Freitag, 18. Mai 2018
Entmündigung - Ausschnitt aus meinem aktuellen Buchkrimi
Schröttinghausener Straße – Donnerstag, 15. September 2016
Als Luise an diesem Morgen nach dem Aufwachen in ihre Hausschuhe steigen wollte, war sie mehr als überrascht. Anstelle ihrer eleganten Samt-Pantoffeln mit Goldlitze und Keilabsatz standen dort unförmige, flache Velour-Puschen, so wie Martina sie trug, nur in dunkelbraun, eine Farbe, die Luise in ihrem ganzen Leben noch nicht getragen hatte. Die Pantoffeln trug sie nicht nur, weil sie sich an ihren kleinen, zierlichen Füßen so gut machte, sondern weil sich durch das jahrelange Tragen hoher Absätze ihre Achilles-Sehnen verkürzt hatten, so dass sie in flachen Schuhen nicht mehr laufen konnte.
„Was sind das jetzt wieder für Grappen?“, beklagte sie sich. Barfuß auf den Ballen balancierend machte sie sich auf die Suche nach ihren Pantoffeln; die Acryl-Ungetüme ließ sie demonstrativ stehen.
„Was spalkerst du hier im Nachthemd rum?“, fuhr Martina sie plötzlich an. „Und dann auch noch barfuß! Zieh dir was anne Füße!“
„Das würde ich ja.“, entgegnete Luise kalt. „Aber ich finde meine Pantoletten nicht.“
„Die habe ich ja auch weggeschmissen.“
„Was?“, rief Luise entrüstet. „Wieso das denn?“
„Weil du nicht mehr so sicher auf den Beinen bist und leicht damit hinfällst. Wenn du dir erst mal den Oberschenkelhals brichst, kommst du bestimmt nicht wieder auf die Beine.“
„Aber ich kann in so flachen Puschen nicht laufen!“, klagte Luise.
„Das lernst du schon noch.“, versuchte Martina sie zu beruhigen.
„Aber Doktor Voss sagt auch, dass das von meinen kurzen Sehnen kommt und dass man das nicht mehr ändern kann.“
„Doktor Voss hat keine Ahnung.“
„Ich bin aber ganz zufrieden mit dem.“, entgegnete Luise.
„Das kann ja sein“, erwiderte Martina, „aber der krepelt da in seiner Landarzt-Praxis rum und tut immer so, als wenn er sich mit allem auskennt. Ich habe meinen Orthopäden gefragt und der hat gesagt, wenn man verkürzte Sehnen trainiert, dehnen die sich auch wieder. Die Puschen sind schön warm und bequem. In ein paar Tagen tut dir auch nichts mehr weh an den Hacken.“
„Aber ich mag die nicht leiden!“, protestierte Luise den Tränen nahe. „Ich kann doch nicht mit so Friedhofserde-braunen Klumpen an den Füßen rumlaufen. Das sieht doch zum Rock oder zum Kleid überhaupt nicht aus!“
„Dann ziehst du eben ab jetzt zu Hause Schlupfhosen an.“, erklärte Martina entschieden. „Davon hab' ich dir nämlich auch ein paar gekauft: eine in rostrot, eine in flaschengrün und eine in dunkelbraun. Dazu passen die Puschen perfekt. Und ich muss dich nicht mehr jeden Morgen in die Strumpfhose und die Miederhose zwängen. Die Schlupfhosen ziehst du einfach über, die sind bequem, schön warm und pflegeleicht. Und darum sehen die auch immer gut aus, denn die knittern nicht und sind auch nicht so empfindlich, sind ruckzuck gewaschen und muss man auch nicht bügeln. So und jetzt Ende der Durchsage. Ich hab' heute noch einiges zu tun.“
Luise war fassungslos. Sie war ja zu einigen Kompromissen bereit, aber das war nun wirklich der Gipfel der Entmündigung. Weil ihr nichts anderes übrig blieb, schlüpfte sie in die neue, von ihrer Tochter schon bereit gelegte Kleidung, nahm das Frühstück ein, das sie ihr lieblos auf den Tisch knallte, wartete, bis Martina sich längere Zeit außer Hörweite befand und rief ihre Freundin Hildegard Bierhoff an. Nachdem sie sich zu erkennen gegeben hatte, fragte sie: „Sag mal, Hildegard, hast du wohl Zeit, heute mit mir nach Werther zu fahren?“
„Das ginge.“, erwiderte die Freundin. „Musst du zum Arzt?“
„Nein, ich brauche neue Pantoletten.“
„Hat Martina denn keine Zeit?“
„Nein, die hat heute so viel vor den Füßen, und sie hatte mir auch neue mitgebracht, aber in denen kann ich nicht laufen. Jetzt will ich sie nicht ärgern, weil sie nicht das Richtige gekauft hat.“
„Ach so. Ja soll ich jetzt gleich kommen oder lieber heute Nachmittag?“
„Wann du Zeit hast.“
„Dann bin ich in fünf Minuten da.“
Luise ging ins Bad, kämmte ihre Dauerwelle, legte etwas Parfum auf und stieg dann in die cremefarbenen Pumps, die die dunkelbraune Hose direkt aufwerteten. Immerhin hatte das Kleidungsstück eine Bügelfalte und als sie eine helle Kostümjacke dazu anzog, konnte sie sich durchaus sehen lassen.
Als sie Hildegard die Tür öffnete, blickte die irritiert an ihr herunter. „Seit wann ziehst du Hosen an?“, fragte sie verwirrt.
„Hat Martina mir mitgebracht.“, erwiderte Luise mit einer Selbstverständlichkeit, die keine weiteren Nachfragen duldete. Luise steckte ihren Haustürschlüssel in die Handtasche, schloss die Tür und stieg zu Hildegard ins Auto. Dann fragte sie ihre Freundin: „Du lässt dir den Führerschein aber auch noch nicht abschwatzen, oder?“
„Ach was. Das ist so praktisch, dass ich noch überall alleine hinkomme. Nach Bielefeld fahre ich natürlich nicht mehr alleine rein, das geht mir da alles zu schnell, aber hier in Werther oder zum Doktor nach Dornberg oder nach Spenge oder Jöllenbeck, das geht noch ganz gut.“
„Ja ja. Man muss selbständig bleiben.“, erklärte Luise. „Sonst motten die jungen Leute einen ein.“
Hildegard lachte herzlich. Die beiden Damen konnten direkt vor dem Schuhgeschäft parken und Luise wurde schnell fündig: Absatz und Obermaterial waren von einem hellen Cremeton, die Verzierungen in zartrosa und hellgrün erinnerten an englische Rosen, abgesetzt mit feinster Goldlitze. Als sie bezahlen wollte, stellte sie fest, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hatte, das war ihr entsetzlich peinlich, doch Hildegard half ihr aus der Verlegenheit.
Als sie wieder in der Schröttinghausener Straße an gekommen waren, bat Luise ihre Freundin ins Haus: „Los, jetzt trink wenigstens 'ne Tasse Kaffee mit mir und das Geld muss ich dir ja auch noch zurückgeben.“
„Na gut.“, willigte Hildegard ein. „Aber höchstens eine halbe Stunde. Wir haben heute Abend im Gasthof 'ne Gesellschaft.“
„Musst du da denn immer noch mitmischen? Sind doch schon zwei Generationen da, die anpacken können.“, fand Luise.
„Nee, da kann ich mich nicht raushalten.“, erklärte Hildegard. „Du weißt doch wie die jungen Leute sind. Wenn du erst aufhörst, dich zu bewegen und Staub ansetzt, dann motten die dich ein.“

Aus: "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt" von Cristina Fabry

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Bin mal gespannt ...
... wie`s weitergeht - wenn die Entmündigung schon mit Filzpuschen und Schlupfhosen angefangen hat ...

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Ein interessantes Thema...
...mit dem ich mich in letzter Zeit intensiv beschäftigt habe und worüber ich auch gerne schreiben würde, aber leider habe ich nicht das Talent wie du, so gekonnt über heikle Themen schreiben zu können, - obwohl mir einiges einfallen würde, woraus man einen Krimi machen könnte.

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Ganz lieben Dank
für das nette Kompliment!

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Gerne. :)

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