Freitag, 16. Februar 2018
Rotraut Reloaded - ein interaktiver Werkstattkrimi
Keinmann hat schon Interesse angemeldet, aber es sind auch weitere Autorinnen und Autoren willkommen, gemeinsam diesen Krimi ins Blaue zu schreiben, bei dem alles offen ist - Ihr habt eine Woche Zeit. Die Kommentare, werden dann nach und nach in den Beitragstext kopiert, das liest sich besser. Und hier nun der Anfang:

Rotraut blickte in den trüben, winterlichen Nachmittagshimmel und spürte diese immer unerträglicher werdende Sehnsucht nach Sommer, Sonne, Wärme und Farben. Wie schön hatte im letzten Herbst alles im Garten geleuchtet und nun war da nur grau, braun, schwarz und bestenfalls dunkelgrün. Nicht einmal der Schnee blieb liegen. Ob ihr wohl ein weiterer Frühling vergönnt war? Sie fühlte sich so seltsam leer und aufgebraucht, wie ein rostiges altes Auto auf Reserve. Es wäre ja vielleicht nur gerecht, wenn sie sich durch einen langen, trüben, freudlosen und lebensfeindlichen Winter quälen musste, um noch vor dem ersten Frühlingsleuchten von dieser Welt Abschied zu nehmen. Sie hatte geglaubt, nach dem Abgang der schäbigen Schwägerin würde es ihr besser gehen, aber da war nur Leere, so als hätten die Eskapaden mit Mechthild ihre sämtliche Lebensenergie verbraucht, als wäre Mechthilds Lebenswille an Rotrauts verbleibende Energien gekoppelt gewesen. Dabei brauchte sie keinen Feind und auch keine Feindin, um ein Ziel zu haben, sie hatte doch so viele Hobbys: Ihren Blumengarten, das Gemüsebeet, die Seidenmalerei, den Literaturkreis und das Kuchenbacken. Doch all das schien ihr zwischen den Fingern zu zerrinnen. Es war kaum noch jemand da, der überhaupt Kuchen essen wollte. Die Jungen waren weggezogen oder hatten nie Zeit, die Alten waren gestorben oder litten an Diabetes oder anderen Stoffwechselstörungen. Für Blumen und Gemüse war jetzt keine Zeit und in dieser Welt ohne Farbe fehlte ihr jegliche Inspiration für die Malerei. Das Fernsehprogramm war viel zu laut und hektisch geworden und Stricken und Häkeln hatte sie schon als Jugendliche gehasst und diese Aversion bis heute nicht abgelegt. Fieberhaft dachte sie darüber nach, mit welcher Beschäftigung sie ihre Lebensfreude und damit auch ihre Schaffenskraft zurückgewinnen könnte. Und da hatte sie plötzlich einen Einfall.

sonnensplitter, Freitag, 16. Februar 2018, 22:26
Ihre Nichte Juliane,die erstaunlich liebenswerte Tochter dieser impertinenten Frau, die Rotraut nun endlich los war, hatte sich vor Jahren in Karls Gartenhaus,Gott hab ihn selig, eine kleine Töpferwerkstatt eingerichtet. Sie und ihr geliebter Gatte hatten für Juliane immer viel übrig gehabt,konnte sie doch nichts für ihre Mutter und hatten ihr damals gern Raum für die Werkstatt zur Verfügung gestellt. Sie war so talentiert gewesen! Eine Schande,dass Mechthild sie nicht unterstützt hatte und sie letztlich in einen "anständigen" Beruf nötigte, statt sie der "brotlosen Kunst" nachgehen zu lassen.
Juliane hatte das Talent zu großen Werken....so hing sie einen Moment den Erinnerungen nach, bevor sie sich den Schlüssel vom Gartenhaus schnappte und ihr Haus durch die Hintertür verließ.

keinmann, Samstag, 17. Februar 2018, 11:57
Eilig schritt Rotraut durch den Blumengarten, vorbei an ihren Gemüsebeeten, dem alten Gartenhaus zu.
Seit langem hatte sie es gemieden, diesen Ort aufzusuchen: Zu viele schöne Erinnerungen - an heitere Tage und sternklare Nächte mit Karl, an ihre Nichte Juliane ... zu viele unschöne Szenen, die sich hier mit Mechthild abgespielt hatten - die zuletzt, in einem Anfall aus Selbstgerechtigkeit und Eifersucht auf die künstlerischen Neigungen ihrer Tochter, versucht hatte, alles in Grund und Boden zu stampfen.
Beim Gedanken daran ballte Rotraut in ohnmächtiger Wut ihre Faust, die jetzt so krampfhaft den alten Schlüssel umschloss, dass ihre Knöchel weiß hervorstanden.
Sie atmete tief ein - in der irren Hoffnung, dass sie dem standhalten konnte, was sie gleich erblicken würde. Rotraut kniff die Augen zusammen und in einem Anfall mutiger Verzweiflung steckte sie den Schlüssel ins Schloss ...


C. Fabry, Samstag, 17. Februar, 14:00
Es war schon eine Weile her, dass sie das Schloss zum letzten Mal benutzt hatte und die winterliche Kälte und Feuchtigkeit hatten dem uralten Schloss zugesetzt, darum dauerte es eine ganze Weile, bis der Schlüssel passend steckte und es erforderte viel Geschick und Fingerspitzengefühl ihn so im Schloss umzudrehen, dass die Tür entriegelt wurde. Die lebensfeindliche Witterung hatte auch das Holz aufquellen lassen und so schabte die alte Tür ratschend über den Estrich. Nichts hatte sich seit dem letzten Mal verändert. Warum auch?, dachte Rotraut, schließlich lebte sie allein und an die Heinzelmännchen glaubte sie schon lange nicht mehr. Überall lagen die Scherben der zerschlagenen Objekte, die große, mechanische Töpferscheibe lag noch immer auf der Seite und alles war mit einer dicken Patina aus Staub und Spinnweben überzogen. Ein paar Holzspäne auf dem Boden ließen Mäuse vermuten, die sich den Winter über im ruhigen Gartenhaus einquartiert hatten - hier kam ja nicht einmal die Katze hinein. Es grenzte an ein Wunder, dass damals niemand auf die Idee gekommen war, in Julianes Atelier nach dem Rechten zu sehen, obwohl sie doch tagelang verhört worden war, denn es hatten etliche Nachbarn ausgesagt, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nahezu feindlich gewesen war. Jetzt war alles gut. Mechthilds Asche diffundierte allmählich ins umliegende Erdreich ihrer Grabstätte, ihre DNA war unwiederbringlich verloren und die Blutspritzer in der Werkstatt waren kaum von den Farbklecksen der Tonlasuren zu unterscheiden. "Höllenqualen ihrer Asche", murmelte Rotraut, denn nicht einmal im Tod gönnte sie ihrer Schwägerin Frieden, schließlich hatte sie auch niemandem ein glückliches Leben frei von Anfeindungen gegönnt und alles dafür getan, den Frieden allgegenwärtig zu stören. Die Bilder kamen wieder hoch wie explodierende Feuerwerkskörper: Julianes entspanntes Lächeln beim surren der Töpferscheibe, ihre schlanken, geschickten Hände, die langsam den Ton hoch zogen und ihm bizarre, nie dagewesene Formen verliehen, ja sie war wie eine Göttin gewesen, sie hatte der toten Erde Leben eingehaucht. Und dann das knallen der auffliegenden Tür, die rücksichtslos gegen die Mauer schlug, Mechthilds hysterisches Gekreische von brotloser Kunst und Schande in der Nachbarschaft, das Zerschellen der Töpfe unter Mechthilds Brecheisen, das den Vorsatz ihrer Handlungsweise unterstrich, Julianes verzweifelte Rufe, und sie Rotraut mittendrin wie gelähmt, Zeugin dieser bestialischen Szene. Sie würde sich im Laufe des Frühjahrs dem ganzen Elend stellten, aber noch nicht jetzt. Dafür fehlte ihr die Kraft.

der imperialist, Samstag, 17. Februar 2018, 17:32
Was nur zu verständlich war bei dieser Diagnose. Retrograde Amnesie, ausgelöst durch einen schweren Schlag auf den Kopf. Ihr wurde gesagt ihr Name sei Rotraut. Rotraut Töpfer...

keinmann, Sonntag, 18. Februar 2018, 13:04
Doch für eines musste sie jetzt ihre ganze Kraft zusammennehmen: Für Juliane. Sie musste sie aus den Psychiatrischen Kliniken herausholen. Das letzte Mal, als sie Juliane dort besucht hatte, war diese nur noch ein Bild des Jammers: Aufgedunsenes Gesicht, zitternde Hände ...diese schönen, schlanken Künstlerhände ...!
Die Retrograde Amnesie, die ausgelöst wurde durch Mechthilds schweren Schlag auf den Kopf ihrer Tochter, hatte bei der stillen, in sich gekehrten, künstlerisch veranlagten, zarten Seele einen solchen Schaden angerichtet, dass Juliane seitdem in dem wahnhaften Glauben war, ihre geliebte Tante zu sein. Deshalb nannte sie sich jetzt Rotraut Töpfer ... ein Umstand, der für Rotraut schier unerträglich war. Es musste dringend etwas geschehen: Juliane musste hierher gebracht und Schritt für Schritt mit der schrecklichen Vergangenheit konfrontiert werden, damit überhaupt eine Heilung möglich war. Sie nur mit Tabletten vollzupumpen, konnte auf Dauer keine Lösung sein. Aber wie konnte Roraut ihr das plötzliche Verschwinden ihrer Mutter erklären ...?

C. Fabry, Montag, 19. Februar 2018, 18:53
Vielleicht war es an der Zeit, den Schuppen wieder herzurichten. Sie holte den alten Ascheeimer aus der Ecke und sammelte Scherben und Unrat ein. Danach schnappte sie sich den guten Kokosfaserbesen und fegte mit kräftigen Strichen über den Estrich, bis alles wieder sauber und aufgeräumt aussah - nicht einmal ein Fitzelchen Mäusedreck war zu sehen. Doch sie war völlig außer Atem, denn nach dem langen Winter hatte ihre Kondition deutlich nachgelassen. Das musste für heute reichen. Sie schloss die Tür, drehte den Schlüssel um und kehrte ins Haus zurück, um sich einen schnellen Tüten-Cappuccino aufzubrühen. Den hatte sie vor einigen Jahren entdeckt, liebte das künstliche Aroma und war begeistert von der unkomplizierten Zubereitung. Rotraut saß in ihrem hellen Wohnzimmer, nippte an dem Industrie-Getränk und knabberte dazu ein paar Kokoskekse. Sie wollte Juliane ins Leben zurückholen. Sie brauchte einen Plan. Für eine Konfrontation mit der Wirklichkeit war es noch zu früh. Zumindest, was Julianes Wirklichkeit betraf. Aber da sie sich ja selbst für Rotraut hielt, könnte sie ja mit Rotrauts Realität konfrontiert werden. Sie könnten Anfangen mit Erfahrungen, die Jahrzehnte zurücklagen. Sie selbst würde sich als Rotrauts verstorbene Freundin Irene ausgeben - die hatte ihr immer fast so ähnlich gesehen wie eine Zwillingsschwester - und dann könnte sie mit Juliane über die alten Zeiten plaudern. Sie würde beginnen mit der Geschichte, wie Mechthild damals plötzlich in Rotrauts und Hektors Flitterwochen aufgetaucht war und sich in der Ferienwohnung häuslich niedergelassen hatte.

keinmann, Dienstag, 20. Februar 2018, 17:17
Hektor? Rotraut wurde selbst schon ganz wirr im Kopf, hieß ihr Mann nicht Karl? Und woher sollte Juliane Rotrauts alte Erinnerungen kennen, sie lebte ja nur in der wahnhaften Verkennung, selber Rotraut zu sein … bei all diesen Überlegungen schwirrte ihr der Kopf, viel lieber wollte sie sich jetzt schönen Erinnerungen hingeben: Ihre Flitterwochen, damals, vor vierzig Jahren, mit Karl: Jauchzendes Erwachen am Morgen, inniges Beisammensein an unbeschwerten Tagen, einsame Strände, sternenklare Nächte, heiße Umarmungen … bis Mechthild auftauchte, dieses impertinente Luder.

c. fabry, Mittwoch, 21. Februar 2018, 10:25
Sie saßen gerade beim Frühstück im Rimini Miramare und hatten für diesen Tag einen Ausflug nach Venedig auf dem Programm, da sah Rotraut, wie plötzlich Karls Gesichtszüge entgleisten, ganz so, als hätte er ein Gespenst gesehen. Sie drehte sich um und blickte in das irre, dreist grinsende Gesicht ihrer verhassten Schwägerin. Sie hatte sie von Anfang an nicht ausstehen können.
"M - Mechthild", hatte Karl gestottert. "Was tust du hier?"
"Ich habe überraschend Urlaub bekommen, bin ins Reisebüro gegangen und habe das erstbeste Hotel gebucht. Ich wusste gar nicht, dass ihr auch hier abgestiegen seid, das ist ja witzig. Und so praktisch. Ihr zwei sprecht ja kein Wort Italienisch, ich dagegen... Und was habt ihr heute vor?"
"Venedig.", antwortete Karl einsilbig. Er stand noch immer unter Schock. Seine ganze Kindheit und Jugend hindurch hatte er unter dem Pantoffel seiner großen Schwester gestanden und Rotraut beschlich allmählich das Gefühl, dass sie für ihn nichts weiter war als eine Flucht aus der familiären Enge, die ihm auf normalem Wege nicht gelingen wollte.
"Venedig?", fragte Mechthild strahlend. "Da komme ich natürlich mit. Ihr müsst den Dogenpalast sehen und im Florian am Markusplatz Kaffee trinken."
"Wir hatten erst einmal eine Gondelfahrt geplant.", bemerkte Rotraut verschnupft. "Zu zweit."
"Ach das lohnt sich doch gar nicht.", wischte Mechthild Rotrauts Einwand beiseite. "Diese Gondolieri sind die schlimmsten Halsabschneider. Man sitzt so nah am Wasser, dass es stinkt, die singen disharmonisch 'Oh Sole Mio', spritzen euch nass und verlangen am Ende ein Vermögen dafür. Wenn ihr die Stadt vom Wasser aus bewundern wollt, gibt es eine Linie mit dem Vaporetto, eine Art öffentlicher Bus auf den Kanälen. Also schlagt euch die Gondeln aus dem Kopf, wir nehmen den Vaporetto, steigen an der Piazza San Marco aus, gehen in den Palazzo Ducale, trinken Kaffee im Florian, setzen die Vaporetto-Fahrt fort, essen im Ghetto Ebraico - da ist es gut und preiswert und sehr ruhig, dann machen wir einen längeren Verdauungsspaziergang durch die Calle, unternehmen eine Fahrt nach Murano, essen dort eine Kleinigkeit und abends gehen wir in La Fenice - falls es noch Karten gibt - also das ist die berühmte Oper im Herzen Venedigs."
Trotz Rotrauts vehementer Proteste hatte Mechthild sich durchgesetzt und so war es die gesamten Flitterwochen weitergegangen. Naürlich war die Schwägerin nicht zufällig im Rimini Miramare gelandet, sie war in Panik geraten, weil ihr der Verlust der Kontrolle über ihren kleinen Bruder drohte. Sie klebte an ihnen wie eine Klette, nur die Nächte hatten sie für sich, aber sie hatten kaum etwas davon, denn Mechthild sorgte für ein straffes Programm, nach dem sie nur noch erschöpft auf die Matratze sanken und morgens noch halb zerstört unter die Dusche schlichen. Und dann war Hektor aufgetaucht.



keinmann, Mittwoch, 21. Februar 2018, 12:31



Gottseidank. Denn der galante Hektor van de Groen war ein Womanizer, wie er im Buche stand. Seinen aalglatten Charme-Offensiven konnte selbst die altjüngferlich anmutende Mechthild in ihrem spitzzüngigen, kaltschnäutzigen Charakterpanzer nicht widerstehen. Intuitiv schien sie zu wissen, dass sie Zuhause nie wieder so umschwärmt werden würde, deshalb griff sie mit ihren langen, spitzen, rotlackierten Krallen sofort zu - und bot sich dem distinguiert und gebildet wirkenden Herrn van de Groen an wie Sauerbier.
Rotraut und Karl kam der feine Herr aus Belgien gerade sehr gelegen - und es machte ihnen überhaupt nichts aus, dass schon während der Werbewochen um Mechthild hinter ihrem Rücken im Hotel geflüstert wurde, dass dieser van de Groen ein Pleitier und Heiratsschwindler sei, der Ausschau nach wohlhabenden, unattraktiven, einsamen Frauen wie Mechthild geworfen habe, die ihm seine Vita finanzieren sollten ...

C. Fabry, Donnerstag, 22.02., 13:12 Uhr
Aber Mechthild hatte großes Glück gehabt - wie viel zu oft im Leben - und trotz der Heirat mit dem belgischen Taugenichts hatte ihr Schicksal eine grandiose Wendung genommen, als König Zufall Hektor einen Glücksgriff bei seinen Spekulationen bescherte. Plötzlich waren sie reich und sicher hätte Hektor alles mit fremden, schönen Frauen verjubelt, doch das Schicksal stand ein zweites Mal auf Mechthilds Seite und Hektor verstarb plötzlich und unerwartet - da war Juliane gerade zwei Jahre alt gewesen.
Mechthild war nun reich, aber brauchte als einsame, junge Witwe natürlich jeden Trost und jede Zuwendung, die überhaupt möglich war. Kein Tag verging, an dem sie nicht entweder Karl zu sich beorderte, um irgendein banales Problem zu lösen wie verstopfte Abflüsse oder Mäuse im Gartenhaus oder sie kam selbst bei Rotraut vorbei und bat sie, auf Juliane acht zu geben oder Mechthild die Haare aufzudrehen. Und dabei verhielt sie sich nie wie ein Gast sondern wie die Hausherrin persönlich. Wie oft hatte Rotraut sich mit Karl gestritten, der herrschsüctigen Schwester endlich Grenzen zu setzen, aber ihrem weichherzigen Mann hatte immer der Schneid dazu gefehlt und Blut ist ja bekanntlich dicker als Wasser.
keinmann, Freitag, 23. Februar 2018, 10:20
Karl gehörte zu jener Sorte Männer, die ihre Ruhe haben wollen und versuchen, es allen recht zu machen und nur ungern klar Position beziehen. Er scheute die Auseinandersetzung mit seiner Schwester und wollte mit geringstmöglichem Aufwand den größtmöglichen Hausfrieden erhalten. Doch da hatte er nicht mit den beiden Frauen gerechnet: Mit ihren unterschiedlichen Erwartungs- und Bedürfnishaltungen zerrten Rotraut und Mechthild an ihm – und an seinen Nerven.
Karl zog sich emotional mehr und mehr zurück – am Liebsten in sein Gartenhäuschen - und überließ die Grabenkämpfe mit der herrschsüchtigen Schwester lieber seiner Frau.
Nur die feinsinnige, kleine Juliane, die Karls ruhigem Wesen sehr ähnlich war, vermochte es stets, ihn in diesem Streitorchester mit ihrem fröhlichen Lachen und Plappern aufzumuntern. Er liebte die Kleine, die sich ebenfalls intuitiv zum gutmütigen und schweigsamen Onkel Karl hingezogen fühlte.
Es kam nicht selten vor, wenn sich ihre Mutter und Tante Rotraut in der Küche wie die Kesselflicker stritten, dass die kleine Juliane davonlief, um sich bei Onkel Karl im Gartenhaus zu verkriechen.
Dort verbrachten dann die beiden in schweigender Symbiose ihren Tag, zogen kleine Pflänzchen für das Gartenbeet hoch oder bastelten und werkelten miteinander Drachen, Vogelhäuschen und Möbel für Julianes Puppenstube …

Im Laufe der Zeit war Juliane das innig geliebte und umsorgte Ziehkind von Karl und Rotraut – ein Umstand, der Mechthild rasend machte und sie zu verbissenen Vorwürfen veranlasste, die beiden wollten ihr mit Absicht das Kind entfremden.
Doch Mechthilds Bestrebungen, Juliane mit entschlossenen Handgriffen und harten Maßnahmen vom Einfluss der beiden fernzuhalten, gingen ins Leere: Die Liebe vermag alle Verbote und einschränkenden Maßnahmen zu umgehen – das Kind nahm jede Gelegenheit war, in der wärmenden und fürsorglichen Umgebung von Tante Rotraut und Onkel Karl zu sein.
Als klar wurde, dass Rotraut nach einigen Aborten in der Frühschwangerschaft nie ein eigenes Kind haben würde, startete Mechthild einen ihrer perfidesten Schachzüge: Sie gab Juliane in ein Internat - weil ihr Kind die Nähe zu ihr mehr und mehr mied und verweigerte, entzog sie es jenen, die es liebte. Aus Bosheit, aus Eifersucht - und einfach, weil sie es konnte.
Damit nahm sie Rotraut und Karl jeden Trost, ihr kinderloses Schicksal durch die Hinwendung und Fürsorge für die kleine Juliane zu mildern. Karl wurde zu einem schweigsamen Eigenbrötler, einem in sich gekehrten, traurigen Mann, dem Mechthild das Gefühl vermittelte, seiner Schwester und seiner Frau gegenüber und im Leben generell versagt zu haben. Auch vor Rotraut demonstrierte Mechthild gerne ihre scheinbare Überlegenheit: Sie, Mechthild, war Mutter geworden, reich, finanziell unabhängig ... und besaß scheinbar alles, was Karl und Rotraut sich für ihr Leben gewünscht hatten. Selbst das Haus, in dem Karl und Rotraut zur Miete wohnten, gehörte Mechthild.

Eines Tages trieb es Mechthilds Bosheit auf die Spitze: An jenem Tag, als sie, in exaltiertem Zustand, eingehüllt in eine Wolke exklusiven Parfums und teure Designerklamotten, mit diesen zwei Architekten durch Karls und Rotrauts Garten gestöckelt kam und, bereits von weitem hörbar, offensichtlich in bester Champagner-Stimmung kreischte: „… und der ganze Mist hier draußen, das ganze Gartengedöns mit der alten Bretterbude, das kommt alles wech, da kommen Parkplätze für unser Appartement-Projekt hin …!“

sonnensplitter, Freitag, 23. Februar 2018, 07:13
Sie riss sich selbst aus ihren Gedanken an diese unschöne Seite ihren doch sonst glücklichen Ehe. Jetzt ging es um Juliane und darum,wie sie das Mädchen zu sich holen konnte. Ihr Zustand hielt nun schon zu lange an und niemand außer ihr glaubte daran, dass sie je wieder zurückkehrte. Oft schon hatte die Ärzte sie vorsichtig darauf angesprochen, dass eine gerichtlich bestellte Betreuung eingerichtet werden sollte, denn dass Rotraut im Moment fast alle wichtigen Entscheidungen traf,war rechtlich nicht länger tragbar. Bisher hatte sie alles daran gesetzt, dies zu verhindern, aber endlich erkannte sie die Chance,die sich ihr bot.
Mit neuer Zuversicht eilte sie zum Telefon und wählte die Nummer von Christoph Schmidt, dem behandelden Oberarzt ihrer Nichte.

C. Fabry, Freitag, 23.02.2018
"Hören Sie, Dr. Schmidt", erkärte Rotraut. "Eigentlich wollte ich dieses Geheimnis mit ins grab nehmen, aber nun scheint mir geboten, die Wahrheit zu sagen. Juliane ist meine leibliche Tochter. Mein Mann und ich waren finanziell sehr schlecht aufgestellt während meine Schwägerin und mein Schwager dem Kind alles bieten konnten. Als es uns besser ging, ließ sich dieses Arrangement nicht mehr Rückgängig machen, dafür war Juliane schon zu alt. Ich möchte sie gern bei mir haben, sie hat sich hier immer wohl gefühlt, vermutlich hat sie instinktiv gespürt, dass wir ihre wirklichen Eltern waren. Ich denke in der vetrauten Umgebung, die durchweg positiv besetzt ist, wird sie schneller genesen als in jeder noch so guten Klinik."
"Das ist gut möglich. Aber wir müssten schon einwandfrei feststellen, dass Sie die leibliche Mutter von Frau van de Groen sind, also einen DNA-Abgleich machen."
"Oh, das ist kein Problem, ich kann Ihnen gelich ein paar Haare von mir bringen."
"Wir würden ihnen lieber Blut abnehmen."
"Oh bitte nicht.", protestierte Rotraut. "Ich habe Rollvenen und ein regelrechts Kanülen-Trauma. Wenn es nicht absolut notwendig ist, vermeide ich das. Aus einem Haar kann man doch auch DNA isolieren."
"Ja, schon, das ist aber aufwändiger. Und sollte sich herausstellen, dass Sie gelogen haben, werden Sie auf keinen Fall mehr für Frau van de Groen sorgen dürfen."
"Ja, das verstehe ich.", antwortete Rotraut, überredete den Arzt aber, ihr die Nichte gleich zu überlassen.
Rotraut lief in den Keller. Dort hatte sie - warum genau wusste sie eigentlich nicht - Mechthilds handtasche aufbewahrt. Darin befand sich noch immer die Haarbürste ihrer Schwägerin und glücklicherweise hatte mechthild genauso schlohweiße Haare gehabt wie Rotraut. Der Plan war also todsicher.
Beim Anblick der verhassten Gucci-Tasche lief das Erlebte noch einmal wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab:
Mechthilds Auftritt, ihr Gekreische, ihre Beleidigungen, wie sie mit der Brechstange die zarten Vasen und Töpfe zerschlagen und schließlich das Eisen quer durch den Raum in Julianes Richtung geschleudert und sie nur um Haaresbreite verfehlt hatte. Wie sich Julianes Gesichtsausdruck plötzlich verändert hatte und ein Ruck durch ihren Körper gegangen war, wie sie sich nach dem Brecheisen gebückt hatte und damit auf Mechthild losgegangen war, wie sie unerbittlich auf ihre verhasste Mutter eingedroschen hatte, bis diese kraftlos zu Boden gegangen war. Rotraut hatte alles mit angesehen, sich über den leblosen Körper ihrer Schwägerin gebeugt und ihren tod festgestellt. Dann hatte sie ihrer Nichte erklärt: "Du musst mir gleich helfen, deine Mutter auf den Pick-up zu heben. Danach gehst du ins Bad, duscht gründlich und legst deine Kleidung auf einen Haufen. Ich gebe dir neue Sachen von mir, dein Zeug muss verschwinden."
Rotraut hatte malerfolie auf die ladefläche des Pickups gelegt und Mechthild mit Julianes Hilfe daraufgehoben - die Hecken um das grundstück waren zu hoch, als dass Nachbarn etwas hätten bemerken können. Dann hatte sie Juliane ins Haus geschickt, die Leiche mit undurchsichtiger gartenplane abgedeckt und mit ZUrrgurten, die im Fußraum von Mechthilds Pick-up lagen gesichert. Sie hatte Juliane frische Kleidung gebracht und die Sachen ihrer Nichte in der Feuertonne verbrannt. Dann hatte sie Kuchen gekauft und Kaffee gekocht. Sie hatte es sich mit Juliane gemütlich gemacht und ihr Schlaftabletten gegeben, damit sie zur Ruhe kam, sie sollte sich ins Bett legen.
Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sie den Pick-up zu Mechthilds Anwesen gefahren und die Ladefläche direkt vor das gartenhäuschen gesetzt. Sie hatte sie mit der Plane ins innere des Schuppens gezogen, die Planen dann ordentlich zusammengefaltet und den Pick-up in die Garage gefahren.
Im Haus hatte sie für Spuren eines normalen Abendessens gesorgt, Licht angemacht, Eier gebraten, Tee gekocht. Den Tee hatte sie in den Ausguss geschüttet, die Eier mit nach hause genommen und Tasse und Gabel an Mechthilds Lippen gepresst, falls die Polizei das Geschirr auf DNA-Spuren untersuchen würde. Dann hatte sie Mechthilds Abgang inszeniert. Die Schwägerin liebte Petroliumlampen, der ganze Schuppen war voll davon. Was, wenn sie gerade eine Lampe entzündet hätte, auf eine Harke getreten wäre, deren Stiehl ihr vor die Stirn geschlagen wäre und sie hätte hinfallen lassen, wodurch die Lampe zerbrochen wäre und das auslaufende Petrolium die Hütte in Brand gesetzt hätte? Es hatten genug Trockensträße herumgehangen und überall hatte leicht entflammbarer Kitsch gestanden und Rotraut hatte die Öllampe gut befüllt, bevor sie sie angezündet, gut heiß werden lassen und schließlich fallen lasen hatte. Dann hatte sie sich einen Rechen geschnappt und sich in der Dunkelheit mit den Folien vom Grundstück gestohlen. Am nahegelegenen Wertstoffhof hatte sie die Planen mit Hilfe des Rechens über den hohen Zaun in die Restmüll-Mulde bugsiert und den Rechen hinterher geschleudert. Auf diese geschickte Entsorgung war sie besonders stolz gewesen. Noch während des zweistündigen Fußmarsches, den sie nach Hause unternommen hatte, hatte sie das Martinshorn der Feuerwehr gehört und gebetet, dass die Flammen ihre Arbeit bereits erledigt hatten.
Sie war damit durchgekommen, auch wenn es ihr schmerzliche Qualen bereitet hatte, dass Juliane tagelang unter Mordverdacht gestanden hatte und immer wieder verhört worden war. Aber die Nichte hatte standgehalten und die Polizei war zu dem Ergebnis gekommen, dass Mechthild van de Groen durch ihr eigenes Missgeschick den Tod gefunden hatte. Un irgend wie stimmte das ja auch.
Nun würde sie also in der Maske ihrer lieben Freundin Irene in die Klinik fahren, Mechthilds letzte DNA abgeben und Juliane zu sich holen. Es war alles überstanden und sie konnte endlich anfangen, ihre geliebte Nichte ins Leben zurück zuholen.

ENDE

Falls noch jemand einen Nachklapp schreiben möchte, bitte gern, aber ich für meinen Teil bin fertig mit Rotraut und werde an dieser Stelle nächsten Freitag einen neuen Krimi hochladen.
Vielen, herzliche Dank an Keinmann, Sonnensplitter und den Schizophrenisten für die inspirierende und befeuernde Mitarbeit. Und danke auch an Fabia de La und magic desire für die lieben Kommentare.

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Dienstag, 13. Februar 2018
Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 3
Vierzehn Tage später sprach man davon, dass Charlotte mit dem Fahrrad gestürzt war, direkt nach dem Altenclub. Fatalerweise war sie aufgrund ihrer Eitelkeit ohne Helm gefahren und hatte nun infolge einer schweren zerebralen Blutung die Sprache verloren. Man verabredete sich, Charlotte in der nächsten Zeit regelmäßig im Krankenhaus zu besuchen. Zuerst war man unsicher gewesen, ob das überhaupt in ihrem Sinne sei, doch Hermann war selbst zum Altenclub geradelt und hatte den Anwesenden ans Herz gelegt, Charlotte bitte einen Besuch abzustatten.
Rosemarie hatte, als sie zu Hause ankam, schon wieder vergessen, in welchem Krankenhaus Charlotte lag. Irene war nicht gut auf Charlotte zu sprechen und Christenpflicht hin oder her, für die alte Gewitterhexe war ihr einfach ihre Zeit zu schade. Karl-Heinz ging es da ähnlich – Charlotte war kaum für einen scherzhaften Flirt geeignet gewesen, nicht einmal, als sie noch zusammen die Schulbank gedrückt hatten. Sie hatte schon als Backfisch so einen verkniffenen Mund und diese eiskalten Augen gehabt.
Renate dagegen war die erste, die sich ins Krankenhaus schleppte. Sie verzichtete extra auf ihren Mittagsschlaf, damit sie Zeit hatte, sich vorher einer Stunde lang zurechtzumachen und dann pünktlich im 15.00 Uhr gepflegt und mit frischen Blumen im Krankenzimmer zu erscheinen. Sie hielt eine Weile Charlottes Hand und gab unerträgliche Gemeinplätze von sich und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als dies klaglos zu ertragen. Zwei Tage später schleppte Anneliese sich in die Klinik, brachte Blumen, drückte Charlottes Hand, sprach aber selbst kaum, denn ein Gespräch kam ja schwerlich zustande und so ging sie bald wieder. Günther war ein Mann von eingefleischtem Pflichtbewusstsein. Er brachte Charlotte eine rote Primel im Topf als Symbol für ihre baldige Genesung. Die Primel solle sie mit nach Hause nehmen. Auch Horst trieb das Mitgefühl ins Krankenhaus, obwohl er Charlotte ebenfalls nicht leiden konnte, aber so eine Lebenssituation wünschte man keinem. Weil er richtig vermutete, dass sie mit Blumen überschüttet wurde, kaufte er ein teures, duftendes Hautöl für sie, damit sie sich wenigstens eine angenehme sinnliche Erfahrung gönnen konnte. Auch Irmgard ließ sich blicken, mit Blumen und Pralinen und als sie Charlottes Krankenzimmer angespannt verließ, fragte sie sich, was wohl passierte, wenn Charlotte ihre Sprache wiederfände? Und selbst wenn sie nie wieder sprechen konnte: würde sie sich dennoch dezidiert mitteilen können? Wie konnte eine alte Frau von 79 Jahren einen so schweren Sturz überleben? Sie hätte die Radmutter noch stärker lösen müssen, dann wäre die Mitwisserin längst ausgeschaltet.
Als es mit Irmgards Gatten zu Ende ging, litt sie bereits seit drei Jahren unter der Pflegebedürftigkeit ihres Mannes, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und depressiv war und sie ständig brauchte. Sie hatte keine Minute mehr für sich, sogar wenn sie ihre Dienste als Fußpflegerin feilbot, um die schmale Rente aufzubessern, hatte sie ein schlechtes Gewissen, denn sie liebte es, unter Leute zu gehen und bei leichter Plauderei ihrer Arbeit nachzugehen. Dabei fraß der Gesundheitsbedarf ihres grantelnden Gatten den gesamten Zuverdienst auf, sie konnte sich also noch nicht einmal mit dem einen oder anderen Luxus verwöhnen. Als der Punkt erreicht war, an dem sie nicht mehr bereit war, diese Hölle noch länger zu ertragen und sie außerdem sicher war, dass auch ihr Mann es vorzog, in die ewigen Jagdgründe einzugehen, anstatt sabbernd in die Windeln zu defäkieren und die tägliche Dekubitus-Prophylaxe über sich ergehen zu lassen, entschloss sie sich, den menschenunwürdigen Sterbeprozess ihres Ehemannes zu beschleunigen. Sie verabreichte ihm ein Blutdrucksteigerndes Medikament und löste so einen schweren Schlaganfall aus, der nicht behandelt wurde, weil sie im passenden Moment einen Großeinkauf tätigte. Nach einem Jahr offizieller Trauer konnte sie endlich wieder fröhlich sein. Aber sie hatte diesen Schritt nicht von langer Hand geplant. Es hatte sich zufällig ergeben. Und hier kam Charlotte ins Spiel: Irmgard hatte Charlotte einen Besuch abgestattet, um den Halbjahresbeitrag für den Altenclub zu kassieren, denn sie verwaltete die Gruppenkasse. Als Charlotte das Wohnzimmer verlassen hatte, um ihr Portemonnaie zu holen, hatte sie das Blutdrucksteigernde Medikament auf dem Couchtisch liegen sehen. Sie wusste nicht, dass die Schwiegertochter, die unter Hypotonie litt, es dort vergessen hatte. Einer Eingebung folgend, hatte sie es in ihre Tasche gleiten lassen und zu Hause in Ruhe den Beipackzettel gelesen. Dann wusste sie, was zu tun war. Sie verbabreichte ihrem Mann eine Überdosis und entsorgte den Rest samt Verpackung im Mülleimer des Supermarktes. Es lag fünf Jahre zurück und sie hätte nie vermutet, dass Charlotte sich noch an das verschwundene Medikament erinnerte. Doch der vernichtende Blick, mit dem ihr der Sprache beraubtes Opfer sie angesehen hatte, ließ sie noch immer innerlich erzittern. Sie würde auch für dieses Problem eine Lösung finden müssen.
Ende

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Samstag, 3. Februar 2018
Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 2
Keine der drei Saison-Service-Kräfte hatte bemerkt, dass Rosemarie kurz in der Tür gestanden hatte und dann schnell wieder verschwand. Rosemarie wurde leicht übersehen. Sie war die typische freundliche Omi, der man noch deutlich ansah, dass sie in jungen Jahren sehr hübsch gewesen war. Seit zwei Jahren – genaugenommen seit ihrem achtzigsten Geburtstag - war sie Witwe. Unter ihrem unfreundlichen Ehemann hatte sie sehr gelitten, aber bei ihrer fortschreitenden Demenz hätte ein vertrauter Partner an ihrer Seite besser auf sie achtgeben können, als das ihren drei vielbeschäftigten Kindern gelang. Sie hatte sieben Enkel und ein Urenkelkind, die sie aber allesamt höchst selten zu Gesicht bekam. Wenn sie auch ziemlich durcheinander war, ein bisschen frisch aufgeschnappter Tratsch hatte noch immer eine bemerkenswert belebende Wirkung auf sie. Mit leuchtenden Augen betrat sie den Veranstaltungsraum und verkündete: „Ihr glaubt nicht, was ich gerade gehört habe.“
Mehr amüsiert als interessiert wandten sich ihr die Köpfe von zwei weiblichen und drei männlichen ergrauten Häuptern zu.
„Charlotte hat eben erzählt, dass sie weiß, dass unter uns eine Mörderin ist. Eine Gattenmörderin.“
„Ach, Charlotte und ihre düsteren Gedanken.“, winkte der 84-jährige Alterspräsident Günther ab. „Wenn die nicht mindestens einmal am Tag ihr Gift verspritzen kann, kriegt sie Verstopfung.“
Er zwinkerte der 78-jährigen Irmgard, die in seinen Augen noch ein Küken war, verschwörerisch zu. Die quirlige Witwe mit den üppigen Rundungen hatte jedoch nur ein mitleidiges Lächeln für ihn übrig. Während Günther ein einsamer Witwer war, den seine Kräfte allmählich verließen und dessen einzige Tochter in Südamerika lebte, sodass er ständig auf der Suche nach einer jüngeren Partnerin war, die seine Hinfälligkeit kompensieren konnte, wollte Irmgard noch so viel aus ihrem Leben herausholen wie eben ging. Sie hatte schon immer gern gefeiert, doch dann hatte sie viele Jahre ihren pflegebedürftigen Mann betreut und alle Bedürfnisse hinten angestellt. Als er vor fünf Jahren schließlich starb, startete sie noch einmal durch. Auf ihre zwei Söhne, die weit weg wohnten, brauchte sie nicht zu setzen, ihre einzige Enkelin sah sie nur zwei Mal im Jahr. Sie besserte seit mehr als acht Jahren als Fußpflegerin ihre Rente auf und konnte sich so wunderbare Urlaubsreisen, teure Kosmetik und elegante Kleidung leisten. Der Günther konnte ihr gestohlen bleiben, der Horst dagegen machte etwas her. Horst war kultiviert, hatte als einziger im Altenclub studiert, war ein gut erhaltener Galan alter Schule, schlank, elegant, mit gut geschnittenen Gesichtszügen und noch überwiegend dunklem Haar, obwohl er doch auch schon 79 Jahre auf dem Buckel hatte.
Was Irmgard nicht wusste: Horst kam eigentlich nur wegen der interessanten Themen, die der Herr Iring vorbereitete zum Altenclub, im Grunde verachtete er seine Altersgenossen, aber er nutzte das Umfeld für Milieustudien, die er in Kurzgeschichten verarbeitete und heimlich unter Pseudonym veröffentlichte. Im Geiste machte er sich Notizen und fragte sich, welcher der Kunstfiguren in seiner aktuellen Geschichte er einen Mord anhängen würde: der grantelnden Gabi, der hedonistischen Hanna oder der misshandelten Marianne.
Die kränkliche Anneliese, die bereits vor 25 Jahren 58-jährig verwitwete, wirkte seltsam ertappt bei Rosemaries Sensationsbericht. Man traute ihr nichts Böses zu, sie schleppte sich nur mit letzter Kraft 14-tägig zum Altenclub, um wenigstens ab und zu einmal etwas vorzuhaben. Trotzdem fragte Charlottes Ehemann Hermann sich, ob in Annelieses Vergangenheit womöglich finstere Abgründe gähnten. Er kannte sie seit der Kindheit, sie waren zusammen zur Schule gegangen. Alle hatten ihr in Gedanken heimlich gratuliert, als ihr Ehemann, der ein cholerischer Gewalttäter gewesen war, plötzlich den Löffel abgegeben hatte. Jetzt fragte sich Hermann, ob das sanfte Opfer nicht am Ende zur Täterin geworden war. Nur konnte er sich nicht erklären, woher seine Frau davon wissen konnte. Niemand war so gebeutelt wie Anneliese. Ihren Fünf Kindern hatte sie etwas bieten wollen, die Welt sollte ihnen offen stehen, sie sollten all die Möglichkeiten haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, die ihrer Mutter verwehrt geblieben waren. Die Kinder hatten die Chancen genutzt und lebten jetzt in Berlin, München, Frankfurt, Hamburg und London – niemand war in Ostwestfalen geblieben.
Die Konversation im Raum war zum Erliegen gekommen, weil jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nachhing. Wie ein seltsamer Bruch wirkte es da, als plötzlich Karl-Heinz gut gelaunt hereinstürmte: „Was ist hier denn los?“, fragte er verwirrt. „Ist jemand gestorben?“
„Gestorben wird immer.“, antwortete Horst lakonisch.
Das Thema wurde nicht weiter vertieft, denn mittlerweile war auch Herr Iring angekommen und bat um die werte Aufmerksamkeit für sein heutiges Programm. Er hatte ein Referat zu Joseph Roths „Hiob“ vorbereitet und plante einen nachfolgenden Gedankenaustausch. Während des Vortrages herrschte höfliches Schweigen; die ungeteilte Aufmerksamkeit war hingegen überwiegend geheuchelt. Anneliese sorgte sich um ihren Blutdruck, der trotz einer beträchtlichen Menge regulierender Medikamente noch immer erschreckend überhöht war und gerade jetzt spürte sie einen besonders unangenehmen Druck im Kopf. Hermann grübelte darüber nach, wen genau Charlotte des Gattenmordes bezichtigte und konnte sich keinen Reim darauf machen. Vielleicht hatte Rosemarie auch nur etwas aufgeschnappt und falsch interpretiert. Charlotte fixierte heimlich ihre Verdächtige. Sie malte sich aus, wie sie beim nächsten Treffen die Details ihrer erfolgreichen Detektivarbeit vor den anderen ausbreiten würde, während die Mörderin in der Untersuchungshaft darauf wartete, ihrer gerechten Strafe zugeführt zu werden. Günther träumte - wie jedes Mal - von romantischen Portwein-Stunden mit Irmgard und bewunderte das Objekt seiner Begierde unverholen und lächelnd. Irene saß auf heißen Kohlen, weil sie nicht sicher war, ob sie die Teebeutel für Herrn Iring schon aus der Kanne genommen hatte. Sie wollte nachsehen, sobald das Gespräch anfing und notfalls einen frischen Tee zubereiten. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie sich in diesem Maße verantwortlich fühlte, wo sie doch froh sein konnte, dass sie zu Hause von derlei Versorgungsleistungen seit drei Jahren verschont blieb. Irmgard überlegte angestrengt, ob sie den Werkzeugkoffer im Auto hatte, seit Wochen schon hatte sie vor, ihn montags nach dem Altenclub bei Klaus vorbeizubringen. Wenn sie noch länger wartete, würde der ihr nie wieder etwas leihen. Karl-Heinz fragte sich gerade, wie Irmgard wohl völlig entblätterte aussähe und wie sie sich unter der Bettdecke anfühlte. Renate konnte seit Charlottes Bemerkung in der Küche nur noch an ihren verstorbenen Erwin denken und fragte sich aufgeregt, ob irgendetwas an ihrem Verhalten so verdächtig erschien, dass Charlotte zu derartig ungeheuerlichen Schlussfolgerungen gelangte. Auch nur zwölf Stunden in Untersuchungshaft würde sie nicht überleben. Rosemarie träumte von ihrer Jugendliebe, einem jungen Mann, den sie ihr restliches Leben lang vermisst hatte, nachdem er einfach aus ihrem Leben verschwunden war. An ihren langjährigen Gatten, der seit zwei Jahren auf dem Friedhof lag, verschwendete sie keinen Gedanken und Herrn Irings Ausführungen konnte sie schon aufgrund der hohen Dichte an Fremdwörtern nicht folgen. Nur Horst hörte zu und fragte sich, wer von den Anwesenden sich in der literarischen Adaption der biblischen Geschichte am ehesten wiederfand.
Als Herr Iring abschließend um Gesprächsbeiträge bat, herrschte zunächst gespenstisches Schweigen. Irene, Charlotte, Irmgard und Rosemarie verließen nacheinander den Raum und Horst fragte sich, wer wohl gleich ermordet würde, doch sie kehrten alle vier wohlbehalten zurück. Horst gab auch als Einziger einen Gespächsbeitrag zum Besten:
„Joseph Roth hat meines Erachtens nicht nur das weiße Feuer der Hiobsgeschichte zum Leuchten gebracht, indem er den vermeintlichen Nebenfiguren eine eigene Perspektive verliehen hat, er hat die Geschichte auch politisiert und sie auf die Situation des europäischen Judentums bezogen.“
„Von was für einem weißen Feuer redest du denn da?“, fragte Karl-Heinz unwirsch. „Hast du eben zu Hause noch einen genommen? Schönen Schluck Schlehenfeuer?“
„Midrasch.“, verkündete Herr Iring mit der wichtigtuerischen Miene des Connaisseurs.
„Ist das jüdischer Schnaps?“, fragte Karl-Heinz und schlug sich laut lachend auf die Schenkel.
„Nein.“, antwortete Herr Iring verschnupft. „Als Midrasch bezeichnet man das Lesen zwischen den Zeilen eines Textes. Die schwarzen Buchstaben, das unmissverständliche Wort auf dem weißen Papier bezeichnet man als das schwarze Feuer, aber das, was man in seiner Vorstellung dazu übelegen muss, die Ausschmückung der Geschichte, wie sich alles für die Beteiligten anfühlt, das bezeichnet man als das weiße Feuer. Das ist eine uralte jüdische Tradition, derer Joseph Roth, der ja ebenfalls jüdischer Herkunft war, sich möglicherweise bedient hat.“
„Wie sie eben bereits beschrieben hatten.“, erklärte Horst und sah Karl-Heinz strafend an, als er sich an ihn wandte: „Wenn du schon nicht zuhören kannst, solltest du dich beim Gespräch besser raushalten.“
„Jetzt hab' dich mal nicht so.“, rechtfertigte Karl-Heinz sich. „Schließlich habe ich den Kuchen mitgebracht. Ich kann doch nicht an alles denken.“
Damit war das Stichwort gefallen, auf das alle gewartet hatten und man sprach über Primeln und wer gerade im Sterben lag, wo zur Zeit das günstigste Gemüse zu bekommen war und was die Kinder und Enkelkinder so trieben. Die Zeit verging wie im Flug und während die Küchencombo spülte, tratschten diejenigen, die sich nur schwer trennen konnten noch eine Weile auf dem Vorplatz, bis schließlich Irene den Schlüssel umdrehte und alle mehr oder weniger dynamisch nach Hause humpelten. Von den schwarzen Gedanken, die die eine oder andere dabei im Herzen trug, ahnte niemand etwas.
Ende Teil 2 – Fortsetzung folgt

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Humankorrosion - dreiteiliger Kurzkrimi - Teil 1
Irene war die Erste. Irene war immer die Erste, darum verwahrte sie auch den Schlüssel. Wenn die beiden Damen eintrudelten, die zum Helfen eingeteilt waren, hatte Irene längst den Kaffee aufgesetzt und die Thermoskannen vorgewärmt: zwei für Bohnenkaffee, zwei für Entkoffeinierten und einmal Teewasser für Herrn Iring.
Den Kuchen brachte Karl-Heinz mit. Karl-Heinz kam immer zu spät, aber sie konnten die Teller ja schon mit den Kuchengabeln auf dem Servierwagen verteilen. Sie füllte gerade das heiße Wasser zum Aufwärmen in die Kaffeekannen, da kam die zwei Jahre jüngere Charlotte im Stechschritt auf das Gemeindehaus zu. Ihr übellauniges Herrenmenschengebaren, das sie nicht erst zur Schau trug, seit sie Neunundsiebzig war, hatte Irene schon oft die gute Laune verdorben. Sie kannten sich seit der Jugend – damals hatten sie zusammen den Mädchenkreis besucht. Charlotte stammte aus der gehobenen Gastronomie und ihre Familie hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Sie selbst hatte als Fremdsprachenkorrespondentin gearbeitet und hatte mit ihrem zurückhaltenden Mann zwei Kinder und einen Enkel. Sie hätte allen Grund gehabt, glücklich und zufrieden zu sein, doch sie strahlte nichts als Arroganz, Missgunst und Härte aus.
Ihr folgte Renate auf den Fuß. Die ging Irene auf andere Weise auf die Nerven. Renate wurde mit ihren achtzig Jahren nur noch von ihrem spachteldicken Make-up zusammengehalten, nichts an ihr war echt, aber sie prahlte gern mit den zahlreichen Amouren ihrer ersten vier Lebensdekaden, bis sie schließlich einen sicheren Anker gefunden hatte, der auch bei ihr geblieben war, als die Fassade deutlich zu bröckeln begann. Nun war sie seit fünf Jahren Witwe und hatte keine Kinder, die sie über den Verlust und die Einsamkeit hinwegtrösten konnten.
„Kaffee läuft durch, Teewasser ist aufgesetzt, Kannen sind angewärmt.“, erklärte Irene den Stand der erledigten Aufgaben. „Wenn ihr jetzt schon mal Dessertteller mit Kuchengabeln auf dem Servierwagen bereit stellt, kümmere ich mich um Tassen, Löffel, Zucker und Kondensmilch.“
Im Grunde wäre Irene zufrieden gewesen, wenn sie die Vorbereitungen allein getroffen hätte, aber hier mitzuwirken, das ließen die anderen Damen sich nicht nehmen, auch wenn Renate ohnhin die meiste Zeit hilflos im Weg herumstand und Charlotte mit planlosem, zur Schau gestelltem Aktionismus meistens alles durcheinanderbrachte. So auch jetzt.
„Wieso sollen wir die Teller denn auf den Wagen verteilen, wenn der Kuchen noch gar nicht da ist? Dann muss man sich ja bücken, um die Teilchen auf die Teller in den unteren Etagen zu bugsieren, da geht doch alles daneben.“
„Warum soll da was daneben gehen?“, fragte Irene herausfordernd.
„Na, ja, so ein gedeckter Apfelkuchen, der bricht leicht auseinander.“
„Heute gibt’s Berliner.“
„Na, dann pudern wir alles mit dem Zucker voll.“
„Die sind mit Guss.“
„Aber dann muss man die doch mit der Zange auflegen, sonst hat man gleich ganz klebrige Hände.“
„Ich mach das schnell mit Handschuhen.“
Renate begann zu kichern. „Klingt so, als würdest du ein Kapitalverbrechen planen. Bloß keine Fingerabdrücke auf den Tortentellern hinterlassen.“
„Mach darüber keine Witze.“, fuhr Charlotte Renate an. „Ich weiß zufällig, dass eine Ehegattenmörderin unter uns ist. Ich habe lange gezögert, aber morgen gehe ich zur Polizei.“
Ende Teil 1 – Fortsetzung folgt

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Freitag, 2. Februar 2018
Fröhliches Schreibspiel – ein Improvisationskrimi – bitte mitspielen!!!
Es hat nicht funktioniert, der Plan ist nicht aufgegangen. Wer Spaß hat kann unsere beiden Sätze ja noch einmal lesen ;-) Morgen gibt es einen neuen Beitrag.
Rotraut hatte vollkommen vergessen, noch einmal durch den farbenverwöhnten Garten zu gehen und einen vollendeten Herbstblumenstrauß zusammenzustellen, doch statt noch einmal umzukehren, entschied sie sich für eine pragmatische Lösung. (C. Fabry)
...Beherzt nahm sie den Trockenblumenstrauß aus der Vase im Flur und hielt ihn über Kopf über Wasserdampf, damit er einigermaßen frisch aussah; für ihre zukünftige Schwägerin sollte das allemal reichen - um ihr unmissverständlich klarzumachen, dass sie nicht willkommen ist. Jedenfalls nicht, was Rotraut betraf ...(Keinmann)

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