Freitag, 15. Juni 2018
Allerleirauh – scheinbar nur ein Märchen
Es war einmal ein König. Also nicht der König eines großen Reiches, mehr so ein Herr König und der lebte auch in keinem Schloss, nur in einem schmucken Einfamilienhaus. Er hatte eine schöne Frau mit langen, goldblonden Haaren und eine ebenso hübsche, heranwachsende Tochter, die das goldblonde Haar von ihrer Mutter geerbt hatte.

Zur Konfirmation hatte die Königstochter doch tatsächlich so etwas wie eine Aussteuer bekommen. Ihre Großmutter hatte hochwertige, leinene Geschirrtücher bestickt – eins mit einem Spinnrad, damit solle sie die feinen Fäden spinnen, mit denen sie ihren späteren Mann einfinge, eins mit einem Haspel, damit solle sie die Fäden aufwickeln und den Mann ganz nah an sich heranziehen und schließlich eins mit einem Ring, der ihre Initialen umschloss und den Platz für ein weiteres Paar Anfangsbuchstaben bereit hielt, damit solle sie ihren Auserwählten endgültig an sich binden. Die Tücher bewahrte sie weit hinten im Kleiderschrank auf, wo sie auf den Tag warteten, an dem sie ihre magische Wirkung entfalten sollten.
Alles war schön im Hause König bis, nun ja, bis eines furchtbaren Tages die Frau des Königs starb. Eigentlich starb sie nicht wirklich und es geschah auch nicht an einem einzigen Tag, es geschah mehr so allmählich, Schritt für Schritt, dass ihre Gefühle für ihren Ehemann erkalteten und sie ihr Herz an andere Dinge hängte als an die eheliche Liebe.
Der König war untröstlich und ertränkte seinen Kummer in allerlei gehaltvollen Getränken, doch wenn er am Morgen erwachte, war der Schmerz wieder da und schlimmer als zuvor. Er war damals so stolz gewesen auf sein gertenschlankes Mädchen mit den goldblonden Seidenhaaren und hatte geschworen, nie wieder eine andere zu lieben. Er wollte auch jetzt keine andere, doch seine Gattin erstarrte immer mehr zu Stein.
Da sah er eines schönen Sommertages seinem einzigen Kind, der heranwachsenden Königstochter beim Yoga-Programm im Garten zu und von Stund an wurde er nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht: Mit der eigenen Tochter noch einmal von vorn anzufangen, mit der einzigen, die seiner frostigen Ehefrau das Wasser reichen konnte. Er umwarb sie, schmeichelte ihr, machte ihr Geschenke und liebkoste sie bei zahlreichen Gelegenheiten. Er kaufte ihr wunderschöne Kleider, die sie sich selbst ausgesucht hatte: eines aus leichter Baumwolle so goldgelb wie Sonnenblumen, eines aus mondsilbrig glänzendem, sanft fließenden Satin und ein enganliegendes, dunkelblaues Etuikleid für winterliche, festliche Anlässe, durch und durch mit bunt glitzerndem Lurex durchzogen wie ein funkelnder Sternenhimmel. Die Königstochter, zunächst durchaus nicht befremdet sondern eher hocherfreut über die besondere Zuwendung durch den Vater fühlte sich mit der Zeit immer unwohler, spürte sie doch, dass da etwas nicht stimmte und so stahl sie sich davon, nicht in einer einzigen Nacht, sondern durch beständiges Fernbleiben. Sie suchte Zuflucht in der Kirchengemeinde, d.h., zuerst hatte sie täglich so lange wie möglich im Wald herumgelungert, aber dann hatte der Pfarrer sie kurz nach der Konfirmation angesprochen, ob sie nicht Mitarbeiterin werden wollte und hier sah sie ihre Chance, den Greifarmen des entfesselten Vaters auch in der kalten Jahreszeit zu entkommen. Um ihre Schönheit zu verbergen, legte sie sich eine Sammlung unkombinierbarer Kleidungsstücke zu, die sie so unmöglich aussehen ließen, dass man sie in der Kirchengemeinde nur noch „Allerleirauh“ nannte, wie die Königstochter im Märchen, die einen Mantel aus hunderten verschiedenen Tierfellen trug.
Die Kantorin nahm sie unter ihre Fittiche, sie hatte so eine fürsorgliche Ader, vielleicht spielten dabei auch dunklere Motive eine Rolle, aber diejenigen, die das dachten, behielten es lieber für sich, man wusste ja nichts, nicht einmal was das für eine seltsame Ahnung war, die man da spürte.
Allerleirauh hatte längst ihren Liebsten erwählt. Als nun das gemeindliche Osterfrühstück nahte und die Kantorin sich beklagte, dass sie immer dieses englische Teebrot backen müsse, das der Pfarrer so gern esse, bot Allerleirauh sich an, ihr diese Arbeit abzunehmen. Sie ließ sich das Rezept geben und die Kantorin wies sie an, sich unbedingt akribisch daran zu halten, sonst sei der Pfarrer am Ende beleidigt, dass sie ihm diesmal nicht sein Brot gebacken hatte. Eigentlich befürchtete die Kantorin nur, es könne besser schmecken als das ihre und dem Pfarrer könne auffallen, dass er diese Köstlichkeit einer anderen und vor allem reizvollerin Bäckerin zu verdanken hatte.
Allerleirauh hielt sich an das Rezept, zumindest fast. Sie nahm nur Buttermilch anstelle von Milch, das machte das Brot saftiger. Sie zog das leichte, sonnengelbe Baumwollkleid an, das ihre schmale Taille betonte und ihre schlanken Knie umspielte. Auf dem Weg zur Kirche schlug sie das frische Brot in das Geschirrtuch mit dem Spinnrad ein und dem Pfarrer schmeckte es diesmal außerordentlich gut. Später, als er gemeinsam mit dem Mädchen in der Küche stand und die Teller abtrocknete, erklärte er: „Das Brot hat diesmal viel saftiger geschmeckt als sonst. Ich muss die Kantorin doch einmal fragen, was sie an dem Rezept verändert hat.“ Das Mädchen verriet nichts und freute sich heimlich. Am meisten freute sie sich jedoch, dass der Pfarrer sie die ganze Zeit wohlwollend zur Kenntnis nahm und bevor sie nach Hause ging, sagte er: „Dein sonnengelbes Kleid, das strahlt ja wie der Frühling!“
Als sie nach dem Geschirrtuch mit dem Spinnrad griff, schien der Pfarrer plötzlich zu begreifen, wer das Brot gebacken hatte, sagte aber nichts dazu.

Später stellte die Kantorin sie zur Rede: „Ich hatte Dir doch gesagt, du sollst es genauso backen, wie es im Rezept steht. Was hast du da hinein getan?“
„Nichts anderes.“, log das Mädchen. „Vielleicht lag es am Backofen.“
„Schon möglich.“ erwiderte die Kantorin. „Beim Sommerfest backe ich es wieder selbst.“

Das Sommerfest kam, doch die Kantorin hatte wieder keine Zeit zum Backen. Ihr Keller war bei einem Wolkenbruch voller Wasser gelaufen und so bat sie Allerleirauh zum zweiten Mal, das Teebrot zu backen und wenn es in ihrem Backofen saftiger würde, dann sei das ja keine schlechte Sache.
Diesmal ersetzte das Mädchen nicht nur die Milch durch Buttermilch sondern knetete Butter unter das Mehl, bevor sie den Teig ansetzte. Für das Sommerfest wählte sie das silbergraue, weich fließende Satinkleid, das ihre Haut streichelte und ihre Sinnlichkeit betonte. Das Brot wickelte sie diesmal in das Leinentuch mit der Haspel-Applikation. Beim Händeschütteln nach dem Gottesdienst glitten die Blicke des Pfarrers über ihren ganzen Körper. Als er sich später etwas Brot vom Buffet holte und es kostete, staunte er: „Das ist nicht nur wieder so saftig wie beim letzten Mal, das schmeckt auch viel aromatischer. Hat die Kantorin ein anderes Mehl verwendet oder hat am Ende jemand Anderes dieses köstliche Brot gebacken?“
Es entging ihm nicht, dass es wieder Allerleirauh war, die das Tuch an sich nahm, in das das Brot eingeschlagen gewesen war.
Am Montag in der Chorprobe nahm die Kantorin sich Allerleirauh zur Brust: „Diesmal hast Du ganz bestimmt etwas Anderes hinein getan. Der Herr Pfarrer schöpft schon Verdacht.“
„Nein“, log das Mädchen. „Vielleicht lag es an der hohen Luftfeuchtigkeit.“
Die Kantorin gab sich zufrieden und erklärte: „Zur Weihnachtsfeier backe ich es jedenfalls wieder.“

Als die Adventszeit zu Ende ging und die Weihnachtsfeier näher kam, erwischte die Kantorin ein hartnäckiger Magen-Darm-Infekt. Und so buk Allerleirauh zum dritten Mal das köstliche Teebrot. Diesmal gab sie neben Buttermilch und Butter auch ein wenig Zucker hinzu, mit der Süße wollte sie sich in sein Herz stehlen. Das fertige Brot schlug sie ein in das Leinentuch mit dem Ring, der ihre Initialen umrahmte. Sie trug das dunkelblaue Etuikleid, dessen Lurexfäden so glitzerten wie ein funkelnder Sternenhimmel. Das passte zum festlichen Anlass und ganz besonders zu Weihnachten.
Der Pfarrer lobte das Brot in höchsten Tönen, diese Süße, sei ihm nie zuvor aufgefallen. Und er saß den ganzen Abend neben ihr, ihre Beine berührten sich unter dem Tisch und sie neckten sich und scherzten miteinander, so dass die Wangen des Mädchen zu glühen begannen und der Pfarrer seine helle Freude daran hatte.
Das Brot wurde diesmal nicht alle, zu viel köstliches Gebäck stand auf der Tafel und als es ans Aufräumen ging, bemerkte der Pfarrer: „Das Tuch, in dem das Brot eingewickelt ist, trägt ja Deine Initialen, Alexis!“
„Das ist ja auch mein Tuch.“, erwiderte Allerleirauh.
„Dann hast Du wohl auch dieses köstliche Brot diesmal gebacken?“
„Ja.“, antwortete das Mädchen. „Schon zum dritten Mal.“
„Wir sollten es unbedingt aufessen, bevor es trocken wird, dafür ist es zu schade. Was hältst du davon, es mal in Verbindung mit Rotwein zu probieren?“
„Wir haben hier keinen Rotwein.“
„Ich habe welchen im Keller. Komm, ich lad' dich ein.“
Und die Königstochter schwebte wie auf Wolken ins Pfarrhaus, die Pfarrersgattin war mit den Kindern zu ihrer kranken Mutter gereist und so kam es, wie es kommen musste: erst Brot und Wein und danach das Blutopfer, er schrie und sie weinte und der Fleck auf dem weißen Laken war riesig und sie konnte sich gar nicht erklären, was da gerade passiert war und warum es gerade ihr passiert war.
„Hör zu, Alexis.“, sagte er, als er wieder zu Atem kam. „Das, was hier gerade mit uns beiden geschehen ist, das war zwar wunderschön, aber davon darf keiner erfahren, wirklich niemand, sonst darf ich nie wieder als Pfarrer arbeiten. Das verstehst du doch, oder?“
Alexis sprach nicht mehr. Sie verstummte wie Allerleirauh, nachdem sie vom Vater geflohen war. Und der Pfarrer bekam es mit der Angst zu tun. Früher oder später würde jemandem auffallen, wie verstört das Mädchen war. Früher oder später würde irgendein Gesprächstherapeut die Wahrheit aus ihr herausholen und dann wäre sein Leben zu Ende. Wozu dieses Opfer? Das Mädchen war nicht stark genug gewesen, das tat ihm leid, aber das war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie würde es in diesem Leben ohnehin nicht mehr schaffen. Aber er, er hatte noch so viel vor...
Allerleirauhs Leben endete im Wald, dort wo der Pfarrer sie einst aufgelesen hatte. Er ging zur Polizei, nachdem er die vor zwölf Stunden Verstorbene vom Ast eines Baumes herabhängend gefunden hatte, zufällig beim allmorgendlichen Spaziergang. Für die Todeszeit hatte er ein Alibi: Die Kantorin war bei ihm gewesen, um das Zusammenspiel von Teebrot und Rotwein zu erproben.

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Freitag, 8. Juni 2018
Schöpfungswahn - abgeschlossener Kurzkrimi zum Gruseln
Der Sommer macht den Kopf leer. Es könnte daran liegen, dass die sengende Sonne das Gehirn zu einer vertrockneten Rosine schrumpfen lässt. Das kann man sich vorstellen, aber es ist natürlich Unsinn.
Vielleicht ist es auch die Betriebsamkeit, alles unbedingt unterbringen zu wollen, was nur bei schönem Wetter funktioniert.
Oder es ist der Anblick üppig wuchernden Grüns, das uns hypnotisiert, beruhigt und in tiefste Kontemplation sinken lässt.
Das Bescheinen des Kopfes mit UV-Strahlung regt das Lustzentrum an. Wir werden beherrscht von unseren Trieben, werden innerlich wie Tiere und geben nur noch vor, zu denken und überlegt zu handeln.
Die Wärme macht uns schläfrig und Konzentration wird zur Folter.
Was tun mit so einem leeren Kopf?
Manche kübeln ihn voll, das macht die lauen Sommerabende noch entspannter. Andere legen ihn auf die Liege und überlassen ihn sich selbst.

Nur ich, ich hecke üble Ränke aus und schmiede finstere Pläne; denn sie sollen nicht länger davonkommen, die so vielen von uns so viele Sommer gestohlen haben, die entspannte Winter mit Anspannung durchsetzt, was wir säten geraubt und unsere Ernte vergiftet haben; von unseren Seelen ganz zu schweigen.
Eine ganze Dekade hat mich die Recherche gekostet; ich wollte keinen Täter entkommen und keinen Unschuldigen büßen lassen. Am Sonntag wird es beginnen.

Am Sonntag schied Gott Himmel von Erde und Tag von Nacht und ich sprühte die Wahrheit über Beckers Bestechlichkeit auf den Kirchvorplatz, während er auf der Kanzel stand. Ein Hashtag reichte. Genug Leute besuchten die Seite, die alle Machenschaften offenlegte, dazu sein Versagen als Vorsitzender. Er muss es auch gelesen haben, höchstpersönlich. Er richtete sich selbst, noch am gleichen Tag.
Und ich sah an, was ich gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

Am Montag schuf Gott die leuchtenden Himmelskörper und ich setzte weitere Akzente, brachte noch mehr ans helle Licht, sodass gegen Beckers Marionette, die als Bereichsleitung weniger Leitung und mehr dirigistischen Terror praktiziert hatte, ein Verfahren wegen Vorteilsnahme eingeleitet wurde. Dem Ehegatten den Auftrag für die IT-Betreuung zuzuschustern und das auch noch zu Wucherpreisen, das brach ihr das Genick.
Und ich sah an, was ich gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.

Am Dienstag schied Gott das Wasser vom Land und ich sorgte dafür, dass Herr Fuchs auf dem Trockenen saß. Als Presbyter für Bauangelegenheiten hatte er so viel Kohle in den Sand gesetzt, dass es für die Stelle meiner Kollegin schließlich nicht mehr reichte. Und nachdem er alles vor die Wand gefahren hatte, hatte er sich schlicht verabschiedet, war ihm dann wohl doch zu viel Verantwortung, schließlich handelte es sich ja um ein Ehrenamt. Es dauerte ein paar Tage bis er verdurstet war, aber es war klar, dass er aus der zugemauerten Garage nicht mehr heraus kam.
Und ich sah an, was ich gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag.

Am Mittwoch ließ Gott das Grün sprießen und ich nutzte die vielfältigen Pflanzen der Schöpfung, um dem neuen Chef, der nach dem Trägerwechsel unsere Löhne drücken wollte und der schon in der Vergangenheit liebe Kollegen raus gekegelt hatte, einen Cocktail zu verpassen, der das Herunterfahren all seiner Systeme erzwang. Man schob es auf seine berufliche Anspannung oder schlicht auf die Unzuverlässigkeit der menschlichen Vitalfunktionen.
Und ich sah an, was ich gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.

Am Donnerstag füllte der Herr das Meer mit Fischen und den Himmel mit Vögeln und ich verließ kurz mein Biotop und begab mich zu den Vögeln der höheren Ebene. Es gab auch Mitarbeitende des Jugendamtes, die auf der Seite von Kollegen standen. Brinker war hingegen weniger solidarisch und nur um die Durchsetzung seiner Konzepte bemüht; teils aus Sturheit, teils aus Profilierungs-Willen. Den Vogel schoss ich ab, damit er die Fische füttern konnte. An seinem liebsten Anglerteich wurde er von einem Stein getroffen und ging vornüber.
Und ich sah an, was ich gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.

Am Freitag erschuf Gott die Säugetiere und Reptilien und schließlich den Menschen. Bödeker, die schlimmste Schlange von allen – wenn sie sich auch als Mensch ausgab – der Herr über die Zahlen mit seinem aristokratischen Gebaren, der war nun selbst einem Reptil zum Opfer gefallen. Wie schnell die aus so einer Zoohandlung ausbrechen können, glaubt man gar nicht.
Und ich sah an, was ich gemacht hatte und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.

Am siebten Tag aber, am Samstag, da tat ich es ebenfalls Gott gleich und ruhte aus von meinem Tun, erfreute mich an der ausgebrachten Saat und sah zuversichtlich der Ernte entgegen. Nun war auch mein Kopf sommerlich leer, ich legte die Beine hoch und ließ mein Lustzentrum von der Sonne bescheinen. Und wenn ich nicht gestorben bin, dann morde ich noch morgen.

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Freitag, 25. Mai 2018
Kopftuchmänner, Messermädchen
„Man sieht sich immer zweimal im Leben.“, hatte Püppi gesagt.
„Schön wär's.“, hatte Keule gedacht. Ja, wenn es nur zweimal gewesen wäre, das wäre zwar schon zweimal zu viel gewesen, aber mehr eben auch nicht. Aber Püppi und Keule waren sich unzählige Male begegnet.

Schon in der Grundschule waren ihre richtigen Namen bald Geschichte gewesen. Die verwöhnte Püppi mit dem trotzigen Schmollmund, dem seidigen blonden Haar und den riesigen blauen Augen wickelte mit ihrer Niedlichkeit jeden Erwachsenen um den kleinen Finger, während die grobschlächtige Keule zwar über ungewöhnliche Kräfte verfügte, aber mit ihrem plumpen, schwerfälligen Körper, dem Bratpfannengesicht und dem strohigen, aschblonden Haar bestenfalls belächelt wurde; mit etwas anderem als Unkompliziertheit, Natürlichkeit und Belastbarkeit konnte sie keine Sympathiepunkte einheimsen.
Immer hatte Püppi die Spielregeln zu ihren Gunsten gebeugt, schwache Kinder manipuliert und sich von allem das Beste gesichert. Ging das mal daneben, war ihr meistens etwas eingefallen, das sie als Mitleidskarte hatte ausspielen können.

Wer nun meinte, dieses Kind sei an Durchtriebenheit nicht zu toppen, der hatte weit gefehlt, denn mit dem Einschießen der Östrogene wurde aus dem manipulativen Schmollmund-Quengelchen eine skrupellose Intrigantin. In der Schule gab sie abgeschriebene Hausaufgaben als ihr höchst selbst verfasstes geistiges Eigentum aus und bezichtigte die eigentlich Urheberin des Plagiats. Sorgfältig wählte sie ihre Gefolgsmädchen aus, solche, die nur einen schwachen Status in der Gruppe hatten und Püppi für ihren wachen Geist und ihre makellose Figur bewunderten. Die halfen ihr dann, die von ihr ausgewählten Opfer nach allen Regeln der Kunst in die Verzweiflung zu treiben. Die Lehrkräfte merkten nichts, genauso wenig wie der Jugendwart auf der Kirchenfreizeit. Die Evangelische Jugend, das war eigentlich Keules Revier gewesen, Püppi hatte sich mit den Lackaffen der Jungen Liberalen rumgetrieben, Cocktails in stylischen Bars geschlürft, in angesagten Clubs abgehangen, Ausflüge in Freizeitparks, Surfkurse und Inliner-Touren unternommen.
Keule dagegen war bei TEN SING eingestiegen, hatte Theater gespielt, tolle Soli gesungen und hatte in der Konfi-Arbeit mitgemischt. Aber der Gemeindepädagoge war wohl gerade mächtig auf Testosteron gewesen, als Püppi ihm mit ihren tränenverhangenen Kulleraugen die Hucke vollgelogen hatte, sodass in seinem Kleinhirn sämtliche Verbindungen zwischen Püppi und der Wahrscheinlichkeit einer Falschaussage außer Betrieb waren. Und so hatte am Ende über Keule das Damokles-Schwert einer vorzeitigen Heimreise auf eigene Kosten gehangen, obwohl doch Püppi nachts die Italiener in den Bungalow gelassen hatte – damals stand sie noch auf Jungs - , aber Keule mit ihren Marzipanarmen, ihrer unreinen Haut und ihren strohigen Haaren hatte den männlichen Freizeitleiter nicht von ihrer Unschuld überzeugen können.

Nach dem Abitur hatten sie sich endlich aus den Augen verloren. Keule hatte nach einer Tischlerlehre ein Ingenieur-Studium der Holztechnik erfolgreich absolviert, hatte seit einigen Jahren einen richtig guten Job, einen liebenswerten Mann und die nächste Generation unter ihrer stahlharten Bauchdecke.
Püppi hatte VWL und BWL studiert, sogar promoviert, sich in der freien Wirtschaft etabliert und weiter ihre Fühler in die Politik ausgestreckt. Aber die Liberalen waren ihr irgendwann zu weichgespült gewesen und so hatte sie sich den Rechtspopulisten angeschlossen. Sie warnte vor Kopftuchmädchen und Messermännern. Als wenn die ihr etwas hätten anhaben können.
„solltest dich lieber vor Kopftuchmännern und Messermädchen grausen.“, hatte Keule grinsend gefrotzelt und den Kanal gewechselt. Als hätte sie gewusst, dass Püppi längst dreckige Deals mit Saudis laufen hatte, in dem festen Glauben, die Wüstensöhne mit den Tischdecken auf dem Kopf vollkommen unter Kontrolle zu haben. Die zogen sie aber gerade über den Tisch, ohne dass Püppi es ahnte, hatten persönliche Termine vorgeschützt, um einen Tag Pause gebeten, sodass sie die Zeit für eine kleine Bergwanderung genutzt hatte. Auch wenn dieses Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand – in den Medien war sie mittlerweile omnipräsent. Wenn Keule ihre Fernsehauftritte sah, zappte sie die widerliche Püppi konsequent weg.

Aber jetzt stand sie da vor ohr und war nicht wegzuzappen. Bei einer einsamen Bergwanderung hatte sie am allerwenigsten damit gerechnet, Püppi zu begegnen. Beim Jahrgangsstufen-Treffen, da hatte sie sich gewappnet, aber dann war Püppi gar nicht da gewesen, und sie hatten in fröhlicher Runde zu fortgeschrittener Stunde rekapituliert, welche alten Anekdoten sie der Presse stecken könnten, um Püppi als öffentliche Person ein für alle Mal zu erledigen. Keule hatte die besten Geschichten gekannt. Und jetzt stand die Nazischlampe direkt vor ihr und irgendwie wurde Keule das Gefühl nicht los, dass jemand Püppi vom Jahrgangsstufen-Treffen berichtet hatte. Sie hatte so ein gefährliches Glitzern in den kalten, blauen Augen und beide standen bedenklich nach am Abgrund, keine Zeugen und die hohe Wahrscheinlichkeit eines tragischen Unfalls aufgrund eines fatalen Missgeschicks. Skrupellos war Püppi schon lange. Aber Keules Überlebenswille war ebenfalls nicht zu verachten.
„Ja“, sagte sie, „man sieht sich immer zweimal im Leben. Am Anfang und am Ende.“

Sie musste sie nur ein wenig mit dem Fahrtenmesser kitzeln, nicht einmal anritzen, damit sie ins Straucheln geriet. Püppi war zeitlebens nicht nur schlagfertig im Umgang mit Worten gewesen, auch ihre körperlichen Reaktionen waren immer prompt und präzise erfolgt.
Aber am Ende war die schwerfällige Keule dann doch flinker als die wache, wendige Püppi. Wer hätte das gedacht. Hätte sie sich mal in Acht genommen vor Kopftuchmännern, Messermädchen.

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Freitag, 18. Mai 2018
Entmündigung - Ausschnitt aus meinem aktuellen Buchkrimi
Schröttinghausener Straße – Donnerstag, 15. September 2016
Als Luise an diesem Morgen nach dem Aufwachen in ihre Hausschuhe steigen wollte, war sie mehr als überrascht. Anstelle ihrer eleganten Samt-Pantoffeln mit Goldlitze und Keilabsatz standen dort unförmige, flache Velour-Puschen, so wie Martina sie trug, nur in dunkelbraun, eine Farbe, die Luise in ihrem ganzen Leben noch nicht getragen hatte. Die Pantoffeln trug sie nicht nur, weil sie sich an ihren kleinen, zierlichen Füßen so gut machte, sondern weil sich durch das jahrelange Tragen hoher Absätze ihre Achilles-Sehnen verkürzt hatten, so dass sie in flachen Schuhen nicht mehr laufen konnte.
„Was sind das jetzt wieder für Grappen?“, beklagte sie sich. Barfuß auf den Ballen balancierend machte sie sich auf die Suche nach ihren Pantoffeln; die Acryl-Ungetüme ließ sie demonstrativ stehen.
„Was spalkerst du hier im Nachthemd rum?“, fuhr Martina sie plötzlich an. „Und dann auch noch barfuß! Zieh dir was anne Füße!“
„Das würde ich ja.“, entgegnete Luise kalt. „Aber ich finde meine Pantoletten nicht.“
„Die habe ich ja auch weggeschmissen.“
„Was?“, rief Luise entrüstet. „Wieso das denn?“
„Weil du nicht mehr so sicher auf den Beinen bist und leicht damit hinfällst. Wenn du dir erst mal den Oberschenkelhals brichst, kommst du bestimmt nicht wieder auf die Beine.“
„Aber ich kann in so flachen Puschen nicht laufen!“, klagte Luise.
„Das lernst du schon noch.“, versuchte Martina sie zu beruhigen.
„Aber Doktor Voss sagt auch, dass das von meinen kurzen Sehnen kommt und dass man das nicht mehr ändern kann.“
„Doktor Voss hat keine Ahnung.“
„Ich bin aber ganz zufrieden mit dem.“, entgegnete Luise.
„Das kann ja sein“, erwiderte Martina, „aber der krepelt da in seiner Landarzt-Praxis rum und tut immer so, als wenn er sich mit allem auskennt. Ich habe meinen Orthopäden gefragt und der hat gesagt, wenn man verkürzte Sehnen trainiert, dehnen die sich auch wieder. Die Puschen sind schön warm und bequem. In ein paar Tagen tut dir auch nichts mehr weh an den Hacken.“
„Aber ich mag die nicht leiden!“, protestierte Luise den Tränen nahe. „Ich kann doch nicht mit so Friedhofserde-braunen Klumpen an den Füßen rumlaufen. Das sieht doch zum Rock oder zum Kleid überhaupt nicht aus!“
„Dann ziehst du eben ab jetzt zu Hause Schlupfhosen an.“, erklärte Martina entschieden. „Davon hab' ich dir nämlich auch ein paar gekauft: eine in rostrot, eine in flaschengrün und eine in dunkelbraun. Dazu passen die Puschen perfekt. Und ich muss dich nicht mehr jeden Morgen in die Strumpfhose und die Miederhose zwängen. Die Schlupfhosen ziehst du einfach über, die sind bequem, schön warm und pflegeleicht. Und darum sehen die auch immer gut aus, denn die knittern nicht und sind auch nicht so empfindlich, sind ruckzuck gewaschen und muss man auch nicht bügeln. So und jetzt Ende der Durchsage. Ich hab' heute noch einiges zu tun.“
Luise war fassungslos. Sie war ja zu einigen Kompromissen bereit, aber das war nun wirklich der Gipfel der Entmündigung. Weil ihr nichts anderes übrig blieb, schlüpfte sie in die neue, von ihrer Tochter schon bereit gelegte Kleidung, nahm das Frühstück ein, das sie ihr lieblos auf den Tisch knallte, wartete, bis Martina sich längere Zeit außer Hörweite befand und rief ihre Freundin Hildegard Bierhoff an. Nachdem sie sich zu erkennen gegeben hatte, fragte sie: „Sag mal, Hildegard, hast du wohl Zeit, heute mit mir nach Werther zu fahren?“
„Das ginge.“, erwiderte die Freundin. „Musst du zum Arzt?“
„Nein, ich brauche neue Pantoletten.“
„Hat Martina denn keine Zeit?“
„Nein, die hat heute so viel vor den Füßen, und sie hatte mir auch neue mitgebracht, aber in denen kann ich nicht laufen. Jetzt will ich sie nicht ärgern, weil sie nicht das Richtige gekauft hat.“
„Ach so. Ja soll ich jetzt gleich kommen oder lieber heute Nachmittag?“
„Wann du Zeit hast.“
„Dann bin ich in fünf Minuten da.“
Luise ging ins Bad, kämmte ihre Dauerwelle, legte etwas Parfum auf und stieg dann in die cremefarbenen Pumps, die die dunkelbraune Hose direkt aufwerteten. Immerhin hatte das Kleidungsstück eine Bügelfalte und als sie eine helle Kostümjacke dazu anzog, konnte sie sich durchaus sehen lassen.
Als sie Hildegard die Tür öffnete, blickte die irritiert an ihr herunter. „Seit wann ziehst du Hosen an?“, fragte sie verwirrt.
„Hat Martina mir mitgebracht.“, erwiderte Luise mit einer Selbstverständlichkeit, die keine weiteren Nachfragen duldete. Luise steckte ihren Haustürschlüssel in die Handtasche, schloss die Tür und stieg zu Hildegard ins Auto. Dann fragte sie ihre Freundin: „Du lässt dir den Führerschein aber auch noch nicht abschwatzen, oder?“
„Ach was. Das ist so praktisch, dass ich noch überall alleine hinkomme. Nach Bielefeld fahre ich natürlich nicht mehr alleine rein, das geht mir da alles zu schnell, aber hier in Werther oder zum Doktor nach Dornberg oder nach Spenge oder Jöllenbeck, das geht noch ganz gut.“
„Ja ja. Man muss selbständig bleiben.“, erklärte Luise. „Sonst motten die jungen Leute einen ein.“
Hildegard lachte herzlich. Die beiden Damen konnten direkt vor dem Schuhgeschäft parken und Luise wurde schnell fündig: Absatz und Obermaterial waren von einem hellen Cremeton, die Verzierungen in zartrosa und hellgrün erinnerten an englische Rosen, abgesetzt mit feinster Goldlitze. Als sie bezahlen wollte, stellte sie fest, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hatte, das war ihr entsetzlich peinlich, doch Hildegard half ihr aus der Verlegenheit.
Als sie wieder in der Schröttinghausener Straße an gekommen waren, bat Luise ihre Freundin ins Haus: „Los, jetzt trink wenigstens 'ne Tasse Kaffee mit mir und das Geld muss ich dir ja auch noch zurückgeben.“
„Na gut.“, willigte Hildegard ein. „Aber höchstens eine halbe Stunde. Wir haben heute Abend im Gasthof 'ne Gesellschaft.“
„Musst du da denn immer noch mitmischen? Sind doch schon zwei Generationen da, die anpacken können.“, fand Luise.
„Nee, da kann ich mich nicht raushalten.“, erklärte Hildegard. „Du weißt doch wie die jungen Leute sind. Wenn du erst aufhörst, dich zu bewegen und Staub ansetzt, dann motten die dich ein.“

Aus: "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt" von Cristina Fabry

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