste sie mich ins Gäste-WC, zog blitzschnell den Schlüssel ab, schloss die Tür und verriegelte sie von außen. Einmal zwei Meter. Zwei Stunden lang, damit es sich nicht mehr lohnte, die Gruppe verspätet aufzusuchen. Ich saß auf der Kloschüssel und starrte die rosa Fliesen an. Ich ging nie wieder zu den Grünen. Die Schmach, mich als Erwachsene von meiner Mutter festhalten zu lassen, war unerträglich. Ich wollte das mit niemandem teilen.

Ich sah der Polizistin in die Augen. Dann sagte ich: "Ich war nicht die Gefangene meiner Mutter. Ich lebe in Bochum, mit meiner Familie, habe ein eigenes Haus, einen Beruf, Freunde, ein Leben. Meine Mutter brauchte kurzfristig Unterstützung, da habe ich mir Zeit genommen. Dann ist sie plötzlich und unerwartet verstorben. So etwas soll vorkommen bei alten Menschen. Sie war 96."

Sah sie mir an, dass ich das selbst nicht glaubte? Sicher, ich war meiner Mutter damals scheinbar entkommen. Zum Studium musste ich ausziehen, mit neunzehn, das ging ja nicht anders. Und dann blieb ich hängen in Bochum, in den Netzwerken meines beruflichen Werdegangs, bei Jan und schließlich bei den Kindern. Ich kam zu Besuch, vielleicht alle sechs Wochen. Alles war im Lot.
Dann ließen irgendwann ihre Kräfte nach. Und als einzige Tochter war ich mehr und mehr gefordert. Sie brauchte meine Hilfe und sie missbrauchte mich als Seelenmülleimer, Prellbock, Fußabtreter. Wie sie es schon in meiner Kindheit und Jugend getan hatte.
Und ich ließ es zu, ließ mich manipulieren, mir ein schlechtes Gewissen einreden.
"Wer weiß, ob dies nicht mein letzter Tag ist?"
"Wer alt ist, wird immer einsamer."
"Und dann liege ich sechs Wochen tot in meiner Wohnung."
Nichts davon war eingetreten. Sie hatte immer weitergelebt, sehr viele Jahre. Sie hatte immer wieder neue Sozialkontakte und nahm mich trotzdem vierzehntägig in Anspruch, zum Schluss sogar wochenlang am Stück. Und ich war da als sie starb. Sie war noch warm, als ich sie fand.

Und jetzt hat sie mich endgültig eingesperrt. Wer weiß für wie viele Jahre? Wenn ich raus komme, ist meine Zeit abgelaufen. Mein Leben hat sie mir gestohlen. Mein ganzes, verdammtes Leben. Und immer Schwarzwälder Kirschtorte. Wenigstens die muss ich nie wieder essen. Das wäre mal ein Motiv gewesen.

Die Zellentür öffnet sich. Die Kommissarin steht im Gegenlicht. "Sie dürfen gehen, Frau Gebhart. Der gerichtsmedizinische Bericht ist gekommen. Ihr Mutter ist erstickt, weil sie sich verschluckt hat. An einer Scheibe Schinken."

Dann habe ich sie wohl doch ermordet. Den aß sie so gerne, den habe ich ihr extra mitgebracht. Nicht Parma, nicht Serrano, nicht westfälisch. Nein. Schwarzwälder.

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Freitag, 7. April 2023
Furie
Ich hatte ihr nichts getan. Ich hatte ihr nichts weggenommen, sie weder beleidigt noch gedemütigt, nicht einmal hinter ihrem Rücken schlecht über sie geredet - außer vielleicht im ganz vertraulichen Rahmen.
Trotzdem fuhr sie regelmäßig Attacken gegen mich, als hätte ich sie von ihrem Platz geschubst. Ich war ja nicht einmal ein Alphaweibchen, das von allen heterosexuellen Geschlechtsgenossinnen wegen der unschlagbaren Konkurrenz gehasst wurde.

Jetzt stand sie vor mir mit diesem absurd langen und spitzen Küchenmesser in der Hand. Noch zeigte die Spitze zu Boden, aber der Arm war angespannt, ihr Blick wirkte entschlossen und aus ihren Augen sprühte der blanke Hass.

Natürlich war sie vollkommen irre, das war mir schon vor Jahren aufgefallen, in den ersten Sekunden unserer ersten Begegnung. Da war sofort dieses Jeglichen-Kontakt-unbedingt-vermeiden-Gefühl gewesen, aber in professionellen Zusammenhängen sind Ausweichmanöver selten von durchschlagendem Erfolg gekrönt. man muss sich stellen, sich wappnen, durchhalten und möglichst unbeschädigt aus dem Kontakt hervorgehen.

Dies war auch jetzt mein Plan. Ich bin keine Kämpferin. Aber ich sehe mich auch ungern als Opfer, zu dem ich unweigerlich würde, wenn ich nicht auf der Hut war.

Ich schlug mit der Hand vor die Stirn. „Oh, ich hab‘ was vergessen!“, stieß ich hervor und rannte aus dem Haus in Richtung der rettenden Sicherheit meiner privaten Fahrgastzelle.

Keuchend stürzte ich in mein Auto und verriegelte es. Und jetzt? Ich konnte doch nicht einfach wegfahren, dann war ich die Irre. Vielleicht hatte sie das Messer nur in der Hand gehabt, um die Küche aufzuräumen. Aber was würde ich behaupten, vergessen zu haben, wenn ich zurückkehrte? Vielleicht mein Mobiltelefon? Das hatte ich heute Vormittag noch nicht aus der Tasche gezogen und es hatte sich auch noch nicht gemuckst. Ich könnte ja in Bereitschaft sein. In einer Angelegenheit, über die ich nicht sprechen konnte. Ja, so wollte ich es begründen.

Ich kehrte zurück. Es war mir zwar nicht geheuer, aber vielleicht hatte ich mit dieser unerwarteten Reaktion Dampf aus dem Kessel genommen und sie hatte die Bluthunde ihrer Affekte zurückgepfiffen. Hoffentlich.

Sie wirkte etwas beherrschter, aber nicht weniger unheimlich. Das Messer lag auf der Theke, außerhalb ihrer Reichweite, sie saß auf einem Stuhl in mehreren Metern Abstand.
"Wir müssen reden.", sagte sie bestimmt.
"Wir tun doch nichts anderes erwiderte ich gleichmütig."
"Ich meine nichts Berufliches. Ich hatte gestern ein Gespräch mit Peter."
"Und inwiefern war das nicht beruflich?"
"Es ging um unsere Freundschaft."
"Wer ist wir?"
"Peter und ich."
"Aha."
"Es kann ja gar nicht sein, dass er sich mit dir zum Kaffee verabredet und für mich keine Zeit hat. Damit habe ich ihn konfrontiert. Und da meinte er, er suche sich selbst aus, mit wem er Kaffee trinke und dann hat er mich praktisch rausgeschmissen. Dafür kann es nur eine Erklärung geben."
"Und welche?"
"Du hast ihm irgendwelche Geschichten über mich erzählt."
"Was für Geschichten?", fragte ich ungläubig. Ich kam mir tatsächlich vor wie im falschen Film.
Ihre Atemfrequenz stieg, ihre Augen glommen wie Kohlen, sie nahm deutlich Fahrt auf.
"Irgendwas Kompromittierendes, das du dir ausgedacht hast." zischte sie
"Warum sollte ich das tun?"
"Um mich aus dem Weg zu räumen, damit du freie Bahn hast!", kreischte sie schnappte sich plötzlich das Messer und riss es in die Luft, um auf mich einzustechen.
Mein Verstand setzte aus und machte Platz für meine Urinstinkte. Es ging jetzt nur um eines: ums Überleben. Ich trat gegen ihr Schienbein und schützte meinen Oberkörper mit gekreuzten Armen. Vor Schmerz heulte sie wütend aus und begann unkoordiniert mit ihrer Waffe herumzufuchteln. Ein heftiger Handkantenschlag und das Messer fiel zu Boden. Ich hätte es wegkicken können und auf sie eindreschen, aber ich befand mich im Ausnahmezustand. Ich griff nach dem Küchengerät und rammte ihr die Klinge bis zum Heft in den Bauch. Dann sah ich zu, wie das Leben aus ihr herauslief. Der Rettungsdienst, ich musste den Rettungsdienst alarmieren, aber ich konnte nicht. Solange sie sich bewegte, war ich noch in Gefahr. Ich schaffte es erst, als sie das Bewusstsein verloren hatte. Da war es zu spät.

Ich hatte in Notwehr gehandelt, aber die Polizei glaubte mir nicht. Auch die Richterin hielt mich für eine kaltblütige Mörderin.

Fünfzehn Jahre für die Paranoia einer eifersüchtigen Furie. Außerdem keine Rehabilitation und keine Zukunft. Hätte ich mich doch bei der allerersten Begegnung von meinen Gefühlen leiten lassen.

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Samstag, 1. April 2023
Einsatzkrimi
Nach 15 Jahren Haft wegen Mordes, der doch in Wahrheit nur eine Tötung aus Notwehr gewesen war, was ihr aber niemand geglaubt hatte, verlangte sie eine angemessene Entschädigung, die man ihr verweigerte, was sie so wütend machte, dass sie sich zu einer Straftat hinreißen ließ, die erneut eine erhebliche Haftstrafe nach sich zog, die sie nicht annehmen wollte, weil sie bereits mit 15 Jahren unschuldig in Vorleistung gegangen sei, was man ihr jedoch nicht zugestand.

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Donnerstag, 23. März 2023
Verbrenner
Ein diabolisches Grinsen lag auf Volkers Gesicht, begleitet von einem irren Kichern. In der Hand hielt er noch den goldenen Engländer, den ihm der Aufsichtsrat eines großen Automobilkonzerns als originelle Auszeichnung hatte zukommen lassen. Für besondere Verdienste um die Branche.
Den kalten Schweiß auf seiner Stirn bemerkte er gar nicht, zu hoch der Adrenalin-Spiegel vom Dopamin ganz zu schweigen.
Der Robbi lag da ganz eigenartig und pittoresk dekoriert mit der Mischung aus arteriellem Hellrot und Venösem, tiefdunklem rotbraun, dazwischen ein paar Tupfer in rosa und grau. Da hatte der Volker ganze Arbeit geleistet. Er lobte sich selbst.

"Wir verbrennen ja keine Bücher, nur Treibstoff. Und brennen sollst du, Robbi, wie die altvorderen Könige, du Fortschrittsbremse."

Er dachte tatsächlich, er käme damit durch. Hatte die Rechnung aber ohne Anna-Lena, Steffi, Marco und Nancy gemacht.

Dumm gelaufen, Volker.

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