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Freitag, 23. März 2018
Krimi-Dinner - ein Midi-Krimi zum Mitschreiben
c. fabry, 13:57h
Liebe Mitbloggerinnen und Mitblogger. Es ist wieder so weit. Ihr dürft mitschreiben. Diesmal werde ich die Kommentare nicht direkt in den Beitrag kopieren, das tue ich erst, wenn wir mit der Geschichte zu Ende sind. Diesmal erkläre ich schon vorher: Wer an dieser Geschichte mitschreibt, erklärt sich damit einverstanden, dass unter Angabe seiner Blogger-Identität das Geschriebene in einem E-book veröffentlicht wird und – wer weiß – vielleicht auch mal in einer Printversion.
Was für ein Spaß! Charlotte hatte es diesmal richtig krachen lassen und das evangelische Tagungshaus, das ursprünglich als Erholungsheim für Diakonissen gedient hatte, komplett gebucht. Es gab zwar 30 Betten und sie waren nur zu zwölf Personen, aber zu ihrem Fünfzigsten hatte sie sich einmal etwas gönnen wollen, etwas Skurriles mit Stil und Ambiente. Und das war ihr gelungen. Die „Schöne Aussicht“ trug ihren Namen zu Recht, oben auf der Kuppe eines Berges, wo der Blick über die Wipfel üppiger Mischwälder schweifte und die Sicht aus den altmodischen Panoramafenstern einen dem Himmel so nah brachte, dass kein Wetterumschwung unbemerkt an einem vorüber gehen konnte. Der abgelegene Standort brachte eine unvergleichliche Stille mit sich und die gepflegten Räumlichkeiten nahmen den Gast auf wie der Schoß einer nach Himbeergelee und Napfkuchen duftenden Großmutter. Im Speiseraum stand bereits die gedeckte Tafel, mit weißem Damast, Leinenservietten, Kristallgläsern und Silberbesteck. Das Abendessen hatte Charlotte bei einem besonderen Caterer bestellt. Scones, Shortbread und Gurkensandwiches für den Fünf-Uhr-Tee hatte sie selbst vorbereitet. Beim Tee hätten alle noch einmal Gelegenheit sie selbst zu sein und alles auszutauschen und zu betratschen, was sich in den vergangenen Wochen und Monaten angesammelt hatte. Danach war eine Pause vorgesehen,damit alle sich auf ihr Zimmer begeben und für das Abendessen zurechtzumachen konnten, gemäß ihrer Rolle in der Story des Krimi-Dinners.
Doch im Augenblick brach die sinkende Sonne goldgelb durch wüst gedrungene Wolken und tauchte das ohnehin in erdigen Rot- und Orangetönen gehaltene Salonzimmer in warmes Abendlicht. Im Kamin knisterten die Buchenscheite und die Etageren mit Häppchen und Süßem luden verführerisch zum Zugreifen ein.
„Eigentlich hätten wir schon verkleidet zum Tee kommen müssen.“, verkündete Simone und warf lachend den Kopf in den Nacken. „Dieser Raum sieht wirklich aus wie das Set zu einem Agatha-Christie-Film.“
Simone war Charlottes beste Freundin seit der Oberstufe. Ihre Rolle beim Krimi-Dinner passte so gar nicht zu ihr, denn obwohl sie eine lebenslustige Charmeurin war, die das Klimakterium noch lange nicht hinter sich hatte, musste sie die unvorteilhaft alternde, altjüngferliche Tochter der alten Lady spielen, die übrigens von der echten Gastgeberin gemimt wurde.
Charlotte selbst war seit sechs Jahren glücklich geschieden, wenn es auch bis zum Attribut glücklich ein weiter und schmerzlicher Weg gewesen war.
In Simones Schlepptau befand sich Klaus, ihr derzeitiger Lebensgefährte, ein unverschämt gut aussehender Sportlehrer, der am Abend den Familienanwalt gab.
Ein enger, langjähriger Freund – sowohl von Charlotte, als auch von Simone war Bernd. Eigentlich bevorzugte Bernd Männer und war zur Zeit Single, daher schwer auf der Suche, aber weil bei diesem Dinner ohnehin kein für seine Zwecke geeignetes Material eingeladen war, hatte er sich seufzend in sein Schicksal ergeben und sich bereit erklärt den geldgeilen Schwiegersohn zu spielen – er wäre viel lieber ein geheimnisumwittertes Nachtclub-Luder aus der fernen Großstadt gewesen.
Miriam, Charlottes langjährige Kollegin, spielte die verheiratete Tochter der Lady und damit die Ehefrau von Bernd. Sie mussten sich beim Tee erst einmal kennenlernen.
Susanne, ebenfalls eine alte Schulfreundin, spielte die liederliche Geliebte des jüngeren Sohnes.
Jörg, Susannes Mann seit der Jugend, spielte den liederlichen jüngeren Sohn.
Inga war eine Bekannte aus früheren Zeiten, zu der Susanne eigentlich keinen Kontakt mehr hatte. Nun hatte sie sich aber vor einiger Zeit zufällig wieder getroffen und so nett unterhalten, dass sie beschlossen hatte, Inga samt Partner einzuladen, um so das Dutzend voll zu machen. Inga durfte Charlottes Schwägerin spielen.
Ingas Ehemann hieß Laurens und er durfte auch im Spiel mit seiner Ehefrau verheiratet bleiben. Als jüngerer Bruder der Gastgeberin hatte er eine interessante Rolle.
Burkhard war ebenfalls ein alter Schulfreund. Zu ihm hatte Charlotte gelegentlich Kontakt, vor allem in den letzten Jahren, wo sie sich oft über Scheidung ausgetauscht hatten, denn Burkhard war von seiner Frau zusammen mit den beiden Kindern verlassen worden. Heute Abend spielte er den Pfarrer, mit dem die Familie sich gern schmückte und der sich im Gegenzug der freundlichen Kontaktpflege regelmäßige Spenden für die Kirche erhoffte.
Lisa, kannte Charlotte seit 10 Jahren, sie gingen immer zusammen wandern und hatten dabei die besten Gespräche, denn Lisa hatte einen besonders wachen Geist, ohne dabei auch nur im geringsten intellektuell versnobt zu sein. Sie spielte eine mit der Familie befreundete Ärztin.
Charlottes ehemalige Kommilitonin Margit gab die Enkelin der alten Lady und damit die Tochter von Miriam und Bernd. Da sie beide bereits kannte, unterstützte sie das fiktive Ehepaar bei der gegenseitigen Bekanntmachung und sorgte für viel Entspannung und Gelächter.
Nach der geselligen Teerunde hatten alle rote Bäckchen – denn es war ziemlich warm geworden. Darum genossen sie den Luxus, sich für dreißig Minuten zurückziehen zu können, sich etwas Ruhe und ein paar Minuten in der Horizontale gönnen zu dürfen, bevor sie in ihr Kostüm schlüpften. Um 20 Uhr saß Charlotte äußerst gespannt am Ende der gedeckten Tafel und wartete auf den Auftritt ihrer Gäste.
Und Jetzt Seid Ihr dran!!!
Was für ein Spaß! Charlotte hatte es diesmal richtig krachen lassen und das evangelische Tagungshaus, das ursprünglich als Erholungsheim für Diakonissen gedient hatte, komplett gebucht. Es gab zwar 30 Betten und sie waren nur zu zwölf Personen, aber zu ihrem Fünfzigsten hatte sie sich einmal etwas gönnen wollen, etwas Skurriles mit Stil und Ambiente. Und das war ihr gelungen. Die „Schöne Aussicht“ trug ihren Namen zu Recht, oben auf der Kuppe eines Berges, wo der Blick über die Wipfel üppiger Mischwälder schweifte und die Sicht aus den altmodischen Panoramafenstern einen dem Himmel so nah brachte, dass kein Wetterumschwung unbemerkt an einem vorüber gehen konnte. Der abgelegene Standort brachte eine unvergleichliche Stille mit sich und die gepflegten Räumlichkeiten nahmen den Gast auf wie der Schoß einer nach Himbeergelee und Napfkuchen duftenden Großmutter. Im Speiseraum stand bereits die gedeckte Tafel, mit weißem Damast, Leinenservietten, Kristallgläsern und Silberbesteck. Das Abendessen hatte Charlotte bei einem besonderen Caterer bestellt. Scones, Shortbread und Gurkensandwiches für den Fünf-Uhr-Tee hatte sie selbst vorbereitet. Beim Tee hätten alle noch einmal Gelegenheit sie selbst zu sein und alles auszutauschen und zu betratschen, was sich in den vergangenen Wochen und Monaten angesammelt hatte. Danach war eine Pause vorgesehen,damit alle sich auf ihr Zimmer begeben und für das Abendessen zurechtzumachen konnten, gemäß ihrer Rolle in der Story des Krimi-Dinners.
Doch im Augenblick brach die sinkende Sonne goldgelb durch wüst gedrungene Wolken und tauchte das ohnehin in erdigen Rot- und Orangetönen gehaltene Salonzimmer in warmes Abendlicht. Im Kamin knisterten die Buchenscheite und die Etageren mit Häppchen und Süßem luden verführerisch zum Zugreifen ein.
„Eigentlich hätten wir schon verkleidet zum Tee kommen müssen.“, verkündete Simone und warf lachend den Kopf in den Nacken. „Dieser Raum sieht wirklich aus wie das Set zu einem Agatha-Christie-Film.“
Simone war Charlottes beste Freundin seit der Oberstufe. Ihre Rolle beim Krimi-Dinner passte so gar nicht zu ihr, denn obwohl sie eine lebenslustige Charmeurin war, die das Klimakterium noch lange nicht hinter sich hatte, musste sie die unvorteilhaft alternde, altjüngferliche Tochter der alten Lady spielen, die übrigens von der echten Gastgeberin gemimt wurde.
Charlotte selbst war seit sechs Jahren glücklich geschieden, wenn es auch bis zum Attribut glücklich ein weiter und schmerzlicher Weg gewesen war.
In Simones Schlepptau befand sich Klaus, ihr derzeitiger Lebensgefährte, ein unverschämt gut aussehender Sportlehrer, der am Abend den Familienanwalt gab.
Ein enger, langjähriger Freund – sowohl von Charlotte, als auch von Simone war Bernd. Eigentlich bevorzugte Bernd Männer und war zur Zeit Single, daher schwer auf der Suche, aber weil bei diesem Dinner ohnehin kein für seine Zwecke geeignetes Material eingeladen war, hatte er sich seufzend in sein Schicksal ergeben und sich bereit erklärt den geldgeilen Schwiegersohn zu spielen – er wäre viel lieber ein geheimnisumwittertes Nachtclub-Luder aus der fernen Großstadt gewesen.
Miriam, Charlottes langjährige Kollegin, spielte die verheiratete Tochter der Lady und damit die Ehefrau von Bernd. Sie mussten sich beim Tee erst einmal kennenlernen.
Susanne, ebenfalls eine alte Schulfreundin, spielte die liederliche Geliebte des jüngeren Sohnes.
Jörg, Susannes Mann seit der Jugend, spielte den liederlichen jüngeren Sohn.
Inga war eine Bekannte aus früheren Zeiten, zu der Susanne eigentlich keinen Kontakt mehr hatte. Nun hatte sie sich aber vor einiger Zeit zufällig wieder getroffen und so nett unterhalten, dass sie beschlossen hatte, Inga samt Partner einzuladen, um so das Dutzend voll zu machen. Inga durfte Charlottes Schwägerin spielen.
Ingas Ehemann hieß Laurens und er durfte auch im Spiel mit seiner Ehefrau verheiratet bleiben. Als jüngerer Bruder der Gastgeberin hatte er eine interessante Rolle.
Burkhard war ebenfalls ein alter Schulfreund. Zu ihm hatte Charlotte gelegentlich Kontakt, vor allem in den letzten Jahren, wo sie sich oft über Scheidung ausgetauscht hatten, denn Burkhard war von seiner Frau zusammen mit den beiden Kindern verlassen worden. Heute Abend spielte er den Pfarrer, mit dem die Familie sich gern schmückte und der sich im Gegenzug der freundlichen Kontaktpflege regelmäßige Spenden für die Kirche erhoffte.
Lisa, kannte Charlotte seit 10 Jahren, sie gingen immer zusammen wandern und hatten dabei die besten Gespräche, denn Lisa hatte einen besonders wachen Geist, ohne dabei auch nur im geringsten intellektuell versnobt zu sein. Sie spielte eine mit der Familie befreundete Ärztin.
Charlottes ehemalige Kommilitonin Margit gab die Enkelin der alten Lady und damit die Tochter von Miriam und Bernd. Da sie beide bereits kannte, unterstützte sie das fiktive Ehepaar bei der gegenseitigen Bekanntmachung und sorgte für viel Entspannung und Gelächter.
Nach der geselligen Teerunde hatten alle rote Bäckchen – denn es war ziemlich warm geworden. Darum genossen sie den Luxus, sich für dreißig Minuten zurückziehen zu können, sich etwas Ruhe und ein paar Minuten in der Horizontale gönnen zu dürfen, bevor sie in ihr Kostüm schlüpften. Um 20 Uhr saß Charlotte äußerst gespannt am Ende der gedeckten Tafel und wartete auf den Auftritt ihrer Gäste.
Und Jetzt Seid Ihr dran!!!
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Freitag, 16. März 2018
Das Todeshaus - ein abgeschlossener, profaner Kurzkrimi
c. fabry, 13:02h
„Nicht schon wieder!“, stöhnte Keller.
„Was?“, fragte Kerkenbrock.
„Am Schwarzenberg 10.“, sagte Keller.
„Oh Nein!“
„Doch.“
„Oben oder unten?“
„Wieso fragen Sie? Könnte ja ausnahmsweise mal in der Mitte sein.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Reisers besitzen das Elixier des Lebens, auch wenn sie aussehen, wie gefriergetrocknet. Askese, Disziplin und alle negativen Impulse direkt raus lassen. Damit wird man uralt.“
„Mord macht auch vor vermeintlich Langlebigen nicht halt.“
„Was ist es denn diesmal? Nur dass ich schon weiß, auf welches Bild ich mich einstellen muss.“
„Vermutlich Kohlenmonoxid. Gleich eine ganze Familie.“
„Also eher ein Unfall?“
„Wir werden sehen.“
Diesmal war es die Wohnung oben, im zweiten Stock. Im ersten Stock lebten die Reisers, ein pensioniertes Ärztepaar, im Erdgeschoss eine Frau Blome, die sich schon erstaunlich lange hielt. Ihre Vormieterin hatte nur 18 Monate in der Wohnung verbracht, bevor sie einem Starkstromschlag zum Opfer gefallen war. Sie hatte die Nachmiete einer obskuren Messi-WG angetreten, die bei einem ihrer zahlreichen Gelage allesamt an einer Überdosis Crack gestorben waren. Die wiederum hatten die Wohnung von einer betagten Dame übernommen, die eines Morgens einfach nicht wieder aufgewacht war.
Im zweiten Stock waren die Vormieter der fünfköpfigen Familie – ein exzentrisches Musikerpaar – eines Nachts im Streit gemeinsam vom Balkon gestürzt, was sie nicht überlebt hatten. Vor ihnen hatte ein lesbisches Paar dort gelebt, von dem die eine Partnerin eines Morgens beim Nachbarschafts-Frühstück bei den Reisers an einer Scheibe Schinken erstickt war. Die andere Partnerin war kurz danach ausgezogen, weil sie sich die Wohnung allein nicht leisten konnte.
In allen Fällen hatten sie wegen Mordverdachts ermittelt, waren aber jedes Mal zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen Unglücksfall gehandelt haben musste.
Nun betraten die Beamten die Wohnung der Familie Römermann im zweiten Stock. Sie lagen alle friedlich verstreut im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät, das sich dankenswerterweise selbst abgeschaltet hatte. Die Polizisten waren entsetzt vom Anblick der reizenden Familie, junge Eltern mit drei kleinen Kindern, unfassbar, dass es immer wieder zu diesen Kohlenmonoxid-Unfällen kam, noch tragischer angesichts der Tatsache, dass der Familienvater von Beruf Heizungsinstallateur war. War es möglich, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelte?
Frau Blome im Parterre erklärte, sie habe mit den Nachbarn nicht viel zu tun, sie könne nichts dazu sagen.
Die Reisers meinten, der Herr Römermann habe in letzter Zeit schon etwas niedergeschlagen gewirkt. Es sei auch oft zu Streit in der Wohnung über ihnen gekommen, mit den Kindern habe es Probleme gegeben und beruflich sei es für den Vater auch überhaupt nicht gut gelaufen, er habe da gelegentlich so Andeutungen gemacht.
Die Beamten gingen der Sache auf den Grund. Die Befragung von Verwandten, Arbeitgeber und Kollegen konnten die Hypothese der Reisers nicht bestätigen. Und dann ging Keller dieser Halbsatz von Sabine Kerkenbrock durch den Kopf: Oben oder unten? Sie würden alle Todesfälle noch einmal aufrollen müssen und aus einer völlig neuen Perspektive betrachten. Auch wenn die Reisers keine Vampire waren, die ihr Leben mit dem Blut ihrer Opfer verlängerten, so sorgten sie doch für sich für optimale Lebensbedingungen, aber er und seine Kollegin würden dieses Biotop des Grauens ein für alle Mal in eine gefahrlose Kulturlandschaft verwandeln.
ENDE
„Was?“, fragte Kerkenbrock.
„Am Schwarzenberg 10.“, sagte Keller.
„Oh Nein!“
„Doch.“
„Oben oder unten?“
„Wieso fragen Sie? Könnte ja ausnahmsweise mal in der Mitte sein.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Reisers besitzen das Elixier des Lebens, auch wenn sie aussehen, wie gefriergetrocknet. Askese, Disziplin und alle negativen Impulse direkt raus lassen. Damit wird man uralt.“
„Mord macht auch vor vermeintlich Langlebigen nicht halt.“
„Was ist es denn diesmal? Nur dass ich schon weiß, auf welches Bild ich mich einstellen muss.“
„Vermutlich Kohlenmonoxid. Gleich eine ganze Familie.“
„Also eher ein Unfall?“
„Wir werden sehen.“
Diesmal war es die Wohnung oben, im zweiten Stock. Im ersten Stock lebten die Reisers, ein pensioniertes Ärztepaar, im Erdgeschoss eine Frau Blome, die sich schon erstaunlich lange hielt. Ihre Vormieterin hatte nur 18 Monate in der Wohnung verbracht, bevor sie einem Starkstromschlag zum Opfer gefallen war. Sie hatte die Nachmiete einer obskuren Messi-WG angetreten, die bei einem ihrer zahlreichen Gelage allesamt an einer Überdosis Crack gestorben waren. Die wiederum hatten die Wohnung von einer betagten Dame übernommen, die eines Morgens einfach nicht wieder aufgewacht war.
Im zweiten Stock waren die Vormieter der fünfköpfigen Familie – ein exzentrisches Musikerpaar – eines Nachts im Streit gemeinsam vom Balkon gestürzt, was sie nicht überlebt hatten. Vor ihnen hatte ein lesbisches Paar dort gelebt, von dem die eine Partnerin eines Morgens beim Nachbarschafts-Frühstück bei den Reisers an einer Scheibe Schinken erstickt war. Die andere Partnerin war kurz danach ausgezogen, weil sie sich die Wohnung allein nicht leisten konnte.
In allen Fällen hatten sie wegen Mordverdachts ermittelt, waren aber jedes Mal zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen Unglücksfall gehandelt haben musste.
Nun betraten die Beamten die Wohnung der Familie Römermann im zweiten Stock. Sie lagen alle friedlich verstreut im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät, das sich dankenswerterweise selbst abgeschaltet hatte. Die Polizisten waren entsetzt vom Anblick der reizenden Familie, junge Eltern mit drei kleinen Kindern, unfassbar, dass es immer wieder zu diesen Kohlenmonoxid-Unfällen kam, noch tragischer angesichts der Tatsache, dass der Familienvater von Beruf Heizungsinstallateur war. War es möglich, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelte?
Frau Blome im Parterre erklärte, sie habe mit den Nachbarn nicht viel zu tun, sie könne nichts dazu sagen.
Die Reisers meinten, der Herr Römermann habe in letzter Zeit schon etwas niedergeschlagen gewirkt. Es sei auch oft zu Streit in der Wohnung über ihnen gekommen, mit den Kindern habe es Probleme gegeben und beruflich sei es für den Vater auch überhaupt nicht gut gelaufen, er habe da gelegentlich so Andeutungen gemacht.
Die Beamten gingen der Sache auf den Grund. Die Befragung von Verwandten, Arbeitgeber und Kollegen konnten die Hypothese der Reisers nicht bestätigen. Und dann ging Keller dieser Halbsatz von Sabine Kerkenbrock durch den Kopf: Oben oder unten? Sie würden alle Todesfälle noch einmal aufrollen müssen und aus einer völlig neuen Perspektive betrachten. Auch wenn die Reisers keine Vampire waren, die ihr Leben mit dem Blut ihrer Opfer verlängerten, so sorgten sie doch für sich für optimale Lebensbedingungen, aber er und seine Kollegin würden dieses Biotop des Grauens ein für alle Mal in eine gefahrlose Kulturlandschaft verwandeln.
ENDE
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Freitag, 9. März 2018
Brief eines Toten – ein Kurzkrimi in zwei Teilen – 2. Teil
c. fabry, 09:45h
Dort stand:
Liebe Kirstin!
Wenn Du diese Zeilen in Deinen Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben und Du vielleicht schon längst erwachsen. Ich habe einen Notar damit beauftragt, Dir meine Beichte zuzustellen, sobald ihn die Nachricht meines Todes erreicht. Ich konnte dies nicht tun, so lange ich lebte, denn dann hätte ich damit rechnen müssen, dass Du Strafanzeige gegen mich erstattest und ich hätte die nächsten Jahre im Strafvollzug verbringen müssen. Dazu war ich nicht bereit. Aber was ich getan habe, habe ich auch für Dich getan – und vor allem für jene, die Dir nachgefolgt wären, wenn ich nicht gehandelt hätte.
Ich war ungeheuer stolz auf meinen Sohn, der ein beachtliches Abitur hinlegte und sich anschließend für ein Studium der evangelischen Theologie entschied. Dass er in Tübingen und Marburg problemlos einen Studienplatz erhielt und mit Auszeichnung abschloss, beeindruckte mich umso mehr. Er fand früh eine ebenso attraktive wie respektable Ehefrau und gründete noch im Vikariat eine Familie. Bereits im Alter von 30 Jahren hatte er seine erste feste Stelle, damals im Kirchenkreis Siegen. Als ich ihn dort nach etwa einem Jahr zum wiederholten Mal für längere Zeit besuchte, fiel mir auf, dass eine 17-jährige Ehrenamtliche, die den Mädchen-Bibelkreis leitete, täglich bei ihm aufkreuzte und unverhältnismäßig lange blieb. Alexanders Frau bemerkte das nicht einmal, sie war viel zu sehr mit ihren damals zwei kleinen Kindern beschäftigt. Die glühenden Blicke, die der naive Backfisch meinem anziehenden Sohn zuwarf, waren jedoch kaum zu ignorieren und ich stellte fest, dass er sie unentwegt ermutigte, schamlos mit ihr flirtete und sie generös mit Komplimenten überschüttete, wie besonders sie sei, wie klug, wie einfühlsam und so weiter. Ich machte ihm die Hölle heiß und er ließ von dem Mädchen ab. Ich hielt es für einen Ausrutscher. Er war fast 33 Jahre alt, als er schließlich die Stelle hier in Spradow antrat und ich freute mich, dass ich endlich wieder die Gelegenheit hatte, täglich ihn und meine Enkel zu sehen, die mittlerweile zu dritt waren. Er war gerade ein halbes Jahr in seinem neuen Wirkungskreis, da bemerkte ich seinen Annäherungsversuch an eine 14-jährige Neukonfirmierte, den ich sogleich im Keim erstickte. Etwa ein halbes Jahr später fand ich heraus, dass er sich direkt im Anschluss eine 16-Jährige geangelt hatte, dabei war er allerdings viel geschickter vorgegangen. Ich hatte ihn nur zufällig entdeckt und stellte ihm ein Ultimatum: endlich damit aufzuhören oder ich würde ihn anzeigen.
Zwei Jahre später – er war mittlerweile 35 Jahre alt und seine Älteste ging bereits zur Schule - erwischt ich ihn erneut mit einer 15-Jährigen – mit Dir. Ich war ja schon außer mir, als er den jungen Mädchen mit überfreundlicher Zuwendung und unangemessenem Körperkontakt die Köpfe verdreht hatte, aber was er mit Dir angestellt hat, das sprengte meine Vorstellungskraft. Es wäre mir schon peinlich gewesen, ihn mit seiner Frau zu überraschen, aber als ich dann sah, dass Du es warst, eine minderjährige Kindergottesdiensthelferin, da stürzte meine Welt ein wie ein Kartenhaus. In meiner Verzweiflung stellte ich seine Wohnung auf den Kopf, ohne einen Plan, was ich da eigentlich suchte. Schließlich fand ich Massen von Fotos, Briefen und Aufzeichnungen, die belegten, dass er mit mindestens zwölf Mädchen Affären gehabt hatte.
Wie konnte ich zulassen, dass der Mann, dem ich das Leben geschenkt hatte, den ich zu dem erzogen hatte, was er heute war, reihenweise die Seelen junger Mädchen zerstörte, nur um seinen absonderlichen Trieben zu frönen? Ich musste ihn aufhalten. Sicher, ich hätte ihn anzeigen können, dann wäre er ins Gefängnis gekommen und hätte nie wieder als Gemeindepfarrer arbeiten können. Aber spätestens nach zehn Jahren oder eher wäre er aus der Haft entlassen worden und ich bin sicher, dass er einen Weg gefunden hätte, erneut Mädchen zu missbrauchen. Das konnte ich auf keinen Fall zulassen. Ich war dafür verantwortlich, dass er existierte, ich musste dafür sorgen, dass er nie wieder Schaden anrichtete. Vielleicht war auch ein wenig Egoismus im Spiel, als ich beschloss, ihn ohne das Bekanntwerden seiner ungeheuerlichen Taten in den Tod zu schicken. Ob das verzeihlich ist, weiß nur Gott. Wäre jemand anderes des Verbrechens bezichtigt worden, das ich begangen habe, hätte ich mich sofort gestellt. Aber das war nicht nötig, der Arzt stellte einen natürlichen Tod fest. Als Krankenschwester weiß ich, wie man einen Infarkt auslöst, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich hoffe, die Wunden, die mein Sohn Dir in jungen Jahren zugefügt hat, werden im Laufe Deines Lebens verheilen. Ich wünsche Dir für Deinen weiteren Weg alles Gute.
Deine Anneliese Buschmann
Ende
Liebe Kirstin!
Wenn Du diese Zeilen in Deinen Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben und Du vielleicht schon längst erwachsen. Ich habe einen Notar damit beauftragt, Dir meine Beichte zuzustellen, sobald ihn die Nachricht meines Todes erreicht. Ich konnte dies nicht tun, so lange ich lebte, denn dann hätte ich damit rechnen müssen, dass Du Strafanzeige gegen mich erstattest und ich hätte die nächsten Jahre im Strafvollzug verbringen müssen. Dazu war ich nicht bereit. Aber was ich getan habe, habe ich auch für Dich getan – und vor allem für jene, die Dir nachgefolgt wären, wenn ich nicht gehandelt hätte.
Ich war ungeheuer stolz auf meinen Sohn, der ein beachtliches Abitur hinlegte und sich anschließend für ein Studium der evangelischen Theologie entschied. Dass er in Tübingen und Marburg problemlos einen Studienplatz erhielt und mit Auszeichnung abschloss, beeindruckte mich umso mehr. Er fand früh eine ebenso attraktive wie respektable Ehefrau und gründete noch im Vikariat eine Familie. Bereits im Alter von 30 Jahren hatte er seine erste feste Stelle, damals im Kirchenkreis Siegen. Als ich ihn dort nach etwa einem Jahr zum wiederholten Mal für längere Zeit besuchte, fiel mir auf, dass eine 17-jährige Ehrenamtliche, die den Mädchen-Bibelkreis leitete, täglich bei ihm aufkreuzte und unverhältnismäßig lange blieb. Alexanders Frau bemerkte das nicht einmal, sie war viel zu sehr mit ihren damals zwei kleinen Kindern beschäftigt. Die glühenden Blicke, die der naive Backfisch meinem anziehenden Sohn zuwarf, waren jedoch kaum zu ignorieren und ich stellte fest, dass er sie unentwegt ermutigte, schamlos mit ihr flirtete und sie generös mit Komplimenten überschüttete, wie besonders sie sei, wie klug, wie einfühlsam und so weiter. Ich machte ihm die Hölle heiß und er ließ von dem Mädchen ab. Ich hielt es für einen Ausrutscher. Er war fast 33 Jahre alt, als er schließlich die Stelle hier in Spradow antrat und ich freute mich, dass ich endlich wieder die Gelegenheit hatte, täglich ihn und meine Enkel zu sehen, die mittlerweile zu dritt waren. Er war gerade ein halbes Jahr in seinem neuen Wirkungskreis, da bemerkte ich seinen Annäherungsversuch an eine 14-jährige Neukonfirmierte, den ich sogleich im Keim erstickte. Etwa ein halbes Jahr später fand ich heraus, dass er sich direkt im Anschluss eine 16-Jährige geangelt hatte, dabei war er allerdings viel geschickter vorgegangen. Ich hatte ihn nur zufällig entdeckt und stellte ihm ein Ultimatum: endlich damit aufzuhören oder ich würde ihn anzeigen.
Zwei Jahre später – er war mittlerweile 35 Jahre alt und seine Älteste ging bereits zur Schule - erwischt ich ihn erneut mit einer 15-Jährigen – mit Dir. Ich war ja schon außer mir, als er den jungen Mädchen mit überfreundlicher Zuwendung und unangemessenem Körperkontakt die Köpfe verdreht hatte, aber was er mit Dir angestellt hat, das sprengte meine Vorstellungskraft. Es wäre mir schon peinlich gewesen, ihn mit seiner Frau zu überraschen, aber als ich dann sah, dass Du es warst, eine minderjährige Kindergottesdiensthelferin, da stürzte meine Welt ein wie ein Kartenhaus. In meiner Verzweiflung stellte ich seine Wohnung auf den Kopf, ohne einen Plan, was ich da eigentlich suchte. Schließlich fand ich Massen von Fotos, Briefen und Aufzeichnungen, die belegten, dass er mit mindestens zwölf Mädchen Affären gehabt hatte.
Wie konnte ich zulassen, dass der Mann, dem ich das Leben geschenkt hatte, den ich zu dem erzogen hatte, was er heute war, reihenweise die Seelen junger Mädchen zerstörte, nur um seinen absonderlichen Trieben zu frönen? Ich musste ihn aufhalten. Sicher, ich hätte ihn anzeigen können, dann wäre er ins Gefängnis gekommen und hätte nie wieder als Gemeindepfarrer arbeiten können. Aber spätestens nach zehn Jahren oder eher wäre er aus der Haft entlassen worden und ich bin sicher, dass er einen Weg gefunden hätte, erneut Mädchen zu missbrauchen. Das konnte ich auf keinen Fall zulassen. Ich war dafür verantwortlich, dass er existierte, ich musste dafür sorgen, dass er nie wieder Schaden anrichtete. Vielleicht war auch ein wenig Egoismus im Spiel, als ich beschloss, ihn ohne das Bekanntwerden seiner ungeheuerlichen Taten in den Tod zu schicken. Ob das verzeihlich ist, weiß nur Gott. Wäre jemand anderes des Verbrechens bezichtigt worden, das ich begangen habe, hätte ich mich sofort gestellt. Aber das war nicht nötig, der Arzt stellte einen natürlichen Tod fest. Als Krankenschwester weiß ich, wie man einen Infarkt auslöst, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich hoffe, die Wunden, die mein Sohn Dir in jungen Jahren zugefügt hat, werden im Laufe Deines Lebens verheilen. Ich wünsche Dir für Deinen weiteren Weg alles Gute.
Deine Anneliese Buschmann
Ende
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Freitag, 2. März 2018
Brief eines Toten – ein Kurzkrimi in zwei Teilen – 1. Teil
c. fabry, 14:52h
Das Papier fühlte sich ungewöhnlich trocken an und wirkte seltsam vergilbt. Auch die Tinte, mit der Anschrift und Absender geschrieben waren, war deutlich ausgeblichen. Straße und Wohnort waren durchgestrichen und in jüngster Zeit mit einem Kugelschreiber in einer vollkommen anderen Schrift korrigiert worden.
Es war 10 Tage vor Kirstins vierzigsten Geburtstag und sie freute sich schon lange auf die rauschende Party, glücklich und zufrieden wie sie zur Zeit mit ihrem Leben war. Und jetzt das. Ein Brief von A. Buschmann. Nur der Name stand im Absender. Keine Anschrift. Aber der Brief schien vor langer Zeit verfasst worden zu sein und das war ja auch kein Wunder, denn A. Buschmann war vor fünfundzwanzig Jahren plötzlich gestorben. Kirstin traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Was hatte Alexander ihr mitteilen wollen und warum war der Brief mindestens fünfundzwanzig Jahre unterwegs gewesen? Wer hatte ihre Adresse korrigiert, ohne sich als Vollstrecker zu erkennen zu geben?
Kirstin spürte einen tiefen Schmerz im Bauch. Keinen seelischen, sicher den auch, aber was sie vor allem spürte, war ein stechender Schmerz im Unterleib, als würde jemand sie rektal mit einem Messer penetrieren und das Folterwerkzeug zu allem Übel auch noch umdrehen. Sicher hätte es sich um ein Vielfaches schmerzhafter angefühlt, wenn so ein brutaler Akt Wirklichkeit gewesen wäre, aber es war genau dieses Bild, mit dem sie ihr gegenwärtiges Gefühl am besten beschreiben konnte.
Kirstin dachte an Alexander Buschmann. Sie dachte daran, wie sie fassungslos vor Trauer unter der riesigen Rotbuche neben der Kirche gelehnt hatte und die Tränen zuerst nicht in Fluss geraten wollten, weil der Schock alle Bahnen blockierte und wie sie sich dann Bahn gebrochen hatten, über welche Schwelle auch immer, und nicht mehr aufgehört hatten, aus ihr herauszulaufen. Wie sie sich tagelang – ach was wochen- oder sogar monatelang gefühlt hatte, als sei ihr Körper ein Gefäß aus hauchdünnen, brüchigen Textilien, gefüllt mit winzigen Kügelchen aus Styropor, ja wie ein maroder Sitzsack hatte sie sich gefühlt, kraftlos und unzusammenhängend. Und hätte jemand nur eine winzige Stelle ihrer Außenhaut verletzt, wäre all ihr Innerstes einfach aus ihr herausgelaufen und sie hätte sich aufgelöst. Eigentlich war es damals genau das gewesen, was sie sich gewünscht hatte. Ihre große Liebe war für immer von ihr gegangen und sie durfte noch nicht einmal in aller Form um ihn trauern, denn sie war für ihn offiziell nur irgendjemand gewesen und sie war sich noch nicht einmal sicher, ob er sie auch geliebt hatte.
Dann brachen die schönen Erinnerungen über sie herein. Alexanders Hände bei ihrer Konfirmation. Sie hatten bei der Einsegnung gezittert und das hatte sie verwirrt. Die Grillparty mit den anderen Helferinnen im Pfarrgarten und Alexander hatte seinen ganzen Charme spielen lassen. Graue Novembernachmittage bei Händel, knusprigen Keksen und Sherry. Alexander hatte Scotch getrunken, aber Kirstin durfte als Fünfzehnjährige keinen Branntwein trinken – eigentlich gar keinen Alkohol, aber so ein kleiner Sherry, hatte Alexander gemeint – das diene ja eher dem Erlernen eines angemessenen Umgangs mit Alkohol. Sie rekapitulierte, an welchen Stellen ihres Körpers sie überall schon seine Hände gespürt hatte und kam auf eine beträchtliche Fläche. Alles war wieder da, das Herzklopfen, das Gefühl von Verheißung und nahender Erfüllung aller Sehnsüchte und dann wieder der große Schmerz des Verlustes, der ihr beinahe das Herz heraus riss. Sie befühlte den Brief, wagte aber noch immer nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn er Verletzendes enthielt? Den unumstößlichen Beweis, dass er sie nicht einmal besonders geschätzt hatte. Was, wenn er ihr in dem Brief seine Liebe gestanden hatte? Sie würde verrückt werden, wenn ihr klar würde, was sie hätte haben können und was man ihr genommen hatte, bevor sie auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte.
Vor dem Zubettgehen nahm sie den Umschlag erneut in die Hand. Nein, sie würde ihn jetzt nicht lesen, denn wie konnte sie wissen, ob die Zeilen nicht entsetzliche Dämonen heraufbeschworen, die sie die ganze Nacht kein Augen zutun ließen. Beim Einschlafen lenkte sie ihre Gedanken zu alltäglichen, leichten Dingen: Ruwens anstehende Klassenfahrt, das Strickmuster für Sophias Pullover. Darüber schlummerte sie entspannt ein. Doch die Dämonen ließen sich in keinem papiernen Umschlag einsperren. Alexander stand vor ihr mit einem gewinnenden Lächeln und einer nie gekannten Glut in seinen Augen. Seine Stimme war warm, sein Tonfall anzüglich und er sprach davon, dass er ihr Dinge zeigen wollte, von denen sie nicht einmal ahnte, dass sie existierten. Sie wusste nicht, ob es freudige Erregung und unbändige Lust oder Panik und Ekel waren, die wie ein Hurrikan in ihrem Magen herumwirbelten. Sie konnte ihn riechen – Talg und Magensäure überdeckt von einem herben Herrenduft. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen, seine fleischigen, sehr warmen Hände, ja wo eigentlich? Sie schienen überall gleichzeitig zu sein. Sie erwachte schweißgebadet und mit rasendem Puls, lag einen Moment da, starrte an die Decke bis ihr Atem wieder gleichmäßiger ging, taumelte zur Toilette, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, das sie in einem Zug leerte und ging zurück ins Bett. Sie war so müde und erschöpft, bald glitt sie wieder in den Schlaf und die Träume wurden nicht besser. Es war immer das gleiche: Alexander kam ihr unendlich nah und sie wusste nicht, ob sie es liebte oder hasste. Als der Wecker um sechs Uhr klingelte, fühlte sie sich wie durchgeprügelt. Sie schaltete sich selbst auf Autopilot, deckte mit ihrem Mann den Frühstückstisch und schmierte die Pausenbrote für die Kinder.
„Ich habe ganz schlecht geschlafen heute Nacht.“, verkündete sie. „Ein Glück, dass ich heute frei habe. Ich glaube, ich lege mich gleich wieder hin.“
Als alle aus dem Haus waren und sie wieder allein war, kam sie über den toten Punkt hinweg . Sie duschte lange und ausgiebig, zog bequeme Kleidung an, kochte sich einen starken Kaffee und öffnete den Brief.
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt.
Es war 10 Tage vor Kirstins vierzigsten Geburtstag und sie freute sich schon lange auf die rauschende Party, glücklich und zufrieden wie sie zur Zeit mit ihrem Leben war. Und jetzt das. Ein Brief von A. Buschmann. Nur der Name stand im Absender. Keine Anschrift. Aber der Brief schien vor langer Zeit verfasst worden zu sein und das war ja auch kein Wunder, denn A. Buschmann war vor fünfundzwanzig Jahren plötzlich gestorben. Kirstin traute sich nicht, den Brief zu öffnen. Was hatte Alexander ihr mitteilen wollen und warum war der Brief mindestens fünfundzwanzig Jahre unterwegs gewesen? Wer hatte ihre Adresse korrigiert, ohne sich als Vollstrecker zu erkennen zu geben?
Kirstin spürte einen tiefen Schmerz im Bauch. Keinen seelischen, sicher den auch, aber was sie vor allem spürte, war ein stechender Schmerz im Unterleib, als würde jemand sie rektal mit einem Messer penetrieren und das Folterwerkzeug zu allem Übel auch noch umdrehen. Sicher hätte es sich um ein Vielfaches schmerzhafter angefühlt, wenn so ein brutaler Akt Wirklichkeit gewesen wäre, aber es war genau dieses Bild, mit dem sie ihr gegenwärtiges Gefühl am besten beschreiben konnte.
Kirstin dachte an Alexander Buschmann. Sie dachte daran, wie sie fassungslos vor Trauer unter der riesigen Rotbuche neben der Kirche gelehnt hatte und die Tränen zuerst nicht in Fluss geraten wollten, weil der Schock alle Bahnen blockierte und wie sie sich dann Bahn gebrochen hatten, über welche Schwelle auch immer, und nicht mehr aufgehört hatten, aus ihr herauszulaufen. Wie sie sich tagelang – ach was wochen- oder sogar monatelang gefühlt hatte, als sei ihr Körper ein Gefäß aus hauchdünnen, brüchigen Textilien, gefüllt mit winzigen Kügelchen aus Styropor, ja wie ein maroder Sitzsack hatte sie sich gefühlt, kraftlos und unzusammenhängend. Und hätte jemand nur eine winzige Stelle ihrer Außenhaut verletzt, wäre all ihr Innerstes einfach aus ihr herausgelaufen und sie hätte sich aufgelöst. Eigentlich war es damals genau das gewesen, was sie sich gewünscht hatte. Ihre große Liebe war für immer von ihr gegangen und sie durfte noch nicht einmal in aller Form um ihn trauern, denn sie war für ihn offiziell nur irgendjemand gewesen und sie war sich noch nicht einmal sicher, ob er sie auch geliebt hatte.
Dann brachen die schönen Erinnerungen über sie herein. Alexanders Hände bei ihrer Konfirmation. Sie hatten bei der Einsegnung gezittert und das hatte sie verwirrt. Die Grillparty mit den anderen Helferinnen im Pfarrgarten und Alexander hatte seinen ganzen Charme spielen lassen. Graue Novembernachmittage bei Händel, knusprigen Keksen und Sherry. Alexander hatte Scotch getrunken, aber Kirstin durfte als Fünfzehnjährige keinen Branntwein trinken – eigentlich gar keinen Alkohol, aber so ein kleiner Sherry, hatte Alexander gemeint – das diene ja eher dem Erlernen eines angemessenen Umgangs mit Alkohol. Sie rekapitulierte, an welchen Stellen ihres Körpers sie überall schon seine Hände gespürt hatte und kam auf eine beträchtliche Fläche. Alles war wieder da, das Herzklopfen, das Gefühl von Verheißung und nahender Erfüllung aller Sehnsüchte und dann wieder der große Schmerz des Verlustes, der ihr beinahe das Herz heraus riss. Sie befühlte den Brief, wagte aber noch immer nicht, ihn zu öffnen. Was, wenn er Verletzendes enthielt? Den unumstößlichen Beweis, dass er sie nicht einmal besonders geschätzt hatte. Was, wenn er ihr in dem Brief seine Liebe gestanden hatte? Sie würde verrückt werden, wenn ihr klar würde, was sie hätte haben können und was man ihr genommen hatte, bevor sie auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte.
Vor dem Zubettgehen nahm sie den Umschlag erneut in die Hand. Nein, sie würde ihn jetzt nicht lesen, denn wie konnte sie wissen, ob die Zeilen nicht entsetzliche Dämonen heraufbeschworen, die sie die ganze Nacht kein Augen zutun ließen. Beim Einschlafen lenkte sie ihre Gedanken zu alltäglichen, leichten Dingen: Ruwens anstehende Klassenfahrt, das Strickmuster für Sophias Pullover. Darüber schlummerte sie entspannt ein. Doch die Dämonen ließen sich in keinem papiernen Umschlag einsperren. Alexander stand vor ihr mit einem gewinnenden Lächeln und einer nie gekannten Glut in seinen Augen. Seine Stimme war warm, sein Tonfall anzüglich und er sprach davon, dass er ihr Dinge zeigen wollte, von denen sie nicht einmal ahnte, dass sie existierten. Sie wusste nicht, ob es freudige Erregung und unbändige Lust oder Panik und Ekel waren, die wie ein Hurrikan in ihrem Magen herumwirbelten. Sie konnte ihn riechen – Talg und Magensäure überdeckt von einem herben Herrenduft. Sie spürte seinen Atem auf ihren Wangen, seine fleischigen, sehr warmen Hände, ja wo eigentlich? Sie schienen überall gleichzeitig zu sein. Sie erwachte schweißgebadet und mit rasendem Puls, lag einen Moment da, starrte an die Decke bis ihr Atem wieder gleichmäßiger ging, taumelte zur Toilette, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser, das sie in einem Zug leerte und ging zurück ins Bett. Sie war so müde und erschöpft, bald glitt sie wieder in den Schlaf und die Träume wurden nicht besser. Es war immer das gleiche: Alexander kam ihr unendlich nah und sie wusste nicht, ob sie es liebte oder hasste. Als der Wecker um sechs Uhr klingelte, fühlte sie sich wie durchgeprügelt. Sie schaltete sich selbst auf Autopilot, deckte mit ihrem Mann den Frühstückstisch und schmierte die Pausenbrote für die Kinder.
„Ich habe ganz schlecht geschlafen heute Nacht.“, verkündete sie. „Ein Glück, dass ich heute frei habe. Ich glaube, ich lege mich gleich wieder hin.“
Als alle aus dem Haus waren und sie wieder allein war, kam sie über den toten Punkt hinweg . Sie duschte lange und ausgiebig, zog bequeme Kleidung an, kochte sich einen starken Kaffee und öffnete den Brief.
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt.
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