... newer stories
Freitag, 11. Mai 2018
Romina und Julian - abschlossener Dorfkrimi
c. fabry, 11:57h
Sie war aufgewachsen in Kapulen, eine Katholenkapulette, wie sie drüben in Monta sagten. Monta war seit jeher evangelisch, genaugenommen seit 1520, als die Reformation das Dreihundert-Seelen-Dorf erreichte. Doch bis nach Kapulen waren Luthers Thesen nicht gekommen. Damals hatten die Nachbardörfer in zwei verschiedenen Fürstentümern gelegen und so war Kapulen katholisch geblieben.
„Wir laufen hier nicht durcheinander.“, hatte Oma Inge immer gesagt und Romina hatte nie gefragt, warum. So war es eben. Sie hatte nie jemanden aus Monta kennengelernt, die waren eben anders. Wenn sie morgens im Schulbus dazu gestiegen waren, hatten sie immer etwas Beängstigendes an sich gehabt. Die Jungen waren rüpelhafter, die Mädchen aufgedonnerter als in Kapulen. Das lag wohl am Protestantismus, meinten die Alten. Die Jungen schoben es auf die bessere Anbindung an die Kreisstadt mit ihren Verlockungen – dort gab es eine Disco und auch zwei bis drei Kneipen, in denen sich überwiegend Jugendliche trafen.
Doch dann, mit siebzehn, war sie auf diese Sommerfreizeit vom Stadtjugendring gefahren. Die Hälfte kam direkt aus der Stadt, die andere Hälfte aus den umliegenden Dörfern. Romina war die Einzige aus Kapulen gewesen und Julian der Einzige aus Monta. Sie hatten beide begriffen, dass sie längst in einer Welt lebten, in der es keine Rolle mehr spielte, ob jemand evangelisch oder katholisch war, dass es auch in Ordnung war, Buddhist oder Muslim zu sein, ja dass es sogar ging überhaupt keine Religion zu haben. Und aus welchem Dorf man stammte, war schon einmal gar nicht von Interesse.
Umso größer war der Schock gewesen, als sie mit ihrer neu erworbenen, freiheitlich-toleranten Gesinnung in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt waren und gemerkt hatten, dass sie selbst sich zwar bewegt hatten, die Menschen in ihren Dörfern aber keineswegs.
Sie wollten trotzdem nicht mehr ohneeinander, hatten sich verabredet, verliebt und schließlich verlobt.
„Eine Katholen-Kapulette?“, hatte Julians Mutter gewettert. „Da kannst du ja gleich ins Kloster gehen. Die lässt dich nur im Nachthemd ran. Mit dem Finger haben die damals auf mich gezeigt, weil ich vor der Hochzeit schwanger war. Und erst recht auf Rethemeiers Gisela, wo angeblich keiner wusste, wer der Vater war. Aber als sie sich im Wald aufgehängt hat, da stand im Abschiedsbrief, dass einer von den verkommenen Jungs aus Kapulen sie beim Maifest abgefüllt und mehr vergewaltigt als verführt hatte. Den haben sie nie dafür drangekriegt. Konnte man angeblich nicht beweisen. Konnte einfach beichten gehen und weitermachen. In dem Dorf ist alles an Schlechtigkeit versammelt, was der Satan sich ausgedacht hat. Lass die Finger, von dem Drecksluder, sonst steckt sie dich noch an!“
„Warum ausgerechnet so ein Dreckskerl aus Monta?“, hatte Rominas Vater gebrüllt. „Ich verbiete dir, dich weiter mit dem rumzutreiben, das sind alles gottlose Assoziale. Die haben bei ihren Vatertagsausflügen unsere Felder verwüstet und einmal sogar in der Osternacht ein Schaf auf der Weide geschlachtet, mit dem Spaten! Ein hochträchtiges Muttertier. Das Lamm war natürlich auch hin. Und weil die eigenen Kerle nichts taugten, stiegen die Mädels aus Monta unseren Burschen hinterher und wenn es ihnen dann leidtat, dass sie sie ran gelassen hatten, erzählten sie überall herum, die hätten sie belästigt. Einmal sollte ein Bursche sogar ein Mädchen vergewaltigt haben. Für so einen bist du viel zu schade und der kommt mir auch nicht ins Haus!“
Als schließlich beide mit eingeschlagenen Schädeln am Flussufer lagen, kam niemand zur Besinnung. Die aus Monta sagten, da hätten die Katholen-Kapulen wohl einen Ehrenmord begangen. Und die aus Kapulen meinten, die rechthaberischen Evangelen würden sogar ihre eigenen Leute töten, um ihren Willen durchzusetzen. Der unfähige leitende Ermittler der Mordkommission hielt gemeinschaftlichen Freitod für erwiesen.
Sie wurden getrennt bestattet, Romina und Julian und zwischen den Friedhöfen kniete ihr künftiger Trauzeuge und weinte und betete und beschloss fortzugehen und in ein Dorf zu ziehen, in dem es zwei Kirchtürme gab, einen katholischen und einen evangelischen und wo der Katholik gleich neben der Protestantin wohnte und wo bei der Maifeier der Protestant mit der Katholikin tanzte, wo es ökumenische Gottesdienste und Trauungen gab und wo man das Verbindende suchte und das Trennende stehen ließ wie eine besondere Pflanze oder eine eigenartige Skulptur, die alle sahen, aber an der sich niemand störte.
„Wir laufen hier nicht durcheinander.“, hatte Oma Inge immer gesagt und Romina hatte nie gefragt, warum. So war es eben. Sie hatte nie jemanden aus Monta kennengelernt, die waren eben anders. Wenn sie morgens im Schulbus dazu gestiegen waren, hatten sie immer etwas Beängstigendes an sich gehabt. Die Jungen waren rüpelhafter, die Mädchen aufgedonnerter als in Kapulen. Das lag wohl am Protestantismus, meinten die Alten. Die Jungen schoben es auf die bessere Anbindung an die Kreisstadt mit ihren Verlockungen – dort gab es eine Disco und auch zwei bis drei Kneipen, in denen sich überwiegend Jugendliche trafen.
Doch dann, mit siebzehn, war sie auf diese Sommerfreizeit vom Stadtjugendring gefahren. Die Hälfte kam direkt aus der Stadt, die andere Hälfte aus den umliegenden Dörfern. Romina war die Einzige aus Kapulen gewesen und Julian der Einzige aus Monta. Sie hatten beide begriffen, dass sie längst in einer Welt lebten, in der es keine Rolle mehr spielte, ob jemand evangelisch oder katholisch war, dass es auch in Ordnung war, Buddhist oder Muslim zu sein, ja dass es sogar ging überhaupt keine Religion zu haben. Und aus welchem Dorf man stammte, war schon einmal gar nicht von Interesse.
Umso größer war der Schock gewesen, als sie mit ihrer neu erworbenen, freiheitlich-toleranten Gesinnung in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt waren und gemerkt hatten, dass sie selbst sich zwar bewegt hatten, die Menschen in ihren Dörfern aber keineswegs.
Sie wollten trotzdem nicht mehr ohneeinander, hatten sich verabredet, verliebt und schließlich verlobt.
„Eine Katholen-Kapulette?“, hatte Julians Mutter gewettert. „Da kannst du ja gleich ins Kloster gehen. Die lässt dich nur im Nachthemd ran. Mit dem Finger haben die damals auf mich gezeigt, weil ich vor der Hochzeit schwanger war. Und erst recht auf Rethemeiers Gisela, wo angeblich keiner wusste, wer der Vater war. Aber als sie sich im Wald aufgehängt hat, da stand im Abschiedsbrief, dass einer von den verkommenen Jungs aus Kapulen sie beim Maifest abgefüllt und mehr vergewaltigt als verführt hatte. Den haben sie nie dafür drangekriegt. Konnte man angeblich nicht beweisen. Konnte einfach beichten gehen und weitermachen. In dem Dorf ist alles an Schlechtigkeit versammelt, was der Satan sich ausgedacht hat. Lass die Finger, von dem Drecksluder, sonst steckt sie dich noch an!“
„Warum ausgerechnet so ein Dreckskerl aus Monta?“, hatte Rominas Vater gebrüllt. „Ich verbiete dir, dich weiter mit dem rumzutreiben, das sind alles gottlose Assoziale. Die haben bei ihren Vatertagsausflügen unsere Felder verwüstet und einmal sogar in der Osternacht ein Schaf auf der Weide geschlachtet, mit dem Spaten! Ein hochträchtiges Muttertier. Das Lamm war natürlich auch hin. Und weil die eigenen Kerle nichts taugten, stiegen die Mädels aus Monta unseren Burschen hinterher und wenn es ihnen dann leidtat, dass sie sie ran gelassen hatten, erzählten sie überall herum, die hätten sie belästigt. Einmal sollte ein Bursche sogar ein Mädchen vergewaltigt haben. Für so einen bist du viel zu schade und der kommt mir auch nicht ins Haus!“
Als schließlich beide mit eingeschlagenen Schädeln am Flussufer lagen, kam niemand zur Besinnung. Die aus Monta sagten, da hätten die Katholen-Kapulen wohl einen Ehrenmord begangen. Und die aus Kapulen meinten, die rechthaberischen Evangelen würden sogar ihre eigenen Leute töten, um ihren Willen durchzusetzen. Der unfähige leitende Ermittler der Mordkommission hielt gemeinschaftlichen Freitod für erwiesen.
Sie wurden getrennt bestattet, Romina und Julian und zwischen den Friedhöfen kniete ihr künftiger Trauzeuge und weinte und betete und beschloss fortzugehen und in ein Dorf zu ziehen, in dem es zwei Kirchtürme gab, einen katholischen und einen evangelischen und wo der Katholik gleich neben der Protestantin wohnte und wo bei der Maifeier der Protestant mit der Katholikin tanzte, wo es ökumenische Gottesdienste und Trauungen gab und wo man das Verbindende suchte und das Trennende stehen ließ wie eine besondere Pflanze oder eine eigenartige Skulptur, die alle sahen, aber an der sich niemand störte.
... link (5 Kommentare) ... comment
Freitag, 4. Mai 2018
Walpurgisnacht – ein kriminelles Märchen
c. fabry, 11:54h
Diesmal waren alle gekommen, da war kaum noch Platz auf dem Brocken und die geballten Kräfte hatten so viel Luftmassen aufgewirbelt, dass der Sturm auch noch in hunderten von Kilometern über das Land zog. Viele machten den Klimawandel dafür verantwortlich, die meisten nannten es einfach nur komisches Scheißwetter, ausgerechnet zum Tanz in den Mai mit wenig Hoffnung auf einen sonnigen, arbeitsfreien Tag mit Picknick-Qualitäten. Die Wenigsten spürten, dass hier geballter Zorn am Werk war.
Der Feiste Batzen hatte schon wieder eine Grenze überschritten, erst vor wenigen Tagen. Er tat das andauernd, aber diesmal war es mehr als nur die Fußspitze über die Linie zu mogeln, es war ein Riesenschritt gewesen, einer den man nicht mehr übersehen und darum auch nicht ignorieren konnte.
Nach und nach riss der Feiste Batzen die ganze Macht an sich. Zuerst hatte er sich beim Fürsten eingeschleimt, dann hatte er nach und nach einzelne Gefolgsleute beiseite genommen und mit durchtriebenen Einflüsterungen in sein Lager gezogen, bis er den Fürsten schließlich aus dem Land gejagt und seinen Platz eingenommen hatte.
„Jetzt arbeitet er daran, seine Dynastie zu errichten.“, mutmaßte Alrun.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Pandora.
„Er ist der Typ für so was. Stämmig, verfressen und immer dieses selbstzufriedene Grinsen auf dem feisten Gesicht.“
„Er wird nicht alt.“, sagte Dimitra und ließ ihren überlegenen Blick in die Ferne schweifen.
„Meinst du, wir sollen das in die Hand nehmen?“, fragte Isis.
„Dafür sorgt er schon selbst.“, widersprach Dimitra. „Zu viel Schweinefleisch, zu viel tierisches Fett, zu viel Alkohol.“
„Außerdem will er alle unter ein Todessymbol zwingen. So etwas tut man nicht ungestraft. Gaia wird ihn in seine Schranken weisen.“, sagte Frigga. „Ein Jammer, dass er sich schon fortgepflanzt hat.“
„So etwas lässt sich jederzeit rückgängig machen.“, bemerkte Isis süffisant.
„Das ist aber nicht unbedingt nötig.“, ermahnte Bhakti sie. „Es reicht, wenn die lebensbejahenden Kräfte dagegenhalten.“
„Ach ja?“, frotzelte Isis. „Und was sollen die tun? Alles mit blühenden Blumen dekorieren und schon ist der Feiste Batzen besiegt?“
„Man sollte ihn einfach öffentlich auslachen.“, hielt Hella dagegen. „Im Grunde hat er doch noch immer die Mehrheit gegen sich. Das muss den Bürgern bewusst gemacht werden.“
„Da bin ich mir nicht mehr so sicher.“, argwöhnte Alrun. „Da steckt mehr Widerwärtiges und Lebensverachtendes in der Menschheit, als wir alle glauben wollen. Und solche wie der Feiste Batzen holen das aus den Leuten heraus und dann ist es in der Welt und nur schwer wieder herauszubekommen, klebt wie Pech an allem.“
„Ja.“, pflichtete Fauna ihr bei. „Er muss weg und zwar schleunigst, bevor er noch mehr Schaden anrichtet und zuerst das ganze Land und schließlich die ganze Welt vergiftet. Die Zerstörer und die Schlichten hat er schon im Sack, als nächstes kommen die Unsicheren, da müssen wir ihm zuvorkommen.“
„Aber wie wollen wir das angehen?“, fragte Midgard.
„Das übernehme ich.“, säuselte Nixe grinsend.
Und an einem duftenden Tag im Monat Mai lockte sie ihn in die Falle. Als erstes verlor der Feiste Batzen seine Gesundheit, dann seine Ehre und schließlich sein Selbstvertrauen; am Ende sein Leben und von seinen Kindern wurde nie wieder gesprochen. Und Ostara, die Hüterin des Lebens riss die Male des Todes von den Wänden und malte Blumen auf.
Der Feiste Batzen hatte schon wieder eine Grenze überschritten, erst vor wenigen Tagen. Er tat das andauernd, aber diesmal war es mehr als nur die Fußspitze über die Linie zu mogeln, es war ein Riesenschritt gewesen, einer den man nicht mehr übersehen und darum auch nicht ignorieren konnte.
Nach und nach riss der Feiste Batzen die ganze Macht an sich. Zuerst hatte er sich beim Fürsten eingeschleimt, dann hatte er nach und nach einzelne Gefolgsleute beiseite genommen und mit durchtriebenen Einflüsterungen in sein Lager gezogen, bis er den Fürsten schließlich aus dem Land gejagt und seinen Platz eingenommen hatte.
„Jetzt arbeitet er daran, seine Dynastie zu errichten.“, mutmaßte Alrun.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Pandora.
„Er ist der Typ für so was. Stämmig, verfressen und immer dieses selbstzufriedene Grinsen auf dem feisten Gesicht.“
„Er wird nicht alt.“, sagte Dimitra und ließ ihren überlegenen Blick in die Ferne schweifen.
„Meinst du, wir sollen das in die Hand nehmen?“, fragte Isis.
„Dafür sorgt er schon selbst.“, widersprach Dimitra. „Zu viel Schweinefleisch, zu viel tierisches Fett, zu viel Alkohol.“
„Außerdem will er alle unter ein Todessymbol zwingen. So etwas tut man nicht ungestraft. Gaia wird ihn in seine Schranken weisen.“, sagte Frigga. „Ein Jammer, dass er sich schon fortgepflanzt hat.“
„So etwas lässt sich jederzeit rückgängig machen.“, bemerkte Isis süffisant.
„Das ist aber nicht unbedingt nötig.“, ermahnte Bhakti sie. „Es reicht, wenn die lebensbejahenden Kräfte dagegenhalten.“
„Ach ja?“, frotzelte Isis. „Und was sollen die tun? Alles mit blühenden Blumen dekorieren und schon ist der Feiste Batzen besiegt?“
„Man sollte ihn einfach öffentlich auslachen.“, hielt Hella dagegen. „Im Grunde hat er doch noch immer die Mehrheit gegen sich. Das muss den Bürgern bewusst gemacht werden.“
„Da bin ich mir nicht mehr so sicher.“, argwöhnte Alrun. „Da steckt mehr Widerwärtiges und Lebensverachtendes in der Menschheit, als wir alle glauben wollen. Und solche wie der Feiste Batzen holen das aus den Leuten heraus und dann ist es in der Welt und nur schwer wieder herauszubekommen, klebt wie Pech an allem.“
„Ja.“, pflichtete Fauna ihr bei. „Er muss weg und zwar schleunigst, bevor er noch mehr Schaden anrichtet und zuerst das ganze Land und schließlich die ganze Welt vergiftet. Die Zerstörer und die Schlichten hat er schon im Sack, als nächstes kommen die Unsicheren, da müssen wir ihm zuvorkommen.“
„Aber wie wollen wir das angehen?“, fragte Midgard.
„Das übernehme ich.“, säuselte Nixe grinsend.
Und an einem duftenden Tag im Monat Mai lockte sie ihn in die Falle. Als erstes verlor der Feiste Batzen seine Gesundheit, dann seine Ehre und schließlich sein Selbstvertrauen; am Ende sein Leben und von seinen Kindern wurde nie wieder gesprochen. Und Ostara, die Hüterin des Lebens riss die Male des Todes von den Wänden und malte Blumen auf.
... link (4 Kommentare) ... comment
Freitag, 27. April 2018
Braut in rot - ein abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 13:27h
So etwas Groteskes hat er in all seinen Amtsjahren noch nie gesehen, außer vielleicht im Fernsehen, aber er guckt ja nur wenig und dann meistens keine Krimis. Spielfilme auch lieber im Kino und dann eben keine mit solchen Szenen. Diese Unvereinbarkeit des Rahmens mit dem Ausdruck auf den Gesichtern, wie in einem Albtraum. Aber es ist ja auch ein Albtraum. Alle in festlicher Kleidung, neben den fetten Schnecken auch die grazilen Gazellen in hauchzarten Chiffon-Träumen, überall Blumen, die Sonne scheint und der gertenschlanke, junge Mann im schwarzen Anzug beugt sich über seine sterbende Geliebte, nein, sie ist ja seine Frau, seit gerade eben und nun liegt sie mit zerfetztem Unterleib auf den Stufen vor der Eingangstür und der Traum aus weißem Satin und Tüll saugt sich unaufhaltsam voll mit ihrem Lebenssaft, um schließlich darin zu trocknen, zu stocken, hart und braun zu werden, während sie, die Braut, auch braun werden wird, aber nicht von der Sonne und hart wird sie auch nicht, sondern weich und glibbrig, sie wird zerfallen wie eine Melone auf dem Komposthaufen und er, der Bräutigam weiß das und beugt sich über sie, will sie festhalten, aber sie entgleitet ihm bereits und statt auf dem Weg in die Ewigkeit tröstend ihre Hand zu halten, schreit er sie an, dass sie ihn nicht allein lassen soll, aber dann bricht ihr Blick und es ist offensichtlich, dass sie nicht mehr dazu gehört.
Irgendjemand hat die Polizei gerufen. Überall Gemurmel, ob das wohl der zionistische Bruder war, weil der junge Mann eine Schickse geheiratet hat. Man weiß ja, wie die Zionisten so sind, die wollen ja unbedingt unter sich bleiben, notfalls mit Gewalt. Steht auch alles im Alten Testament, da waren die schon immer erbarmungslos. Der Bräutigam, der war ja anders, der war ja sogar zum Christentum konvertiert, aber jetzt sieht man ja, was die Braut davon hat. Hätte sie sich mal besser nicht drauf eingelassen.
Jemand von der Spurensicherung untersucht eine Schmiererei an der Seitenwand. Dass da jemand etwas gesprüht hat, ist ihm noch gar nicht aufgefallen. „Keine Rassenschande in Höfelsen“ steht da und die grazilen Gazellen sind sich genauso wie die fetten Schnecken immer noch einig, dass das ja der Beweis ist, dass es nur der zionistische Bruder gewesen sein kann.
Aber er weiß, dass es nicht so war. Solche Begriffe verwendet kein Zionist, schon aus Prinzip nicht. Er hat sie umgebracht, es ist seine Schuld. Nein, er hat nicht die Waffe geführt und den Abzug gedrückt, aber er hat nicht aufgepasst, damals, als dieser seltsame, geprügelte Hund in seinen Konfirmandenunterricht kam. Er hat immer gebetet, dass er diesmal nicht erscheinen möge, weil es ihm bei seinem Anblick jedes Mal kalt den Rücken herunterlief. Wenn er dann aber, wie meistens, da war, hatte er inständig das Ende der Stunde herbeigesehnt. Er hatte nie mit den Eltern gesprochen, dass da etwas nicht stimmte mit ihrem Sohn, dass sein Mund zu verschlossen und sein Blick zu finster sei für einen Dreizehnjährigen. Er war einfach nur froh, als er ihn endlich rauskonfirmieren konnte. Danach hat er ihn nur noch sporadisch gesehen. Hat gesehen, wie die Beine länger und der Rücken breiter wurde, wie sich die spargeligen Arme in muskulöse Werkzeuge verwandelten, wie die Kopfhaare immer kürzer wurden und schließlich ganz verschwanden, wie die Kordhosen von aufgekrempelten Jeans abgelöst wurden, die Sportshirts von Kapuzenjacken der immer gleichen Marke und die Turnschuhe von lang geschnürten Arbeitsschuhen. Seine Frau sagte, der Junge sei zum Mann geworden. Aber er wusste, dass er nur zu dem Monster geworden war, das schon immer in ihm steckte. Er hätte es verhindern können, dafür sorgen, dass der Junge rechtzeitig Hilfe bekam. Er hat es versäumt und jetzt ist jemand tot. Sein Blick schweift über den Platz auf der Suche nach dem leitenden Ermittler. Er wird sich für alles verantworten.
Irgendjemand hat die Polizei gerufen. Überall Gemurmel, ob das wohl der zionistische Bruder war, weil der junge Mann eine Schickse geheiratet hat. Man weiß ja, wie die Zionisten so sind, die wollen ja unbedingt unter sich bleiben, notfalls mit Gewalt. Steht auch alles im Alten Testament, da waren die schon immer erbarmungslos. Der Bräutigam, der war ja anders, der war ja sogar zum Christentum konvertiert, aber jetzt sieht man ja, was die Braut davon hat. Hätte sie sich mal besser nicht drauf eingelassen.
Jemand von der Spurensicherung untersucht eine Schmiererei an der Seitenwand. Dass da jemand etwas gesprüht hat, ist ihm noch gar nicht aufgefallen. „Keine Rassenschande in Höfelsen“ steht da und die grazilen Gazellen sind sich genauso wie die fetten Schnecken immer noch einig, dass das ja der Beweis ist, dass es nur der zionistische Bruder gewesen sein kann.
Aber er weiß, dass es nicht so war. Solche Begriffe verwendet kein Zionist, schon aus Prinzip nicht. Er hat sie umgebracht, es ist seine Schuld. Nein, er hat nicht die Waffe geführt und den Abzug gedrückt, aber er hat nicht aufgepasst, damals, als dieser seltsame, geprügelte Hund in seinen Konfirmandenunterricht kam. Er hat immer gebetet, dass er diesmal nicht erscheinen möge, weil es ihm bei seinem Anblick jedes Mal kalt den Rücken herunterlief. Wenn er dann aber, wie meistens, da war, hatte er inständig das Ende der Stunde herbeigesehnt. Er hatte nie mit den Eltern gesprochen, dass da etwas nicht stimmte mit ihrem Sohn, dass sein Mund zu verschlossen und sein Blick zu finster sei für einen Dreizehnjährigen. Er war einfach nur froh, als er ihn endlich rauskonfirmieren konnte. Danach hat er ihn nur noch sporadisch gesehen. Hat gesehen, wie die Beine länger und der Rücken breiter wurde, wie sich die spargeligen Arme in muskulöse Werkzeuge verwandelten, wie die Kopfhaare immer kürzer wurden und schließlich ganz verschwanden, wie die Kordhosen von aufgekrempelten Jeans abgelöst wurden, die Sportshirts von Kapuzenjacken der immer gleichen Marke und die Turnschuhe von lang geschnürten Arbeitsschuhen. Seine Frau sagte, der Junge sei zum Mann geworden. Aber er wusste, dass er nur zu dem Monster geworden war, das schon immer in ihm steckte. Er hätte es verhindern können, dafür sorgen, dass der Junge rechtzeitig Hilfe bekam. Er hat es versäumt und jetzt ist jemand tot. Sein Blick schweift über den Platz auf der Suche nach dem leitenden Ermittler. Er wird sich für alles verantworten.
... link (4 Kommentare) ... comment
Freitag, 20. April 2018
Strandgut - abgeschlossener Kurzkrimi
c. fabry, 02:51h
Was für ein wunderbarer Sommerabend und das Anfang April. Nein, nicht in Bella Italia oder sonstwo am Mittelmeer. Es war kurz vor Zeeland, im Nordwesten der Niederlande, wo die Strände breit und die Wellen kräftig waren. Nur heute ließ die Brandung zu wünschen übrig. Der ablandige Wind und der flutbändigende Halbmond hielten die Nordsee so sehr im Zaum, dass Kleinkinder unbeaufsichtigt in ihr hätten planschen können, wäre die Wassertemperatur nicht deutlich zu niedrig gewesen.
Agatha sammelte Muscheln. So viele zusammenhängende, unversehrte Schwertmuscheln fand sie sonst nie. Im Sommer war alles zertreten, und die wenigen Exemplare, die nicht achtlosen, schweren Schritten zum Opfer gefallen waren, schnappten kindliche Schalentierkadaverjäger ihr regelmäßig vor der Nase weg. Sie baute daraus Windspiele für den Garten, denn sie liebte den Klang der aneinander klimpernden Kalkschalen.
Als sie genug Beute in ihren Jackentaschen gesammelt hatte, hob sie den Kopf und blinzelte in die untergehende Sonne. In einiger Entfernung fiel ihr ein leuchtend gelber Gegenstand ins Auge. Die erste vergessene Sandkastenschaufel oder ein Quietscheentchen?, dachte sie. Oder einfach nur der allgegenwärtige Plastikmüll der Weltmeere? Dann konnte sie es erkennen: Ein Gummihandschuh, wie man ihn im Haushalt benutzte, um die Haut zu schonen oder um die notwendige Distanz zwischen sich und ekligen Substanzen herzustellen, die es zu beseitigen galt.
Agatha grinste in sich hinein. Hey, Sergeant, phantasierte sie, Informieren Sie das Team von der Kriminaltechnik. Dies hier scheint mir ein wichtiges Beweisstück zu sein. Wer wirft schon einfach so Gummihandschuhe ins Meer oder entsorgt sie am Strand?
Ja genau, dachte sie, wer tut so etwas und warum? Und was, wenn dieser Handschuh tatsächlich benutzt worden war, um ein Verbrechen zu begehen? Aber wenn sie jemandem davon erzählte, würde man bestenfalls mutmaßen, sie habe ihre Medikamente abgesetzt. So ein Theater wegen so eines banalen Alltagsgegenstandes...
Nun stand sie unmittelbar davor, der Handschuh wirkte seltsam lebendig, hatte sich wohl in der tosenden Brandung mit Sand gefüllt, grotesk sah das aus. Sie hob ihn mit spitzen Fingern an. Meine Güte, war der schwer. Hinter ihr ertönte lautstarkes Gezeter. Schwärme von Möwen und Strandläufern stritten miteinander. Sie traute ihren Augen nicht. Zwei der Strandläufer hüpften auf einem Bein wie Kinder es beim Hinkelspiel taten. Agatha beobachtete sie eine ganze Weile. Sie taten dieses offenkundig nicht zum Spaß, sondern waren Opfer einer Verstümmelung, ob nun durch Unfall, Raubvogel, menschliche Grausamkeit oder Missbildung. Aber sie lebten, und als sie davonflogen, standen sie ihren zweibeinigen Artgenossen in nichts nach.
Agatha wandte sich wieder ihrem Fundstück zu, das einen seltsam fauligen Geruch verströmte, nicht nur brackig und fischig wie manche angespülte Muscheln, deren Fleisch zwischen den Schalen faulte, sondern süßlich und auf eine unbeschreibliche Weise widerwärtig. Sie zog den Handschuh mit beiden Händen auseinander und blickte hinein. Eine rotbraune Masse durchzogen von weißlichem Material glänzte feucht gehalten von der Salzlake des Meeres. Was zum Teufel konnte das sein? Sie war zu neugierig, fasste die Finger des Handschuhs an den Spitzen und schüttelte, bis ihr der Inhalt vor die Füße fiel. Sie erblickte eine abgetrennte, menschliche Hand. Kurz darauf fiel sie Ohnmacht.
Als Agatha wieder zu sich kam, war sie umgeben von Menschen, die sie mit Fragen bestürmten, die sie aber nicht beantworten konnte, weil sie in ihrem gegenwärtigen Zustand kein einziges Wort von dem aufgeregten Niederländisch verstand. Die Helfer hatten wohl einen Rettungswagen oder die Polizei gerufen, vielleicht auch beides, denn sie nahm ein sich näherndes Martinshorn wahr. Wenig später war sie umgeben von Sanitätern, von denen einer ihrer Muttersprache mächtig war, und als sie feststellten, dass die Anzeichen eines Schocks bei ihr bereits abklangen, fragte der Helfer, was denn eigentlich geschehen sei. Endlich brach es aus ihr heraus, dass sie geglaubt habe, der Handschuh habe sich in der Brandung mit Sand gefüllt, dass sie das neugierig gemacht habe, dass sie dann eine derartig undefinierbare Masse darin entdeckt habe, dass ihre unbezähmbare Neugier nach einer plausiblen Erklärung gelechzt habe und sie darum den Inhalt herausgeschüttelt habe. Als es dann keinen Zweifel mehr gegeben habe, dass es sich um eine menschliches Amputat handelte, habe sie die Erkenntnis wie ein Hammerschlag getroffen.
Da sie nun wieder bei sich war, hatte selbstverständlich auch die Polizei Fragen an sie und ein sprachbegabter Ermittler kam auf sie zu.
„Sie kommen aus Deutschland?“
„Ja.“
„Sind Sie im Urlaub?“
„Nur übers Wochenende.“
„Wo wohnen Sie?“
„In Outdorp. Ich habe ein Zimmer über Airbnb gemietet, im Hofdijksweg, gegenüber dem Eiscafé.“
„Okay.“, sagte der Polizist und seine himmelblauen Augen schienen sich unerbittlich in ihren Kopf zu bohren bis zur Rückwand ihre Schädelknochens.
„Können Sie sich ausweisen?“
Agatha erschrak. War sie etwas verdächtig? Dachte der Polizist, sie hätte den Eigentümer der Hand ermordet und zerstückelt und die Leichenteile in der Umgebung verteilt und dann den Fund der Hand und die darauffolgende Ohnmacht vorgetäuscht? Wie gelähmt starrte sie in sein Gesicht, unfähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen.
„Haben Sie einen Ausweis dabei?“, wiederholte der Ermittler die Frage. „Das wäre das Einfachste für uns. Sie sind eine wichtige Zeugin und wir müssen darum Ihre Personalien aufnehmen.“
Fahrig griff Agatha sich an die Brust, wo sie in einer separaten Tasche ihrer Outdoor-Jacke den Ausweis vermutete. Der Reißverschluss klemmte und ihre Nervosität wuchs, insbesondere unter dem erbarmungslosen, stahlharten Blick des Polizisten, der sie dadurch nur noch genauer musterte. Es war ein Teufelskreis, den sie nur durchbrechen konnte, wenn der verdammte Zipper sich endlich bewegen ließ und sie die gewünschte Karte präsentieren konnte. Schließlich klappte es, der Polizist nahm den Ausweis an sich, verglich kurz das Foto mit der Lebenden Person und reichte das Dokument an eine Kollegin weiter, die damit verschwand, um die Personalien zu überprüfen.
„Wir wollen nur gucken, ob Sie keine international gesuchte Terroristin sind.“, scherzte der Mann und grinste schief.
„Aha.“, stieß Agatha beunruhigt hervor. Gab es Fälle, in denen deutsche Touristen von niederländischen Polizisten Beweisstücke untergeschoben wurden, damit die einen Mordfall möglichst schnell erfolgreich abschließen konnten oder gab es solche Vorfälle nur in Bananenrepubliken wie Kolumbien oder den USA?
„Agatha?“, las der Beamte belustigt. „Die Gute?“
Agatha zuckte mit den Schultern, und es war wieder einer dieser Momente, in denen sie ihre Eltern glühend dafür hasste, dass sie sie mit diesem antiquierten, muffig klingenden Vornamen ausgestattet hatten, dazu in einer für Deutschland ungewöhnlichen Schreibweise, eher einer Protagonistin in einem Theaterstück wie „Arsen und Spitzenhäubchen“ würdig, denn einer modernen, jungen Frau, die in der freien Wirtschaft bestehen wollte. Aber ihre Eltern waren beide promovierte, auf alte Geschichte spezialisierte Historiker gewesen, und sie musste froh sein, dass sie es bei altgriechisch hatten bewenden lassen und nicht etwa ein unaussprechliches, assyrisches Kleinod ausgegraben hatten.
Und warum fand der Polizist es lustig, dass ihr Name „Güte“ oder „die Gute“ bedeutete? Hatte er sie insgeheim bereits verurteilt? War seine Frage die beißende Ironie des erfolgreichen Fallenstellers gegenüber seiner sich verzweifelt windenden Beute, die die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben hatte, ihrem Peiniger zu entkommen?
Aber dann wollte der Ermittler doch nur von ihr hören, wie genau der Fund sich abgespielt, wie der Handschuh dagelegen hatte und an welcher Stelle genau und ob sie sich noch an die exakte Uhrzeit erinnerte.
Als die Sanitäter sich davon überzeugt hatten, dass sie wirklich selbständig zu ihrer Unterkunft zurückgehen konnte, lief sie schließlich wieder allen an der leisen Brandung entlang und ließ den Ort des Schreckens hinter sich zurück, nicht aber das grausige Bild, das sich tief und für immer in ihr Gehirn gegraben hatte. So furchtbar der Anblick eines abgetrennten Körperteils auch war, es war nicht das Amputat selbst, das sie schließlich aus den Socken gehauen hatte. Da war etwas am Ringfinger gewesen, das sie schon einmal gesehen hatte. Es war mindestens zehn Jahre her. Damals hatte sie noch einen Haufen Geld verdient und keine Neuroleptika benötigt. Den Ring hatte sie selbst anfertigen lassen, ein absolutes Unikat, eine goldene, sich zweimal um den Finger windende Schlange, deren verdickter Kopf einer Kobra auf das mittlere Gelenk des Fingers wies, mit winziegn Smaragden als Augen und Rubinsplittern auf den filigranen Ausläufern, die die gespaltene Zunge darstellten.
Aimée war verrückt nach Königskobras gewesen, darum hatte sie ihr den Ring zum Geschenk gemacht. Sie vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. Etwas Kleines, Kaltes und Bizarr-Filigranes erwärmte sich allmählich durch das warme Blut, das ihr sich langsam beruhigendes Herz gleichmäßig in ihre linke Hand pumpte.
„Hab' ich es also noch geschafft.“, dachte sie und schritt beschwingt ihrer Unterkunft entgegen.
ENDE
Agatha sammelte Muscheln. So viele zusammenhängende, unversehrte Schwertmuscheln fand sie sonst nie. Im Sommer war alles zertreten, und die wenigen Exemplare, die nicht achtlosen, schweren Schritten zum Opfer gefallen waren, schnappten kindliche Schalentierkadaverjäger ihr regelmäßig vor der Nase weg. Sie baute daraus Windspiele für den Garten, denn sie liebte den Klang der aneinander klimpernden Kalkschalen.
Als sie genug Beute in ihren Jackentaschen gesammelt hatte, hob sie den Kopf und blinzelte in die untergehende Sonne. In einiger Entfernung fiel ihr ein leuchtend gelber Gegenstand ins Auge. Die erste vergessene Sandkastenschaufel oder ein Quietscheentchen?, dachte sie. Oder einfach nur der allgegenwärtige Plastikmüll der Weltmeere? Dann konnte sie es erkennen: Ein Gummihandschuh, wie man ihn im Haushalt benutzte, um die Haut zu schonen oder um die notwendige Distanz zwischen sich und ekligen Substanzen herzustellen, die es zu beseitigen galt.
Agatha grinste in sich hinein. Hey, Sergeant, phantasierte sie, Informieren Sie das Team von der Kriminaltechnik. Dies hier scheint mir ein wichtiges Beweisstück zu sein. Wer wirft schon einfach so Gummihandschuhe ins Meer oder entsorgt sie am Strand?
Ja genau, dachte sie, wer tut so etwas und warum? Und was, wenn dieser Handschuh tatsächlich benutzt worden war, um ein Verbrechen zu begehen? Aber wenn sie jemandem davon erzählte, würde man bestenfalls mutmaßen, sie habe ihre Medikamente abgesetzt. So ein Theater wegen so eines banalen Alltagsgegenstandes...
Nun stand sie unmittelbar davor, der Handschuh wirkte seltsam lebendig, hatte sich wohl in der tosenden Brandung mit Sand gefüllt, grotesk sah das aus. Sie hob ihn mit spitzen Fingern an. Meine Güte, war der schwer. Hinter ihr ertönte lautstarkes Gezeter. Schwärme von Möwen und Strandläufern stritten miteinander. Sie traute ihren Augen nicht. Zwei der Strandläufer hüpften auf einem Bein wie Kinder es beim Hinkelspiel taten. Agatha beobachtete sie eine ganze Weile. Sie taten dieses offenkundig nicht zum Spaß, sondern waren Opfer einer Verstümmelung, ob nun durch Unfall, Raubvogel, menschliche Grausamkeit oder Missbildung. Aber sie lebten, und als sie davonflogen, standen sie ihren zweibeinigen Artgenossen in nichts nach.
Agatha wandte sich wieder ihrem Fundstück zu, das einen seltsam fauligen Geruch verströmte, nicht nur brackig und fischig wie manche angespülte Muscheln, deren Fleisch zwischen den Schalen faulte, sondern süßlich und auf eine unbeschreibliche Weise widerwärtig. Sie zog den Handschuh mit beiden Händen auseinander und blickte hinein. Eine rotbraune Masse durchzogen von weißlichem Material glänzte feucht gehalten von der Salzlake des Meeres. Was zum Teufel konnte das sein? Sie war zu neugierig, fasste die Finger des Handschuhs an den Spitzen und schüttelte, bis ihr der Inhalt vor die Füße fiel. Sie erblickte eine abgetrennte, menschliche Hand. Kurz darauf fiel sie Ohnmacht.
Als Agatha wieder zu sich kam, war sie umgeben von Menschen, die sie mit Fragen bestürmten, die sie aber nicht beantworten konnte, weil sie in ihrem gegenwärtigen Zustand kein einziges Wort von dem aufgeregten Niederländisch verstand. Die Helfer hatten wohl einen Rettungswagen oder die Polizei gerufen, vielleicht auch beides, denn sie nahm ein sich näherndes Martinshorn wahr. Wenig später war sie umgeben von Sanitätern, von denen einer ihrer Muttersprache mächtig war, und als sie feststellten, dass die Anzeichen eines Schocks bei ihr bereits abklangen, fragte der Helfer, was denn eigentlich geschehen sei. Endlich brach es aus ihr heraus, dass sie geglaubt habe, der Handschuh habe sich in der Brandung mit Sand gefüllt, dass sie das neugierig gemacht habe, dass sie dann eine derartig undefinierbare Masse darin entdeckt habe, dass ihre unbezähmbare Neugier nach einer plausiblen Erklärung gelechzt habe und sie darum den Inhalt herausgeschüttelt habe. Als es dann keinen Zweifel mehr gegeben habe, dass es sich um eine menschliches Amputat handelte, habe sie die Erkenntnis wie ein Hammerschlag getroffen.
Da sie nun wieder bei sich war, hatte selbstverständlich auch die Polizei Fragen an sie und ein sprachbegabter Ermittler kam auf sie zu.
„Sie kommen aus Deutschland?“
„Ja.“
„Sind Sie im Urlaub?“
„Nur übers Wochenende.“
„Wo wohnen Sie?“
„In Outdorp. Ich habe ein Zimmer über Airbnb gemietet, im Hofdijksweg, gegenüber dem Eiscafé.“
„Okay.“, sagte der Polizist und seine himmelblauen Augen schienen sich unerbittlich in ihren Kopf zu bohren bis zur Rückwand ihre Schädelknochens.
„Können Sie sich ausweisen?“
Agatha erschrak. War sie etwas verdächtig? Dachte der Polizist, sie hätte den Eigentümer der Hand ermordet und zerstückelt und die Leichenteile in der Umgebung verteilt und dann den Fund der Hand und die darauffolgende Ohnmacht vorgetäuscht? Wie gelähmt starrte sie in sein Gesicht, unfähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen.
„Haben Sie einen Ausweis dabei?“, wiederholte der Ermittler die Frage. „Das wäre das Einfachste für uns. Sie sind eine wichtige Zeugin und wir müssen darum Ihre Personalien aufnehmen.“
Fahrig griff Agatha sich an die Brust, wo sie in einer separaten Tasche ihrer Outdoor-Jacke den Ausweis vermutete. Der Reißverschluss klemmte und ihre Nervosität wuchs, insbesondere unter dem erbarmungslosen, stahlharten Blick des Polizisten, der sie dadurch nur noch genauer musterte. Es war ein Teufelskreis, den sie nur durchbrechen konnte, wenn der verdammte Zipper sich endlich bewegen ließ und sie die gewünschte Karte präsentieren konnte. Schließlich klappte es, der Polizist nahm den Ausweis an sich, verglich kurz das Foto mit der Lebenden Person und reichte das Dokument an eine Kollegin weiter, die damit verschwand, um die Personalien zu überprüfen.
„Wir wollen nur gucken, ob Sie keine international gesuchte Terroristin sind.“, scherzte der Mann und grinste schief.
„Aha.“, stieß Agatha beunruhigt hervor. Gab es Fälle, in denen deutsche Touristen von niederländischen Polizisten Beweisstücke untergeschoben wurden, damit die einen Mordfall möglichst schnell erfolgreich abschließen konnten oder gab es solche Vorfälle nur in Bananenrepubliken wie Kolumbien oder den USA?
„Agatha?“, las der Beamte belustigt. „Die Gute?“
Agatha zuckte mit den Schultern, und es war wieder einer dieser Momente, in denen sie ihre Eltern glühend dafür hasste, dass sie sie mit diesem antiquierten, muffig klingenden Vornamen ausgestattet hatten, dazu in einer für Deutschland ungewöhnlichen Schreibweise, eher einer Protagonistin in einem Theaterstück wie „Arsen und Spitzenhäubchen“ würdig, denn einer modernen, jungen Frau, die in der freien Wirtschaft bestehen wollte. Aber ihre Eltern waren beide promovierte, auf alte Geschichte spezialisierte Historiker gewesen, und sie musste froh sein, dass sie es bei altgriechisch hatten bewenden lassen und nicht etwa ein unaussprechliches, assyrisches Kleinod ausgegraben hatten.
Und warum fand der Polizist es lustig, dass ihr Name „Güte“ oder „die Gute“ bedeutete? Hatte er sie insgeheim bereits verurteilt? War seine Frage die beißende Ironie des erfolgreichen Fallenstellers gegenüber seiner sich verzweifelt windenden Beute, die die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben hatte, ihrem Peiniger zu entkommen?
Aber dann wollte der Ermittler doch nur von ihr hören, wie genau der Fund sich abgespielt, wie der Handschuh dagelegen hatte und an welcher Stelle genau und ob sie sich noch an die exakte Uhrzeit erinnerte.
Als die Sanitäter sich davon überzeugt hatten, dass sie wirklich selbständig zu ihrer Unterkunft zurückgehen konnte, lief sie schließlich wieder allen an der leisen Brandung entlang und ließ den Ort des Schreckens hinter sich zurück, nicht aber das grausige Bild, das sich tief und für immer in ihr Gehirn gegraben hatte. So furchtbar der Anblick eines abgetrennten Körperteils auch war, es war nicht das Amputat selbst, das sie schließlich aus den Socken gehauen hatte. Da war etwas am Ringfinger gewesen, das sie schon einmal gesehen hatte. Es war mindestens zehn Jahre her. Damals hatte sie noch einen Haufen Geld verdient und keine Neuroleptika benötigt. Den Ring hatte sie selbst anfertigen lassen, ein absolutes Unikat, eine goldene, sich zweimal um den Finger windende Schlange, deren verdickter Kopf einer Kobra auf das mittlere Gelenk des Fingers wies, mit winziegn Smaragden als Augen und Rubinsplittern auf den filigranen Ausläufern, die die gespaltene Zunge darstellten.
Aimée war verrückt nach Königskobras gewesen, darum hatte sie ihr den Ring zum Geschenk gemacht. Sie vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. Etwas Kleines, Kaltes und Bizarr-Filigranes erwärmte sich allmählich durch das warme Blut, das ihr sich langsam beruhigendes Herz gleichmäßig in ihre linke Hand pumpte.
„Hab' ich es also noch geschafft.“, dachte sie und schritt beschwingt ihrer Unterkunft entgegen.
ENDE
... link (3 Kommentare) ... comment
... older stories