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Donnerstag, 7. Mai 2020
Aktenzeichen XY – in eigener Sache, kein Kurzkrimi
c. fabry, 12:46h
Gestern bin ich seit Jahrzehnten mal wieder zufällig bei der Traditionssendung Aktenzeichen XY ungelöst hängenblieben und war außer mir. Hier werden nach wie vor mehrere „Ismen“ bedient, als lebten wir noch in den Siebzigern:
Voyarismus
Sexismus
Rassismus
Von der Förderung des Denunziantums einmal ganz zu schweigen.
Berichte die auf widerwärtigste Weise Voyarismus und Sexismus vereinigten, waren z.B. die Spielszene, in der es um den Überfall auf eine junge Frau in Frankfurt ging. Wie in den Siebzigern wurden die vor Geilheit sabbernden, anständigen Bürger mit allem versorgt, was das Herz begehrt: Eine leichtsinnige, junge Frau, die spät abends noch allein einen Club (früher hieß das Discothek) aufsucht, sich lebenslustig und aufgebrezelt amüsiert und auf dem Heimweg verfolgt, brutal niedergeschlagen und beinahe vergewaltigt wird. Alles, was das Potential hat, als Masturbationsvorlage zu funktionieren, wird gezeigt: Die Brutalität des Täters, die Todesangst des Opfers, das Nesteln an der Kleidung, um endlich loslegen zu können. Natürlich ein Südländer, der kein Deutsch sprach.
Bei den Ermittlungen in einem brutalen Einbruchsfall suchte man nach einem Mann, der bei der Tat eine Kapuze trug, dessen Gesicht von dunklem Teint und vernarbt war. In der Spielszene rief jemand bei der Polizeidienststelle an und glaubte aufgrund des Phantombildes jemanden erkannt zu haben – mit weißblonden Haaren. Die Polizistin bedankte sich höflich, legte auf und sagte: „Weißblonde Haare. Wieder nichts.“
Als könnten dunkelhäuttige Männer sich nicht die Haare blondieren oder Hellhäutige sich einen dunklen Gesichtsteint schminken.
In der gesamten Sendung wurden fast ausschließlich Migranten gesucht – von einem Fall mit schwerer Körperverletzung durch Silvesterraketen einmal abgesehen.
Sind die deutschen Verbrecher so blöd, das sie sich im Gegensatz zu den Arabern und Südeuropäern alle erwischen lassen?
Migranten stellen nicht die Mehrheit der Gewaltverbrecher in unserer Gesellschaft, näheres dazu hier:
https://www.focus.de/panorama/welt/tid-32857/serie-gefaengnis-i-warum-wir-fuer-kriminelle-migranten-verantwortlich-sind-die-wahrheit-ueber-die-kriminalstatistik_aid_1068225.html
oder hier:
https://www.sueddeutsche.de/panorama/fall-susanna-f-was-die-statistik-sagt-1.4007771
Ich würde den Machern der Sendung keine bewusste gesellschaftliche Brandstiftung unterstellen und wenn tatsächlich zufällig einmal überwiegend Migranten den Ermittlern durch die Lappen gegangen sind, dann ist das vielleicht so. Ich sehe das auch nicht jeden Monat, aber der Eindruck war veheerend.
Voyarismus
Sexismus
Rassismus
Von der Förderung des Denunziantums einmal ganz zu schweigen.
Berichte die auf widerwärtigste Weise Voyarismus und Sexismus vereinigten, waren z.B. die Spielszene, in der es um den Überfall auf eine junge Frau in Frankfurt ging. Wie in den Siebzigern wurden die vor Geilheit sabbernden, anständigen Bürger mit allem versorgt, was das Herz begehrt: Eine leichtsinnige, junge Frau, die spät abends noch allein einen Club (früher hieß das Discothek) aufsucht, sich lebenslustig und aufgebrezelt amüsiert und auf dem Heimweg verfolgt, brutal niedergeschlagen und beinahe vergewaltigt wird. Alles, was das Potential hat, als Masturbationsvorlage zu funktionieren, wird gezeigt: Die Brutalität des Täters, die Todesangst des Opfers, das Nesteln an der Kleidung, um endlich loslegen zu können. Natürlich ein Südländer, der kein Deutsch sprach.
Bei den Ermittlungen in einem brutalen Einbruchsfall suchte man nach einem Mann, der bei der Tat eine Kapuze trug, dessen Gesicht von dunklem Teint und vernarbt war. In der Spielszene rief jemand bei der Polizeidienststelle an und glaubte aufgrund des Phantombildes jemanden erkannt zu haben – mit weißblonden Haaren. Die Polizistin bedankte sich höflich, legte auf und sagte: „Weißblonde Haare. Wieder nichts.“
Als könnten dunkelhäuttige Männer sich nicht die Haare blondieren oder Hellhäutige sich einen dunklen Gesichtsteint schminken.
In der gesamten Sendung wurden fast ausschließlich Migranten gesucht – von einem Fall mit schwerer Körperverletzung durch Silvesterraketen einmal abgesehen.
Sind die deutschen Verbrecher so blöd, das sie sich im Gegensatz zu den Arabern und Südeuropäern alle erwischen lassen?
Migranten stellen nicht die Mehrheit der Gewaltverbrecher in unserer Gesellschaft, näheres dazu hier:
https://www.focus.de/panorama/welt/tid-32857/serie-gefaengnis-i-warum-wir-fuer-kriminelle-migranten-verantwortlich-sind-die-wahrheit-ueber-die-kriminalstatistik_aid_1068225.html
oder hier:
https://www.sueddeutsche.de/panorama/fall-susanna-f-was-die-statistik-sagt-1.4007771
Ich würde den Machern der Sendung keine bewusste gesellschaftliche Brandstiftung unterstellen und wenn tatsächlich zufällig einmal überwiegend Migranten den Ermittlern durch die Lappen gegangen sind, dann ist das vielleicht so. Ich sehe das auch nicht jeden Monat, aber der Eindruck war veheerend.
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Montag, 4. Mai 2020
Krimi-Quatsch mit Bildchen – Einladung zum kreativen Schreiben
c. fabry, 17:17h
Liebe Bloggende, die Ihr Euch hier her verirrt habt. Um nicht gänzlich die Lebensfreude zu verlieren, starte ich mal wieder ein diesmal hoffentlich gelingendes Gemeinschaftsprojekt.
Meine Tochter hat mir vor ein paar Jahren einen Satz „Story Cubes“ geschenkt. Das sind neun Würfel mit Bildchen drauf, die würfelt man und dann muss man die neun Bildchen, die oben liegen, komplett in eine Geschichte einbauen.
Diese Herausforderung kann man noch toppen, indem man die gewürfelten Bildchen bestimmten Krimikategorien zuordnet, z. B.: Täter*in, Opfer, Motiv, Tatort, Tatwaffe, Ermittler*in und für das, was übrig bleibt, Requisiten (kann auch sein dass nichts übrige bleibt, bei mehreren Tätern, Opfern, Motiven, Tatwaffen oder Ermittlern). Dann denkt man sich einen Plot aus und schreibt die Geschichte runter. Hab ich gemacht. Ist auch schon hochgeladen, aber noch nicht veröffentlicht.
Und jetzt Ihr. Bevor ich am Freitag mein Geheimnis Lüfte, will ich an Euren wildesten Phantasien teilhaben. Und hier nun die Bildchen:

Falls Ihr auf dem Foto nichts erkennen könnt:
PFEIL – STERNSCHNUPPE – LUPE –
REGENBOGEN – HAUS – FISCH –
WELT – BIENE – SCHAF
Meine Tochter hat mir vor ein paar Jahren einen Satz „Story Cubes“ geschenkt. Das sind neun Würfel mit Bildchen drauf, die würfelt man und dann muss man die neun Bildchen, die oben liegen, komplett in eine Geschichte einbauen.
Diese Herausforderung kann man noch toppen, indem man die gewürfelten Bildchen bestimmten Krimikategorien zuordnet, z. B.: Täter*in, Opfer, Motiv, Tatort, Tatwaffe, Ermittler*in und für das, was übrig bleibt, Requisiten (kann auch sein dass nichts übrige bleibt, bei mehreren Tätern, Opfern, Motiven, Tatwaffen oder Ermittlern). Dann denkt man sich einen Plot aus und schreibt die Geschichte runter. Hab ich gemacht. Ist auch schon hochgeladen, aber noch nicht veröffentlicht.
Und jetzt Ihr. Bevor ich am Freitag mein Geheimnis Lüfte, will ich an Euren wildesten Phantasien teilhaben. Und hier nun die Bildchen:

Falls Ihr auf dem Foto nichts erkennen könnt:
PFEIL – STERNSCHNUPPE – LUPE –
REGENBOGEN – HAUS – FISCH –
WELT – BIENE – SCHAF
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Mitten ins Herz
c. fabry, 17:13h
Was für ein bescheidener Tag das wieder war. Keller war im Urlaub und kurz vorm Wochenende, kurz vor Feierabend kam der Notruf. „BIENE, Du musst noch mal raus. Leichenfund im Villenviertel.“
„In welchem?“, fragte Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock, die nichts mehr hasste, als wenn der saublöde Kosename aus ihrer Vorpubertät von den gendertechnisch zurückgebliebenen Kollegen als Anrede missbraucht wurde.
„Sieben Hügel.“
„Na ja“, schnaubte sie. „Mehr so unterste Oberschicht. Das sind die Schlimmsten.“
Das HAUS lag im unteren Abschnitt der Straße, wo die Häuser nicht ganz so idyllisch im Grünen versunken waren, dafür aber moderner und großzügigeren Ausmaßes. Die KTU war schon im Gange, die Leiche, eine Frau in den Vierzigern, lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers, in ihrem Rücken steckte ein PFEIL, der nur von einem kleinen Blutfleck umgeben war – ein Hinweis darauf, dass er mitten ins Herz getroffen hatte. Die gigantische Schiebetür zur Terrasse stand offen, überall im Garten war die Spurensicherung aktiv, über dem Wald malte die Abendsonne einen farbenprächtigen REGENBOGEN in die Wolken. Sabine Kerkenbrock war plötzlich froh, dass sie hier nicht gemeinsam mit ihrem Kollegen Keller ermitteln musste, der vermutlich ohne jegliches Mitgefühl für das Opfer herumgefrotzelt hätte, dass man bei solchen Geldsäcken ja immer das Gefühl habe, sie hätten es im Grunde nicht anders verdient und seien am Ende womöglich nur Opfer ihrer eigenen Gier und Herzlosigkeit geworden.
Sie lag schon etwa 24 Stunden so da. Wie furchtbar!, dachte Kerkenbrock. Ganz allein in diesem riesigen Haus, niemand bekommt etwas mit…
„Wie ist sie denn überhaupt aufgefunden worden?“
„Der Nachbarin ist beim Gassigehen mit ihrem Hund aufgefallen, dass jedes Mal die Terrassentür so weit offen stand, auch als es empfindlich kühl war. Dann hat sie mehrmals täglich versucht, das Opfer über das Festnetztelefon zu erreichen und sich gedacht, sie sei vielleicht länger unterwegs und habe es versäumt die Terrassentür zu schließen. Am späten Nachmittag habe sie sich dann entschlossen, die Polizei zu informieren, damit die offene Hintertür keine Diebe auf den Plan rief. Die Kollegen sind dann über den Zaun durch den Garten auf die Terrasse und ins Haus gelangt und haben die Ermordete aufgefunden.“
„Wie ist die Spurenlage bisher?“
„Bescheiden. Kaum Fingerabdrücke, Fasern oder Haare. Der Täter oder die Täterin scheint nicht im Haus gewesen zu sein, sondern den Pfeil vom Garten aus abgeschossen zu haben, was man auch aus der Position des Opfers und der offenen Tür schlussfolgern kann.“
„Vom Garten oder vom Wald aus?“
„Wissen wir noch nicht. Der Garten ist aber wahrscheinlicher, vom Wald aus liegen zu viele Hindernisse in der Schusslinie.“
„Gibt es Fußspuren?“
„Kaum. Der Boden war gestern noch knochentrocken.“
„Keine ungewöhnlichen Funde im Garten?“
„Nichts.“
Die Sterne glitzerten schon am Nachthimmel, als Kerkenbrock den Tatort wieder verlassen konnte. Statt direkt ins Präsidium zu fahren machte sie noch einen kurzen Spaziergang, um wieder ins Lot zu kommen. Eine STERNSCHNUPPE zischte durchs mondlose Dunkel. Auch etwas, das das Opfer, Larissa Schaffeld, nie mehr erleben würde. Die Chance, sich etwas zu wünschen hatte sie verpasst.
Später im Präsidium konfrontierte sie Heidenreich mit einer Besonderheit: „Mir war aufgefallen, dass in diesem peinlich geordneten Haushalt eine Schreibtischschublade halb offen stand. Sie war leer. Mitten auf dem Schreibtisch lag eine LUPE. Die hätte normalerweise sicher in einem Becher gestanden oder in einer Schublade gelegen. Auf der Lupe sind tatsächlich andere Fingerabdrücke, als im Rest der Wohnung. Möglicherweise hat sich jemand etwas genauer angesehen, bevor es entwendet wurde. Vielleicht eine wertvolle Briefmarke oder ein Schmuckstück.“
Heidenreichs Hypothesen ließen sich nicht bestätigen. Larissa Schaffeld hatte weder der Sammelleidenschaft gefrönt noch wertvollen Schmuck getragen. Das schloss zwar nicht aus, dass sie welchen besaß, stellte aber nicht den favorisierten Ermittlungsansatz dar. An ihrem Arbeitsplatz zeigten sich die Kolleginnen und Kollegen erschüttert. Larissa Schaffeld hatte zu den fleißigen und zurückhaltenden Mitarbeiterinnen gehört, verantwortungsbewusst, fair und kollegial, keine bissige Stute, die Rachegelüste auf sich zog. Sie sei so sanft und freundlich gewesen, erklärte eine Mitarbeiterin, dass die harten Hunde im Team sie höhnisch als „das SCHAF“ bezeichnet hätten.
Opferlamm – dachte Kerkenbrock und setzte einige Beamte auf eine akribische Untersuchung des Arbeitsbereichs der Ermordeten an.
Mehrere gerieten ins Visier der Ermittlungen, einer aber ganz besonders. Alle nannten ihn den FISCH. Nicht etwa, weil er wie ein Fisch aussah, jedoch alles andere an ihm war fischig: aalglatt flutschte er an allem vorbei, was sich ihm in den Weg stellte, umging Hindernisse und ließ sich auf nichts festlegen. Eiskalt war er auch, vermeintlich emotionslos und vollkommen Empathie-befreit. Sogar ein unangenehmer Körpergeruch ging von ihm aus.
Sein jüngstes Projekt hatte er so weit vorangetrieben, dass er damit endlich auf den WELTmarkt drängen konnte. Und dann stellte das Schaf alles in Frage. Noch nicht sicher hatte sie gesagt, müsste erst noch gründlich geprüft und getestet werden. Doch je länger sie ihn aufhielt, umso größer war die Gefahr, dass jemand vor ihm als erster mit einer Lösung auf den Markt drängte, dann wäre es zu spät für ihn.
Überführt wurde er, weil Kerkenbrock aufgrund des dienstlichen Konfliktes mit Larissa Schaffeld seine Fingerabdrücke nehmen ließ.
Als sie ihn mit den Ergebnissen der kriminaltechnischen Untersuchung konfrontierten, brach er ein und gab alles zu. Sein Anwalt hatte ihm schließlich auch zu lückenloser Offenheit geraten und so erzählte er:
„Sie hatte von einem Foto gesprochen, mir gedroht, dass es mich bei etwas zeige, das mir deutlich zum Nachteil gereiche. Sollte ich gegen alle Vorsicht mein Projekt durchdrücken und damit die Seriosität der Firma gefährden, würde sie diese Karte ausspielen.
Da habe ich dann entschieden, dass sie weg muss. Ich habe die Umgebung ihres Hauses begutachtet und dann den sauberen Schuss geplant, mit meinem Sportbogen und einem Standardpfeil. Zwei Mal musste ich unverrichteter Dinge wieder umkehren. Beim dritten Mal war die Situation günstig. Ich habe präzise geschossen, ich bin ein formidabler Schütze. Dann bin ich ins Haus gelaufen, habe ihren Tod festgestellt und mich umgesehen. In der Schreibtischschublade habe ich das Foto gefunden. Die Schublade habe ich mit einem Taschentuch geöffnet. Weil ich auf dem Foto nicht alles erkennen konnte, habe er die Lupe zur Hand genommen, dabei nicht an Fingerabdrücke gedacht. Auf dem Foto erkannte ich mich und meine Geliebte ganz winzig im Außenspiegel eines Autos. Wenn man das Bild aber vergrößerte, erkannte man mich deutlich beim leidenschaftlichen Kuss mit einer Frau, die nicht meine war.“
„Und das alles für fünfzehn Jahre Haft.“, stöhnte Kerkenbrock. „Auch wenn Ihnen wegen Ihrer Geständigkeit und vielleicht später wegen guter Führung ein Teil der Haft erlassen wird. Sie bekommen in ihrem Geschäft doch keine zweite Chance.“
„Man wird sehen“, erwiderte der Fisch mit gespielter Demut und Kerkenbrock ahnte, dass er sein Revier schon vollgelaicht hatte. Dieser Mörder kam ganz bestimmt wieder auf die Füße.
„In welchem?“, fragte Kriminalkommissarin Sabine Kerkenbrock, die nichts mehr hasste, als wenn der saublöde Kosename aus ihrer Vorpubertät von den gendertechnisch zurückgebliebenen Kollegen als Anrede missbraucht wurde.
„Sieben Hügel.“
„Na ja“, schnaubte sie. „Mehr so unterste Oberschicht. Das sind die Schlimmsten.“
Das HAUS lag im unteren Abschnitt der Straße, wo die Häuser nicht ganz so idyllisch im Grünen versunken waren, dafür aber moderner und großzügigeren Ausmaßes. Die KTU war schon im Gange, die Leiche, eine Frau in den Vierzigern, lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers, in ihrem Rücken steckte ein PFEIL, der nur von einem kleinen Blutfleck umgeben war – ein Hinweis darauf, dass er mitten ins Herz getroffen hatte. Die gigantische Schiebetür zur Terrasse stand offen, überall im Garten war die Spurensicherung aktiv, über dem Wald malte die Abendsonne einen farbenprächtigen REGENBOGEN in die Wolken. Sabine Kerkenbrock war plötzlich froh, dass sie hier nicht gemeinsam mit ihrem Kollegen Keller ermitteln musste, der vermutlich ohne jegliches Mitgefühl für das Opfer herumgefrotzelt hätte, dass man bei solchen Geldsäcken ja immer das Gefühl habe, sie hätten es im Grunde nicht anders verdient und seien am Ende womöglich nur Opfer ihrer eigenen Gier und Herzlosigkeit geworden.
Sie lag schon etwa 24 Stunden so da. Wie furchtbar!, dachte Kerkenbrock. Ganz allein in diesem riesigen Haus, niemand bekommt etwas mit…
„Wie ist sie denn überhaupt aufgefunden worden?“
„Der Nachbarin ist beim Gassigehen mit ihrem Hund aufgefallen, dass jedes Mal die Terrassentür so weit offen stand, auch als es empfindlich kühl war. Dann hat sie mehrmals täglich versucht, das Opfer über das Festnetztelefon zu erreichen und sich gedacht, sie sei vielleicht länger unterwegs und habe es versäumt die Terrassentür zu schließen. Am späten Nachmittag habe sie sich dann entschlossen, die Polizei zu informieren, damit die offene Hintertür keine Diebe auf den Plan rief. Die Kollegen sind dann über den Zaun durch den Garten auf die Terrasse und ins Haus gelangt und haben die Ermordete aufgefunden.“
„Wie ist die Spurenlage bisher?“
„Bescheiden. Kaum Fingerabdrücke, Fasern oder Haare. Der Täter oder die Täterin scheint nicht im Haus gewesen zu sein, sondern den Pfeil vom Garten aus abgeschossen zu haben, was man auch aus der Position des Opfers und der offenen Tür schlussfolgern kann.“
„Vom Garten oder vom Wald aus?“
„Wissen wir noch nicht. Der Garten ist aber wahrscheinlicher, vom Wald aus liegen zu viele Hindernisse in der Schusslinie.“
„Gibt es Fußspuren?“
„Kaum. Der Boden war gestern noch knochentrocken.“
„Keine ungewöhnlichen Funde im Garten?“
„Nichts.“
Die Sterne glitzerten schon am Nachthimmel, als Kerkenbrock den Tatort wieder verlassen konnte. Statt direkt ins Präsidium zu fahren machte sie noch einen kurzen Spaziergang, um wieder ins Lot zu kommen. Eine STERNSCHNUPPE zischte durchs mondlose Dunkel. Auch etwas, das das Opfer, Larissa Schaffeld, nie mehr erleben würde. Die Chance, sich etwas zu wünschen hatte sie verpasst.
Später im Präsidium konfrontierte sie Heidenreich mit einer Besonderheit: „Mir war aufgefallen, dass in diesem peinlich geordneten Haushalt eine Schreibtischschublade halb offen stand. Sie war leer. Mitten auf dem Schreibtisch lag eine LUPE. Die hätte normalerweise sicher in einem Becher gestanden oder in einer Schublade gelegen. Auf der Lupe sind tatsächlich andere Fingerabdrücke, als im Rest der Wohnung. Möglicherweise hat sich jemand etwas genauer angesehen, bevor es entwendet wurde. Vielleicht eine wertvolle Briefmarke oder ein Schmuckstück.“
Heidenreichs Hypothesen ließen sich nicht bestätigen. Larissa Schaffeld hatte weder der Sammelleidenschaft gefrönt noch wertvollen Schmuck getragen. Das schloss zwar nicht aus, dass sie welchen besaß, stellte aber nicht den favorisierten Ermittlungsansatz dar. An ihrem Arbeitsplatz zeigten sich die Kolleginnen und Kollegen erschüttert. Larissa Schaffeld hatte zu den fleißigen und zurückhaltenden Mitarbeiterinnen gehört, verantwortungsbewusst, fair und kollegial, keine bissige Stute, die Rachegelüste auf sich zog. Sie sei so sanft und freundlich gewesen, erklärte eine Mitarbeiterin, dass die harten Hunde im Team sie höhnisch als „das SCHAF“ bezeichnet hätten.
Opferlamm – dachte Kerkenbrock und setzte einige Beamte auf eine akribische Untersuchung des Arbeitsbereichs der Ermordeten an.
Mehrere gerieten ins Visier der Ermittlungen, einer aber ganz besonders. Alle nannten ihn den FISCH. Nicht etwa, weil er wie ein Fisch aussah, jedoch alles andere an ihm war fischig: aalglatt flutschte er an allem vorbei, was sich ihm in den Weg stellte, umging Hindernisse und ließ sich auf nichts festlegen. Eiskalt war er auch, vermeintlich emotionslos und vollkommen Empathie-befreit. Sogar ein unangenehmer Körpergeruch ging von ihm aus.
Sein jüngstes Projekt hatte er so weit vorangetrieben, dass er damit endlich auf den WELTmarkt drängen konnte. Und dann stellte das Schaf alles in Frage. Noch nicht sicher hatte sie gesagt, müsste erst noch gründlich geprüft und getestet werden. Doch je länger sie ihn aufhielt, umso größer war die Gefahr, dass jemand vor ihm als erster mit einer Lösung auf den Markt drängte, dann wäre es zu spät für ihn.
Überführt wurde er, weil Kerkenbrock aufgrund des dienstlichen Konfliktes mit Larissa Schaffeld seine Fingerabdrücke nehmen ließ.
Als sie ihn mit den Ergebnissen der kriminaltechnischen Untersuchung konfrontierten, brach er ein und gab alles zu. Sein Anwalt hatte ihm schließlich auch zu lückenloser Offenheit geraten und so erzählte er:
„Sie hatte von einem Foto gesprochen, mir gedroht, dass es mich bei etwas zeige, das mir deutlich zum Nachteil gereiche. Sollte ich gegen alle Vorsicht mein Projekt durchdrücken und damit die Seriosität der Firma gefährden, würde sie diese Karte ausspielen.
Da habe ich dann entschieden, dass sie weg muss. Ich habe die Umgebung ihres Hauses begutachtet und dann den sauberen Schuss geplant, mit meinem Sportbogen und einem Standardpfeil. Zwei Mal musste ich unverrichteter Dinge wieder umkehren. Beim dritten Mal war die Situation günstig. Ich habe präzise geschossen, ich bin ein formidabler Schütze. Dann bin ich ins Haus gelaufen, habe ihren Tod festgestellt und mich umgesehen. In der Schreibtischschublade habe ich das Foto gefunden. Die Schublade habe ich mit einem Taschentuch geöffnet. Weil ich auf dem Foto nicht alles erkennen konnte, habe er die Lupe zur Hand genommen, dabei nicht an Fingerabdrücke gedacht. Auf dem Foto erkannte ich mich und meine Geliebte ganz winzig im Außenspiegel eines Autos. Wenn man das Bild aber vergrößerte, erkannte man mich deutlich beim leidenschaftlichen Kuss mit einer Frau, die nicht meine war.“
„Und das alles für fünfzehn Jahre Haft.“, stöhnte Kerkenbrock. „Auch wenn Ihnen wegen Ihrer Geständigkeit und vielleicht später wegen guter Führung ein Teil der Haft erlassen wird. Sie bekommen in ihrem Geschäft doch keine zweite Chance.“
„Man wird sehen“, erwiderte der Fisch mit gespielter Demut und Kerkenbrock ahnte, dass er sein Revier schon vollgelaicht hatte. Dieser Mörder kam ganz bestimmt wieder auf die Füße.
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Freitag, 1. Mai 2020
Feuer!
c. fabry, 12:29h
Fast fünfzig Tote. Gleich drei Brandherde auf einmal. Abstand mehrere hundert Meter. Das war keine Selbstentzündung, kein natürliches Brennglas, keine Glasscherbe, ja nicht einmal ein illegales, romantisches Lagerfeuer. Waldbrand im April. Im Regenloch, das aber nun seit Wochen keines mehr gewesen war. So etwas hatte es früher nicht gegeben.
Die Polizei hatte zwei junge Männer festgenommen, mutmaßliche Brandstifter, die üblichen Verdächtigen. Die waren schon häufiger aufgefallen durch nächtliche Ruhestörung, Sachbeschädigung und eine mächtig große Klappe. Und wer zündete schon den deutschen Wald an, wenn nicht ein paar Zugereiste.
Aber man konnte ihnen nichts nachweisen, musste sie laufen lassen.
„Vielleicht war es auch mal wieder ein kleiner Feuerwehrmann, der sich beweisen wollte.“, meinte Polizeiobermeister Helling. „Hatten wir ja schon öfter.“
„Oder nur ein kleines Arschloch, das einfach mal was machen wollte, das am nächsten Tag groß in der Zeitung steht, damit es endlich ein großes Arschloch wird.“ erwiderte seine Kollegin Fuchs.
Kegel sah die Bilder im Lokalfernsehen. Achthundert Quadratmeter verbrannt. Das war nicht viel. Die Feuerwehr hatte schnell und effektiv gehandelt. Das hatte es wohl nicht gebracht. Das nächste mal würde er kurz vor Einbruch der Dunkelheit ausrücken, ein bisschen geschickter vorgehen.
Seine Buchen waren sicher, die Schonungen eingezäunt, die Flächen mit den bald erntereifen Beständen abgelegen und von zahlreichen Bächen durchzogen, die nicht so bald austrockneten. Die Preise würden steigen, wenn er es etwas geschickter anstellte. Methodenvielfalt war das Gebot der Stunde. Unberechenbarkeit und ein Alibi. Jetzt regnete es. Er würde warten müssen, bis wieder ein paar Wochen Dürre hinter ihnen lagen. Bis dahin brauchte er den perfekten Plan.
Die Polizei hatte zwei junge Männer festgenommen, mutmaßliche Brandstifter, die üblichen Verdächtigen. Die waren schon häufiger aufgefallen durch nächtliche Ruhestörung, Sachbeschädigung und eine mächtig große Klappe. Und wer zündete schon den deutschen Wald an, wenn nicht ein paar Zugereiste.
Aber man konnte ihnen nichts nachweisen, musste sie laufen lassen.
„Vielleicht war es auch mal wieder ein kleiner Feuerwehrmann, der sich beweisen wollte.“, meinte Polizeiobermeister Helling. „Hatten wir ja schon öfter.“
„Oder nur ein kleines Arschloch, das einfach mal was machen wollte, das am nächsten Tag groß in der Zeitung steht, damit es endlich ein großes Arschloch wird.“ erwiderte seine Kollegin Fuchs.
Kegel sah die Bilder im Lokalfernsehen. Achthundert Quadratmeter verbrannt. Das war nicht viel. Die Feuerwehr hatte schnell und effektiv gehandelt. Das hatte es wohl nicht gebracht. Das nächste mal würde er kurz vor Einbruch der Dunkelheit ausrücken, ein bisschen geschickter vorgehen.
Seine Buchen waren sicher, die Schonungen eingezäunt, die Flächen mit den bald erntereifen Beständen abgelegen und von zahlreichen Bächen durchzogen, die nicht so bald austrockneten. Die Preise würden steigen, wenn er es etwas geschickter anstellte. Methodenvielfalt war das Gebot der Stunde. Unberechenbarkeit und ein Alibi. Jetzt regnete es. Er würde warten müssen, bis wieder ein paar Wochen Dürre hinter ihnen lagen. Bis dahin brauchte er den perfekten Plan.
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Freitag, 24. April 2020
Pest - Kurzkrimi ohne Anspruch auf Historizität
c. fabry, 12:50h
Damals kam die Menschlichkeit abhanden. Aber vielleicht war sie auch nie dagewesen. Vorher war es ja auch nicht leicht gewesen. Isgard hatte täglich schwer schuften müssen auf dem Land des Lehnsherren, ständig auf der Flucht vor dem Grindkopf, der seine Sehnsucht in ihr stillen wollte. Die Männer waren verschwunden, bei den zahlreichen Scharmützeln der Fürstentümer reihenweise dahingeschlachtet worden. Mit fünfunddreißig
war Isgard längst über die Zeit, sie würde keinem Mann mehr Kinder schenken, damit hatte sie sich abgefunden und sie war ja bei weitem nicht die Einzige, die dieses Schicksal ereilt hatte. Die wenigen Männer, die noch zu haben waren, wollte keine Frau geschenkt, nicht einmal die Verzweifeltsten.
Aber Isgard hatte auch ein bisschen Glück gehabt. Sie durfte bei Arnulf auf dem Feld helfen und Edburga, seine Frau kochte etwas mehr Grütze, sodass auch Isgard und die andere Magd Albrun noch satt wurden. Arnulf war ein guter Mann. Nie verließ ein böses Wort seine Lippen, er arbeitete hart, lebte fromm und bescheiden und war trotzdem ein lustiger Geselle. Ein Jammer, dachte Isgard so oft, dass mir nicht so einer begegnet ist, als es Zeit für mich gewesen wäre.
Ihr Leben war hart und beschwerlich gewesen, aber sie war zufrieden, dass sie es trotz allem so gut getroffen hatte. Und dann war alles schlimm geworden.
Die ersten hatte es in der weit entfernten Stadt erwischt. Die durchreisenden Bediensteten der Burgherren hatte die Kunde verbreitet. Der Pfarrer war von Hof zu Hof, von Hütte zu Hütte gezogen und hatte die Türen mit Weihwasser besprengt. Was für ein armseliger Schutzzauber, hatte Isgard gedacht. Sie sprach zwar täglich die Gebete und ging am Sonntag in die Kirche, weil das ja schließlich verlangt wurde, aber wirksame Zauber brauchten schon etwas mehr als ein paar Spritzer Wasser und ein bisschen Hokuspokus.
Dann war die Seuche doch näher gekommen. Die alte Mechthild hatte mit Fieber gelegen, dann hatte ihr Mann berichtet, dass sie Beulen unter den Armen und in den Leisten hatte. Immer schlechter war es ihr gegangen, ein schlimmer Husten war dazu gekommen und dann waren Finger und Zehen schwarz geworden. Die Pest hatte ihr Dorf erreicht.
Die Angst breitete sich aus. Am Sonntag sprach der Pfarrer in der Kirche von der Hoffnung. Davon, dass nun alle Christenmenschen zusammenhalten müssten, denn die Pest habe der Teufel geschickt, um die Menschen zu quälen und vom Herrgott fortzutreiben. Aber der Herrgott würde die Menschen nicht allein lassen, die Rettung sei nahe und nun müssten alle sich gegenseitig helfen. Ja, er sei sicher, dass dieser gemeinsame Feind die Gemeinschaft zusammenschweißen würde. Sie alle mussten nun einsehen, dass einer des anderen Last tragen müsse, dass es anders gar nicht gehe und dass man als Einzelner nur umkommen könne.
Nach dem Kirchgang hängte sich Albrun mal wieder an Isgards Fersen, um sie mit einem unendlichen Wortschwall zu übergießen: „Ja, da hat der Herr Pfarrer mal wieder wahre Worte gesprochen. Jetzt, wo alle zusammenrücken müssen, da wird die Menschlichkeit wieder zurückkehren. Alle werden erkennen, was wirklich zählt und die Welt wird nach der Seuche eine andere sein, eine bessere.“
„Was zählt denn wirklich?“, fragte Isgard und bereute es schon in dem Moment, als sie es aussprach.
„Die Liebe untereinander.“, schwärmte Albrun, „Einer sorgt sich um den anderen. Die knappen Güter werden geteilt und auf einmal ist genug für alle da, obwohl es doch weniger ist als vorher, so wie bei dem Herrn Jesus und dem Brotwunder. Den Witwen hilft der Nachbar bei der Feldarbeit und den Witwern kocht die Nachbarin die Grütze. Die Waisen werden mitversorgt, die Arbeit und die Ernte werden geteilt.“
„Das klingt verlockend.“, erwiderte Isgard. „Hoffen wir, dass du Recht behältst.“
Sie hoffte es wirklich, nicht nur um ihrer selbst willen. Aber sie glaubte nicht an Albruns Visionen. Außerdem konnte sie sich nicht helfen. Wenn Albrun plötzlich von Witwen und Witwern redete, dann träumte sie von ganz anderen Dingen wie Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Sie wartete auf die erste tote Bauersfrau, deren Platz sie einnehmen konnte, denn so war Albrun. Sie tat stets fromm und so, als läge ihr nur das Wohl der anderen am Herzen, dabei sorgte sie nur für sich und darin war sie gut und überaus geschickt, um nicht zu sagen durchtrieben, denn sie ließ es immer so aussehen, als habe sie aus edelsten Motiven gehandelt und fast jeder ging ihr auf den Leim – nur Isgard nicht.
Dann wurde das Schrot für die Grütze knapp. Eigentlich waren um diese Zeit noch immer reichlich Vorräte vorhanden, in den Hütten, in den Scheunen, in den Vorratskammern der Burg. Doch wie von Zauberhand war plötzlich kein Schrot mehr zu bekommen, auch kein Hafer. Sie hatten noch Rüben, Äpfel, Zwiebeln in der Grube gehabt und Roggen auf dem Speicher, aber als Edburga eines Morgens die Zutaten für die Mittagssuppe zusammensuchen wollte, war ihr ein gellender Schrei aus der Kehle entwichen. Diebe hatten die Grube leer geräumt und nur ein paar verschrumpelte Rüben und faulige Zwiebeln übriggelassen. Sie hatte Isgard zum Markt geschickt, dort gab es Essen, aber zu Wucherpreisen, die kein Leibeigener bezahlen konnte und schon fuhren die Edelleute und freien Bauern mit großen Wagen vor und kauften in großen Mengen ein, obwohl ihre Scheunen und Kammern noch randvoll waren. Isgard sah etwas in ihren Augen, das sie so noch nie gesehen hatte: Da war zwar die Gier im Blick, die sie längst kannte, dieses rastlose Schweifen der Augäpfel über alles, was da ist, dieses alles haben Wollen und zwar schnell und ungeteilt, aber sie sah zum ersten Mal die Angst. Die Angst, dass irgendwann nichts mehr da war, dass es auch für alles Gold der Welt kein Brot mehr zu kaufen gab, kein Korn, kein Schrot, kein Mehl, keine Rüben, keine Zwiebeln, keine Äpfel, keine Nüsse.
Schon bald sprachen die Knechte und Mägde der Großbauern davon, dass die Scheuen ihrer Herren fast überquollen, dass sie sie aber verriegelten und verrammelten und eifersüchtig bewachten, während drinnen das Obst verfaulte, das Gemüse verschimmelte und die Ratten einzogen, um sich am reich gedeckten Tisch gütlich zu tun.
Die Armen Leute litten Hunger. Auch Arnulf und seine Sippe. An manchen Tagen konnte Isgard sich kaum auf den Beinen halten bei der Arbeit, aber sie mussten das Feld bestellen, wenn sie jemals wieder etwas zu essen haben wollten. Isgard hatte immer einen kräftigen Oberkörper gehabt, weil sie es gewohnt war, kräftig zuzupacken, darum sah sie noch immer stark und gesund aus, obwohl ihre Beine mittlerweile so dünn wie Streichhölzer und völlig kraftlos waren. Aber sie riss sich zusammen, schleppte sich aufs Feld und arbeitete so gut sie es eben konnte. Arnulf war immer gut zu ihr gewesen und jagte sie auch jetzt nicht fort, darum musste sie alles geben. Edburga fand noch immer irgendetwas Essbares im Wald, und manchmal erlegte Arnulf eine Taube für die Suppe, er durfte sich nur nicht erwischen lassen. Den größten Anteil am Essen bekam immer Albrun. Sie sei doch die Magerste von allen und auch die Schwächste, erklärte Arnulf und schob ihr immer einen Extrabissen zu. Dabei verbarg Albrun ihre Vorräte unter ihren Röcken. Von der Taille aufwärts schien sie zart und zerbrechlich zu sein und in der Tat hatte sie nichts im Ärmel, weil sie sich zeitlebens vor harter Arbeit drückte, aber Isgard hatte beim Baden im Fluss schon einmal ihre prallen Pobacken und mächtigen Schenkel gesehen, so schnell würde diese Magd nicht verhungern. Doch ihr hohlwangiger, trauriger, bedürftiger Blick vermochte es die meisten zu täuschen. Hunger litt sie natürlich auch, denn es gab weniger als wenig zu verteilen.
Die Reichen fraßen sich voll, als gebe es kein Morgen, immer voller Angst, dass bald nichts mehr da sein könnte, das sie in sich hineinstopfen konnten. Wer sich dem Haus eines Edlen oder Wohlhabenden bis auf weniger als hundert Schritte näherte, wurde mit Auspeitschen oder Stockschlägen bestraft – man wollte sich die Pest vom Pöbel nicht einfangen.
Aber die Pest machte vor keiner Schwelle halt, schon gar nicht vor der Schwelle der Reichen, mit den reichlichen Vorräten, an denen die Ratten sich gütlich taten, die die Flöhe mitbrachten, die auch in wohlhabendes, weißes Fleisch bissen und die Seuche weiter gaben.
Zorn breitete sich aus gegen den unsichtbaren Feind. Es musste einen Schuldigen geben. Der Pfarrer hatte vom Teufel gesprochen, doch der Teufel hatte immer Verbündete. Misstrauen breitete sich aus, einer schlich hinter dem anderen her, vielleicht vollzog da jemand faulen Zauber und schleppte das Elend ins Land.
Andere machten die Juden dafür verantwortlich, denn sie pflegten seltsame Sitten und wurden selbst von der Pestilenz verschont. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Sie wollten die Christenheit mit diesem Fluch vernichten, hatten ihn über die Menschen gebracht und sich selbst dagegen gefeit. Dass ihre Reinheitsgebote ihnen die Ratten, damit die Flöhe und damit die Pest vom Leibe hielten, wusste ja niemand.
Und dann starb Edburga und Arnulf war vor Kummer und Entsetzen erstarrt. Isgard konnte es kaum ertragen, ihn so zu sehen. Sie hatte sich immer nach seiner Liebe gesehnt. Er war zwar schon in seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr und damit sieben Jahre älter, doch er strotzte noch immer vor Gesundheit und die großen, dunklen Augen in dem schmalen, wettergegerbten Gesicht waren noch immer so voller Leben und Wärme und Schelmerei gewesen, sogar in der harten Zeit. Aber mit Edburgas Tod schien das Licht in seinen Augen erloschen. So gern hätte sie ihn getröstet, den Arm um die zitternden Schultern gelegt, den Kopf an ihre Brust gedrückt und das noch immer volle Haar gestreichelt, das sie mit seinen einzelnen weißen Fäden in all der dunkelbraunen Pracht an das Fell eines Dachses erinnerte. Aber sie wagte es nicht und befürchtete, dass ihm das keine Hilfe war. Er brauchte nicht ihre Liebe. Er brauchte ihre Kraft. Sie musste noch härter arbeiten, damit sie nicht verhungerten – damit Arnulf überlebte.
Arnulf sah, wie sehr Isgard sich anstrengte. Es beruhigte ihn. Isgard war stark, auf sie konnte er sich verlassen, sie warf nichts um, um sie musste er sich nicht sorgen. Albrun trat in die Hütte. Ihre Finger waren blutig.
„Was ist dir geschehen?“, fragte Arnulf besorgt.
„Ach, nichts weiter.“, winkte Albrun ab. „Mir haben nur die Brombeerdornen die Finger zerkratzt, aber darunter habe ich Pilze gefunden, die wir kochen können.“
„Um diese Jahreszeit?“
„Ich habe die alte Arnhild getroffen und sie gefragt, was sie von den Pilzen hält. Sie hat geantwortet, dass sie mir nur erzählen kann, wofür die Pilze gut sind, wenn ich ihr die Stelle zeige, wo ich sie gefunden habe. Das habe ich getan, aber ich hatte alle abgepflückt. Daraufhin hat sie erklärt, sie könnte mir nur Auskunft geben, wenn ich ihr die Hälfte abtrete. Da war mir klar, dass man die Pilze essen kann. Aber ach, dann dauerte mich das alte Weib und ich habe ihr ein Viertel gegeben und gesagt, sie habe ja nur noch ihren Mann, wir dagegen seien zu siebt und sie wars zufrieden.“
„Das hast du gut gemacht, Albrun.“, sagte Arnulf mit dankbarer, warmer Stimme. „Und das, obwohl du doch so entkräftet bist und dich schonen musst.“
„Für dich ist mir kein Gang zu viel, Arnulf“, erklärte Albrun. „Ich sehe doch, wie du leidest, wie könnte ich dich da im Stich lassen? Du arbeitest hart auf dem Feld, du brauchst etwas Anständiges zu essen und tue nur was ich kann.“
Isgard hatte alles mit angehört, sie hatte hinter der Hütte wilde Petersilienwurzeln geschrubbt, das würde mit den Pilzen ja ein Festessen geben. Als sie die Wurzeln in die Hütte trug, rief sie fröhlich: „Schaut mal, was ich gefunden habe, das ist schmackhaftes Gemüse. Jetzt müssten wir nur noch die Kinder zur Burg schicken, damit sie den Pferden ein wenig Hafer stibitzen und wir hätten ein richtiges Festessen.“
„Ja, das mit den Wurzeln ist schön.“, sagte Arnulf. „Das mit dem Hafer lassen wir mal lieber.“
Er hatte noch immer kein Lächeln übrig und Isgard biss die Zähne zusammen und machte sich daran, das Essen vorzubereiten. Arnulf ging wieder an die Arbeit und Albrun stellte Isgard den Korb mit den Pilzen hin. „Hier“, sagte sie, „du bist doch so eine gute Köchin. Bestimmt kannst du sie besser zubereiten als ich. Und einer muss sich ja um den traurigen Arnulf kümmern. Ich glaube, er weint schon wieder.“
Mit diesen Worten verließ sie die Hütte und folgte ihrer Beute. Isgard spürte ein Feuer in sich brennen, trotz des Hungers und der Erschöpfung war da immer noch Kraft für glühenden Zorn. Es war einfach nicht zu glauben, dass Albrun sich immer alles nahm, was sie wollte, während sie, die gute Isgard immer nur gab. Das musste ein Ende haben. Wozu hatte sie als Kind die Alte Walburga so oft in ihrer abgelegenen Kate besucht?
„Blutzauber“, hatte Walburga gesagt, „ist dunkel und schlecht. Man muss sich seiner enthalten, es sei denn, die allergrößte Not verlangt es.“
„Was ist die allergrößte Not?“, hatte Isgard neugierig gefragt.
„Das wirst du dann schon merken.“, war die Antwort gewesen.
Und jetzt merkte sie es. Eile war geboten. Alles, was sie für das Ritual brauchte, befand sich im Haus. Sie war allein. Sie dachte scharf nach, grub in ihren Erinnerungen, dann fiel es ihr wieder ein. Eines von Albruns weißblonden Haaren war schnell gefunden. War es weißblond oder schon grau? Das sah man bei dieser Haarfarbe nie so genau, Albrun war schließlich auch schon dreiunddreißig Jahre alt. Zwei Jahre jünger als Isgard, längst nicht so abgearbeitet, aber zum Gebären auch zu alt. Doch als Stiefmutter konnte sie sich sicher gut verkaufen, wo sie doch so köstliche Pilze im Wald gefunden hatte. Ob sie die wohl in Wahrheit der alten Arnhild abgeschwatzt hatte? Im Austausch gegen ein paar aufregende Gerüchte, die Arnhild doch so gern verbreitete? Ihr sollte es recht sein. Sie drehte das weißblonde Haar zu einem Ring, stach sich mit einem Dorn in den Finger und benetzte das Haar mit ihrem Blut. Dann sprach sie den Fluch, flüsterte ihn nur, obwohl sie ganz allein war, aber sie hatte das Gefühl, dass eine ungeheuerliche Macht von ihr ausging, jedoch auch, dass diese von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie verbarg das Haar unter Albruns Schlafstatt und kochte die Suppe. Bald war ein Esser weniger.
Komisch, dachte Isgard, das Laken ist schon wieder kraus. Jeden Tag dasselbe. Haben wir eine Katze im Haus? Ich weiß genau, dass ich es heute Morgen glatt gezogen habe. Sie wusch den Bärlauch, den sie im Wald gesammelt hatte und war noch ganz in Gedanken als plötzlich zwei gewaltige Kerle polternd die Hütte betraten.
„Isgard Weißwasser“, sagte der eine „wir müssen dich zum Pfarrer bringen, es liegt etwas gegen dich vor.“
Isgard wusste nicht, wie ihr geschah. Sie banden ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und brachten sie zur Kirche. Dort wartete nicht nur der Pfarrer, sondern sogar der Bischof. Dieser richtete auch das Wort an Isgard.
„Isgard Weißwasser. Du bist gesehen worden bei der Ausübung eines Zaubers, als du dich gemein gemacht hast mit dem Teufel um Schaden anzurichten. Da du nun gesehen wurdest, gestehst du deine Untat?“
Isgard gefror das Blut in den Adern. Das konnte nicht sein. Niemand war im Haus gewesen, keine Fensteröffnung hatte Einblick gewährt und es war ein kleiner, schneller Zauber gewesen, jemand von außen hätte gedacht, sie räume auf, habe sich ein wenig verletzt und sich leise über den Schmerz beklagt. Außerdem hatte der Zauber bis jetzt nicht gewirkt. Albrun schwebte noch immer untätig über die Wiesen und machte Arnulf schöne Augen. Sie schüttelte mit dem Kopf und antwortete mit zitternder Stimme: „Ich bin verleumdet, heiliger Vater, ich habe nichts getan.“
„So leugnest du, den bösen Pestzauber, deinen Verkehr mit einem schwarzen Hahn bei Vollmond in den Flussauen, obwohl die ehrenwerte Arnhild Ackersmann dich eindeutig dabei beobachtet hat?“
„Wie will sie mich bei Vollmond beobachtet haben, wo sie sicher fest schlafend im warmen Bette lag?“
„Du gibst es also zu?“
„Gar nichts gebe ich zu. Ich liege selbst bei Vollmond tief schlafend in meiner Bettstatt und die Meinen können das bezeugen.“
„Da vernahmen wir andere Kunde.“, erklärte der Bischof.
Isgard sollte nicht erfahren, wer sie fälschlicherweise beschuldigt hatte. Sie ahnte, das Albrun dahinter steckte, aber sie wusste nicht, dass ihre Rivalin den Schachzug von langer Hand geplant hatte und die Skandallüsternheit der schwatzhafte Arnhild genutzt hatte, um Isgard aus dem Weg zu räumen. Was sie überdies erst recht nicht wusste, war, dass Albrun außerdem heimlich täglich verunreinigte Kleidung der verstorbenen Edburga in Isgards Nachtlager gewälzt hatte, um diese mit der Pest zu infizieren. Erst als Isgard auch nach Tagen nicht erkrankte, spann sie die Intrige mit der Hexerei. Und die Rechnung ging auf. Isgard starb bei der Hexenprobe im Dorfteich. Von der Beisetzung auf einem kirchlichen Friedhof konnte sie sich die gestohlene Lebenszeit nicht zurück kaufen.
Doch die Flöhe in Edburgas Kleidung, die Isgard verschont hatten, bissen auch Albrun und die Pest erwischt sie schließlich auch.
Arnulf blieb zurück ohne all die Frauen und versprach seinen Kindern, ihnen keine böse Stiefmutter vor die Nase zu setzen. Er machte ihnen Mut, als er sagte: „Die Zukunft wird Besserung bringen. Und wenn auch Eure Enkel vielleicht noch in einer Welt leben müssen, in der jeder nur an sich denkt, in der die einen sich auf Kosten der anderen bereichern, in der die Barmherzigkeit immer wieder von der Gier besiegt wird, so bleibt doch zu hoffen, dass in vielleicht fünfhundert Jahren die Menschheit diese Schwächen überwunden hat. Und wir wollen daran mitarbeiten.“
Und Arnulf starb alt und lebenssatt in den Armen einer jüngeren Frau mit seinen Kindern an seinem Sterbebett.
war Isgard längst über die Zeit, sie würde keinem Mann mehr Kinder schenken, damit hatte sie sich abgefunden und sie war ja bei weitem nicht die Einzige, die dieses Schicksal ereilt hatte. Die wenigen Männer, die noch zu haben waren, wollte keine Frau geschenkt, nicht einmal die Verzweifeltsten.
Aber Isgard hatte auch ein bisschen Glück gehabt. Sie durfte bei Arnulf auf dem Feld helfen und Edburga, seine Frau kochte etwas mehr Grütze, sodass auch Isgard und die andere Magd Albrun noch satt wurden. Arnulf war ein guter Mann. Nie verließ ein böses Wort seine Lippen, er arbeitete hart, lebte fromm und bescheiden und war trotzdem ein lustiger Geselle. Ein Jammer, dachte Isgard so oft, dass mir nicht so einer begegnet ist, als es Zeit für mich gewesen wäre.
Ihr Leben war hart und beschwerlich gewesen, aber sie war zufrieden, dass sie es trotz allem so gut getroffen hatte. Und dann war alles schlimm geworden.
Die ersten hatte es in der weit entfernten Stadt erwischt. Die durchreisenden Bediensteten der Burgherren hatte die Kunde verbreitet. Der Pfarrer war von Hof zu Hof, von Hütte zu Hütte gezogen und hatte die Türen mit Weihwasser besprengt. Was für ein armseliger Schutzzauber, hatte Isgard gedacht. Sie sprach zwar täglich die Gebete und ging am Sonntag in die Kirche, weil das ja schließlich verlangt wurde, aber wirksame Zauber brauchten schon etwas mehr als ein paar Spritzer Wasser und ein bisschen Hokuspokus.
Dann war die Seuche doch näher gekommen. Die alte Mechthild hatte mit Fieber gelegen, dann hatte ihr Mann berichtet, dass sie Beulen unter den Armen und in den Leisten hatte. Immer schlechter war es ihr gegangen, ein schlimmer Husten war dazu gekommen und dann waren Finger und Zehen schwarz geworden. Die Pest hatte ihr Dorf erreicht.
Die Angst breitete sich aus. Am Sonntag sprach der Pfarrer in der Kirche von der Hoffnung. Davon, dass nun alle Christenmenschen zusammenhalten müssten, denn die Pest habe der Teufel geschickt, um die Menschen zu quälen und vom Herrgott fortzutreiben. Aber der Herrgott würde die Menschen nicht allein lassen, die Rettung sei nahe und nun müssten alle sich gegenseitig helfen. Ja, er sei sicher, dass dieser gemeinsame Feind die Gemeinschaft zusammenschweißen würde. Sie alle mussten nun einsehen, dass einer des anderen Last tragen müsse, dass es anders gar nicht gehe und dass man als Einzelner nur umkommen könne.
Nach dem Kirchgang hängte sich Albrun mal wieder an Isgards Fersen, um sie mit einem unendlichen Wortschwall zu übergießen: „Ja, da hat der Herr Pfarrer mal wieder wahre Worte gesprochen. Jetzt, wo alle zusammenrücken müssen, da wird die Menschlichkeit wieder zurückkehren. Alle werden erkennen, was wirklich zählt und die Welt wird nach der Seuche eine andere sein, eine bessere.“
„Was zählt denn wirklich?“, fragte Isgard und bereute es schon in dem Moment, als sie es aussprach.
„Die Liebe untereinander.“, schwärmte Albrun, „Einer sorgt sich um den anderen. Die knappen Güter werden geteilt und auf einmal ist genug für alle da, obwohl es doch weniger ist als vorher, so wie bei dem Herrn Jesus und dem Brotwunder. Den Witwen hilft der Nachbar bei der Feldarbeit und den Witwern kocht die Nachbarin die Grütze. Die Waisen werden mitversorgt, die Arbeit und die Ernte werden geteilt.“
„Das klingt verlockend.“, erwiderte Isgard. „Hoffen wir, dass du Recht behältst.“
Sie hoffte es wirklich, nicht nur um ihrer selbst willen. Aber sie glaubte nicht an Albruns Visionen. Außerdem konnte sie sich nicht helfen. Wenn Albrun plötzlich von Witwen und Witwern redete, dann träumte sie von ganz anderen Dingen wie Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Sie wartete auf die erste tote Bauersfrau, deren Platz sie einnehmen konnte, denn so war Albrun. Sie tat stets fromm und so, als läge ihr nur das Wohl der anderen am Herzen, dabei sorgte sie nur für sich und darin war sie gut und überaus geschickt, um nicht zu sagen durchtrieben, denn sie ließ es immer so aussehen, als habe sie aus edelsten Motiven gehandelt und fast jeder ging ihr auf den Leim – nur Isgard nicht.
Dann wurde das Schrot für die Grütze knapp. Eigentlich waren um diese Zeit noch immer reichlich Vorräte vorhanden, in den Hütten, in den Scheunen, in den Vorratskammern der Burg. Doch wie von Zauberhand war plötzlich kein Schrot mehr zu bekommen, auch kein Hafer. Sie hatten noch Rüben, Äpfel, Zwiebeln in der Grube gehabt und Roggen auf dem Speicher, aber als Edburga eines Morgens die Zutaten für die Mittagssuppe zusammensuchen wollte, war ihr ein gellender Schrei aus der Kehle entwichen. Diebe hatten die Grube leer geräumt und nur ein paar verschrumpelte Rüben und faulige Zwiebeln übriggelassen. Sie hatte Isgard zum Markt geschickt, dort gab es Essen, aber zu Wucherpreisen, die kein Leibeigener bezahlen konnte und schon fuhren die Edelleute und freien Bauern mit großen Wagen vor und kauften in großen Mengen ein, obwohl ihre Scheunen und Kammern noch randvoll waren. Isgard sah etwas in ihren Augen, das sie so noch nie gesehen hatte: Da war zwar die Gier im Blick, die sie längst kannte, dieses rastlose Schweifen der Augäpfel über alles, was da ist, dieses alles haben Wollen und zwar schnell und ungeteilt, aber sie sah zum ersten Mal die Angst. Die Angst, dass irgendwann nichts mehr da war, dass es auch für alles Gold der Welt kein Brot mehr zu kaufen gab, kein Korn, kein Schrot, kein Mehl, keine Rüben, keine Zwiebeln, keine Äpfel, keine Nüsse.
Schon bald sprachen die Knechte und Mägde der Großbauern davon, dass die Scheuen ihrer Herren fast überquollen, dass sie sie aber verriegelten und verrammelten und eifersüchtig bewachten, während drinnen das Obst verfaulte, das Gemüse verschimmelte und die Ratten einzogen, um sich am reich gedeckten Tisch gütlich zu tun.
Die Armen Leute litten Hunger. Auch Arnulf und seine Sippe. An manchen Tagen konnte Isgard sich kaum auf den Beinen halten bei der Arbeit, aber sie mussten das Feld bestellen, wenn sie jemals wieder etwas zu essen haben wollten. Isgard hatte immer einen kräftigen Oberkörper gehabt, weil sie es gewohnt war, kräftig zuzupacken, darum sah sie noch immer stark und gesund aus, obwohl ihre Beine mittlerweile so dünn wie Streichhölzer und völlig kraftlos waren. Aber sie riss sich zusammen, schleppte sich aufs Feld und arbeitete so gut sie es eben konnte. Arnulf war immer gut zu ihr gewesen und jagte sie auch jetzt nicht fort, darum musste sie alles geben. Edburga fand noch immer irgendetwas Essbares im Wald, und manchmal erlegte Arnulf eine Taube für die Suppe, er durfte sich nur nicht erwischen lassen. Den größten Anteil am Essen bekam immer Albrun. Sie sei doch die Magerste von allen und auch die Schwächste, erklärte Arnulf und schob ihr immer einen Extrabissen zu. Dabei verbarg Albrun ihre Vorräte unter ihren Röcken. Von der Taille aufwärts schien sie zart und zerbrechlich zu sein und in der Tat hatte sie nichts im Ärmel, weil sie sich zeitlebens vor harter Arbeit drückte, aber Isgard hatte beim Baden im Fluss schon einmal ihre prallen Pobacken und mächtigen Schenkel gesehen, so schnell würde diese Magd nicht verhungern. Doch ihr hohlwangiger, trauriger, bedürftiger Blick vermochte es die meisten zu täuschen. Hunger litt sie natürlich auch, denn es gab weniger als wenig zu verteilen.
Die Reichen fraßen sich voll, als gebe es kein Morgen, immer voller Angst, dass bald nichts mehr da sein könnte, das sie in sich hineinstopfen konnten. Wer sich dem Haus eines Edlen oder Wohlhabenden bis auf weniger als hundert Schritte näherte, wurde mit Auspeitschen oder Stockschlägen bestraft – man wollte sich die Pest vom Pöbel nicht einfangen.
Aber die Pest machte vor keiner Schwelle halt, schon gar nicht vor der Schwelle der Reichen, mit den reichlichen Vorräten, an denen die Ratten sich gütlich taten, die die Flöhe mitbrachten, die auch in wohlhabendes, weißes Fleisch bissen und die Seuche weiter gaben.
Zorn breitete sich aus gegen den unsichtbaren Feind. Es musste einen Schuldigen geben. Der Pfarrer hatte vom Teufel gesprochen, doch der Teufel hatte immer Verbündete. Misstrauen breitete sich aus, einer schlich hinter dem anderen her, vielleicht vollzog da jemand faulen Zauber und schleppte das Elend ins Land.
Andere machten die Juden dafür verantwortlich, denn sie pflegten seltsame Sitten und wurden selbst von der Pestilenz verschont. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Sie wollten die Christenheit mit diesem Fluch vernichten, hatten ihn über die Menschen gebracht und sich selbst dagegen gefeit. Dass ihre Reinheitsgebote ihnen die Ratten, damit die Flöhe und damit die Pest vom Leibe hielten, wusste ja niemand.
Und dann starb Edburga und Arnulf war vor Kummer und Entsetzen erstarrt. Isgard konnte es kaum ertragen, ihn so zu sehen. Sie hatte sich immer nach seiner Liebe gesehnt. Er war zwar schon in seinem zweiundvierzigsten Lebensjahr und damit sieben Jahre älter, doch er strotzte noch immer vor Gesundheit und die großen, dunklen Augen in dem schmalen, wettergegerbten Gesicht waren noch immer so voller Leben und Wärme und Schelmerei gewesen, sogar in der harten Zeit. Aber mit Edburgas Tod schien das Licht in seinen Augen erloschen. So gern hätte sie ihn getröstet, den Arm um die zitternden Schultern gelegt, den Kopf an ihre Brust gedrückt und das noch immer volle Haar gestreichelt, das sie mit seinen einzelnen weißen Fäden in all der dunkelbraunen Pracht an das Fell eines Dachses erinnerte. Aber sie wagte es nicht und befürchtete, dass ihm das keine Hilfe war. Er brauchte nicht ihre Liebe. Er brauchte ihre Kraft. Sie musste noch härter arbeiten, damit sie nicht verhungerten – damit Arnulf überlebte.
Arnulf sah, wie sehr Isgard sich anstrengte. Es beruhigte ihn. Isgard war stark, auf sie konnte er sich verlassen, sie warf nichts um, um sie musste er sich nicht sorgen. Albrun trat in die Hütte. Ihre Finger waren blutig.
„Was ist dir geschehen?“, fragte Arnulf besorgt.
„Ach, nichts weiter.“, winkte Albrun ab. „Mir haben nur die Brombeerdornen die Finger zerkratzt, aber darunter habe ich Pilze gefunden, die wir kochen können.“
„Um diese Jahreszeit?“
„Ich habe die alte Arnhild getroffen und sie gefragt, was sie von den Pilzen hält. Sie hat geantwortet, dass sie mir nur erzählen kann, wofür die Pilze gut sind, wenn ich ihr die Stelle zeige, wo ich sie gefunden habe. Das habe ich getan, aber ich hatte alle abgepflückt. Daraufhin hat sie erklärt, sie könnte mir nur Auskunft geben, wenn ich ihr die Hälfte abtrete. Da war mir klar, dass man die Pilze essen kann. Aber ach, dann dauerte mich das alte Weib und ich habe ihr ein Viertel gegeben und gesagt, sie habe ja nur noch ihren Mann, wir dagegen seien zu siebt und sie wars zufrieden.“
„Das hast du gut gemacht, Albrun.“, sagte Arnulf mit dankbarer, warmer Stimme. „Und das, obwohl du doch so entkräftet bist und dich schonen musst.“
„Für dich ist mir kein Gang zu viel, Arnulf“, erklärte Albrun. „Ich sehe doch, wie du leidest, wie könnte ich dich da im Stich lassen? Du arbeitest hart auf dem Feld, du brauchst etwas Anständiges zu essen und tue nur was ich kann.“
Isgard hatte alles mit angehört, sie hatte hinter der Hütte wilde Petersilienwurzeln geschrubbt, das würde mit den Pilzen ja ein Festessen geben. Als sie die Wurzeln in die Hütte trug, rief sie fröhlich: „Schaut mal, was ich gefunden habe, das ist schmackhaftes Gemüse. Jetzt müssten wir nur noch die Kinder zur Burg schicken, damit sie den Pferden ein wenig Hafer stibitzen und wir hätten ein richtiges Festessen.“
„Ja, das mit den Wurzeln ist schön.“, sagte Arnulf. „Das mit dem Hafer lassen wir mal lieber.“
Er hatte noch immer kein Lächeln übrig und Isgard biss die Zähne zusammen und machte sich daran, das Essen vorzubereiten. Arnulf ging wieder an die Arbeit und Albrun stellte Isgard den Korb mit den Pilzen hin. „Hier“, sagte sie, „du bist doch so eine gute Köchin. Bestimmt kannst du sie besser zubereiten als ich. Und einer muss sich ja um den traurigen Arnulf kümmern. Ich glaube, er weint schon wieder.“
Mit diesen Worten verließ sie die Hütte und folgte ihrer Beute. Isgard spürte ein Feuer in sich brennen, trotz des Hungers und der Erschöpfung war da immer noch Kraft für glühenden Zorn. Es war einfach nicht zu glauben, dass Albrun sich immer alles nahm, was sie wollte, während sie, die gute Isgard immer nur gab. Das musste ein Ende haben. Wozu hatte sie als Kind die Alte Walburga so oft in ihrer abgelegenen Kate besucht?
„Blutzauber“, hatte Walburga gesagt, „ist dunkel und schlecht. Man muss sich seiner enthalten, es sei denn, die allergrößte Not verlangt es.“
„Was ist die allergrößte Not?“, hatte Isgard neugierig gefragt.
„Das wirst du dann schon merken.“, war die Antwort gewesen.
Und jetzt merkte sie es. Eile war geboten. Alles, was sie für das Ritual brauchte, befand sich im Haus. Sie war allein. Sie dachte scharf nach, grub in ihren Erinnerungen, dann fiel es ihr wieder ein. Eines von Albruns weißblonden Haaren war schnell gefunden. War es weißblond oder schon grau? Das sah man bei dieser Haarfarbe nie so genau, Albrun war schließlich auch schon dreiunddreißig Jahre alt. Zwei Jahre jünger als Isgard, längst nicht so abgearbeitet, aber zum Gebären auch zu alt. Doch als Stiefmutter konnte sie sich sicher gut verkaufen, wo sie doch so köstliche Pilze im Wald gefunden hatte. Ob sie die wohl in Wahrheit der alten Arnhild abgeschwatzt hatte? Im Austausch gegen ein paar aufregende Gerüchte, die Arnhild doch so gern verbreitete? Ihr sollte es recht sein. Sie drehte das weißblonde Haar zu einem Ring, stach sich mit einem Dorn in den Finger und benetzte das Haar mit ihrem Blut. Dann sprach sie den Fluch, flüsterte ihn nur, obwohl sie ganz allein war, aber sie hatte das Gefühl, dass eine ungeheuerliche Macht von ihr ausging, jedoch auch, dass diese von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie verbarg das Haar unter Albruns Schlafstatt und kochte die Suppe. Bald war ein Esser weniger.
Komisch, dachte Isgard, das Laken ist schon wieder kraus. Jeden Tag dasselbe. Haben wir eine Katze im Haus? Ich weiß genau, dass ich es heute Morgen glatt gezogen habe. Sie wusch den Bärlauch, den sie im Wald gesammelt hatte und war noch ganz in Gedanken als plötzlich zwei gewaltige Kerle polternd die Hütte betraten.
„Isgard Weißwasser“, sagte der eine „wir müssen dich zum Pfarrer bringen, es liegt etwas gegen dich vor.“
Isgard wusste nicht, wie ihr geschah. Sie banden ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und brachten sie zur Kirche. Dort wartete nicht nur der Pfarrer, sondern sogar der Bischof. Dieser richtete auch das Wort an Isgard.
„Isgard Weißwasser. Du bist gesehen worden bei der Ausübung eines Zaubers, als du dich gemein gemacht hast mit dem Teufel um Schaden anzurichten. Da du nun gesehen wurdest, gestehst du deine Untat?“
Isgard gefror das Blut in den Adern. Das konnte nicht sein. Niemand war im Haus gewesen, keine Fensteröffnung hatte Einblick gewährt und es war ein kleiner, schneller Zauber gewesen, jemand von außen hätte gedacht, sie räume auf, habe sich ein wenig verletzt und sich leise über den Schmerz beklagt. Außerdem hatte der Zauber bis jetzt nicht gewirkt. Albrun schwebte noch immer untätig über die Wiesen und machte Arnulf schöne Augen. Sie schüttelte mit dem Kopf und antwortete mit zitternder Stimme: „Ich bin verleumdet, heiliger Vater, ich habe nichts getan.“
„So leugnest du, den bösen Pestzauber, deinen Verkehr mit einem schwarzen Hahn bei Vollmond in den Flussauen, obwohl die ehrenwerte Arnhild Ackersmann dich eindeutig dabei beobachtet hat?“
„Wie will sie mich bei Vollmond beobachtet haben, wo sie sicher fest schlafend im warmen Bette lag?“
„Du gibst es also zu?“
„Gar nichts gebe ich zu. Ich liege selbst bei Vollmond tief schlafend in meiner Bettstatt und die Meinen können das bezeugen.“
„Da vernahmen wir andere Kunde.“, erklärte der Bischof.
Isgard sollte nicht erfahren, wer sie fälschlicherweise beschuldigt hatte. Sie ahnte, das Albrun dahinter steckte, aber sie wusste nicht, dass ihre Rivalin den Schachzug von langer Hand geplant hatte und die Skandallüsternheit der schwatzhafte Arnhild genutzt hatte, um Isgard aus dem Weg zu räumen. Was sie überdies erst recht nicht wusste, war, dass Albrun außerdem heimlich täglich verunreinigte Kleidung der verstorbenen Edburga in Isgards Nachtlager gewälzt hatte, um diese mit der Pest zu infizieren. Erst als Isgard auch nach Tagen nicht erkrankte, spann sie die Intrige mit der Hexerei. Und die Rechnung ging auf. Isgard starb bei der Hexenprobe im Dorfteich. Von der Beisetzung auf einem kirchlichen Friedhof konnte sie sich die gestohlene Lebenszeit nicht zurück kaufen.
Doch die Flöhe in Edburgas Kleidung, die Isgard verschont hatten, bissen auch Albrun und die Pest erwischt sie schließlich auch.
Arnulf blieb zurück ohne all die Frauen und versprach seinen Kindern, ihnen keine böse Stiefmutter vor die Nase zu setzen. Er machte ihnen Mut, als er sagte: „Die Zukunft wird Besserung bringen. Und wenn auch Eure Enkel vielleicht noch in einer Welt leben müssen, in der jeder nur an sich denkt, in der die einen sich auf Kosten der anderen bereichern, in der die Barmherzigkeit immer wieder von der Gier besiegt wird, so bleibt doch zu hoffen, dass in vielleicht fünfhundert Jahren die Menschheit diese Schwächen überwunden hat. Und wir wollen daran mitarbeiten.“
Und Arnulf starb alt und lebenssatt in den Armen einer jüngeren Frau mit seinen Kindern an seinem Sterbebett.
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