Freitag, 15. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 3. Enno
Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Die Gierigen hatten wieder gewonnen; sogar hier, in seinem geliebten Prag. Sogar die letzten Zufluchtsorte der Welt wurden von den fressenden, saufenden, rülpsenden, furzenden, ewig konsumierenden, alles zumüllenden, schnatternden, grölenden, achtlos alles platt trampelnden, erlebnishungrigen Vielreisenden überschwemmt. Sie wollten ja gar nicht in Prag sein. Sie wollten nur erzählen können, dass sie da waren und mit ihren Fotos prahlen. Fotos waren die Jagdtrophäen des 21. Jahrhunderts. Sie wollten berichten, was sie Phantastisches gegessen hatten, stolz ihre neuerworbenen Schmuckstücke herumzeigen und bewundert werden für ihre Weltläufigkeit. Sie kannten nicht den brennenden Schmerz in der Brust, der sich mit der Erkenntnis über die Erbarmungslosigkeit des Lebens ausbreitete. Sie atmeten die Luft dieses Ortes und bliesen sie wieder aus, ohne sich der Geschichte bewusst zu sein, die sie mitatmeten. Sie waren ahnungslose Parasiten, die sich gierig ausgerechnet vom Fleisch derer ernährten, die eigentlich in der Welt etwas hätten bewegen können. Die, die wirklich verstanden, wurden von ihnen selbst wie Parasiten behandelt. Weil sie an den Verhältnissen erkrankten und zerbrachen, empfand man sie als lästigen Ballast, den es zu entsorgen galt.
Auch wenn es ihn ärgerte, hatte er auf der Prager Burg anstandslos den Eintritt für das Goldgässchen bezahlt. Von irgendetwas mussten die Tschechen ja die Schäden, die der Massentourismus verursachte, bezahlen. Andächtig stand er vor dem Haus Nr. 22. Hier hatte Franz Kafka ein Jahr lang gelebt und gearbeitet. Er trat ein in das winzige Häuschen. Ein beeindruckender Ort. Der wohlhabende junge Mann hatte die großzügige, komfortable Familienwohnung verlassen, um sie gegen ein klammes, einfaches Zimmerchen ohne eigene Toilette einzutauschen. Er war ganz und gar eingetaucht in die Welt, aus der er seine Figuren erschuf.
Eine Frau ging vorbei, sein Körper sandte Warnsignale aus, doch er wusste nicht, warum.
Später, als er langsam den Abstieg antrat, war er noch immer ganz in Gedanken bei dem großen Kafka. Mit jedem Schritt, den er auf dem historischen Pflaster machte, wurde er ein bisschen mehr wie er, genauso mager, kränklich, voller Verzweiflung über den Lauf der Welt. Das Einzige, das seine Trauer von Zeit zu Zeit vertrieb, war die Musik. In einem kleinen Geschäft hatte er am Morgen einen Satz Saiten für seine Gitarre gekauft, sie würden ihn immer an Prag erinnern, wenn er sie zum Klingen brachte.
Unten, am Fuß des Hradschin wurde ein Kammerkonzert gegeben. Er erstand spontan eine Eintrittskarte und ließ sich zu den Klängen barocker Melodien aus seiner Depression tragen. Nahezu beschwingt verließ er nach einer Stunde die Kirche und schlenderte zur Karlsbrücke – am anderen Ende würde es besser werden.
Da war sie wieder, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Warum nur? Und warum nahm der Gedanke an Gregor Samsa immer mehr Raum in ihm ein? War Gregor am Ende nicht Kafkas Figur sondern Kafka selbst? Und dann wusste er es! Sie war es! Sie war Gregor Samsas Schwester, die den eigenen Bruder nicht verstand, sich vor ihm fürchtete und ihn am Ende einfach hatte stehen lassen. Sie ließ jeden stehen, der ihr fremd war, der ihr Angst machte, den sie nicht verstand. Er hatte sie nicht erkannt, weil sie sich verkleidet hatte als eine, die in der Masse unterging. Aber sie konnte sich vor ihm nicht verstecken, nicht vor Enno, nicht vor Franz, nicht vor Gregor. Er kannte sie. Was hatte sie vor? Unauffällig heftete er sich an ihre Fersen. Auf der Karlsbrücke war das kein Problem, bei den Massen, die sich noch immer hier entlang schoben. Er hätte sie beinahe aus den Augen verloren. Am anderen Ende bog sie rechts ab und ging längs der Moldau. Hier lichtete sich die Menschenmenge und er musste deutlich mehr Abstand halten. Sie steuerte auf das Nationaltheater zu, sie war also nicht auf dem Heimweg, das war eindeutig die falsche Richtung. Was führte sie im Schilde?
Am Theater angekommen, betrat sie die Brücke, die zur Insel führte. War das eine Falle? Er erinnerte sich noch gut an jeden einzelnen Spaziergang, den er hier unternommen hatte und an den tiefen Frieden, der sich dabei in ihm ausgebreitet hatte. Wollte sie das nun auch zerstören? Die innere Anspannung beschleunigte seinen Puls und seinen Atem. Er musste seine Schritte zügeln, denn sie schlenderte nur, kontinuierlich zwar, aber langsam. Sie wanderte die Insel der Länge nach ab. Dann setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete den Fluss. Er verbarg sich im Schatten eines Baumes. Wollte sie ihn anlocken, sich zu ihr zu setzen? Verlangte sie etwa Vergebung? Vergebung für ihre Nachlässigkeit, ihre Lieblosigkeit und ihre Illoyalität, die sie perfekt unter ihrer Maske der besorgten, hingebungsvollen und aufopferungsvollen Schwester verbarg? Reglos saß sie da und auch er rührte sich nicht vom Fleck. Er wagte es nicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie auf und ging auf das Flussufer zu. Wollte sie sich nun etwa selbst bestrafen? Doch sie ging nicht ins Wasser, nein, sie ging in die Hocke. Sie plante etwas. Er wusste nicht was, aber es war sicher nichts Gutes. Wie ferngesteuert glitt seine rechte Hand in die geräumige Tasche seiner sommerlichen Leinenhose. Da waren die Gitarrensaiten. Er musste sie aufhalten, sie bestrafen und verhindern, dass sie noch mehr Leben zerstörte und jetzt wusste er auch wie. Die tiefe E-Saite war am griffigsten, die glitt einem nicht so leicht durch die Finger. Er zog sie behutsam aus der Hülle und wickelte die Enden um seine Hände. Er ließ genug Platz dazwischen, damit sich der Draht einmal um ihren Hals wickeln und zuziehen ließ. Er hatte schon immer das perfekte Augenmaß gehabt. Er trat lautlos an sie heran. Es ging ganz leicht. Er drückte seine Knie gegen ihre Schultern, damit sie nicht umfiel. Sie versuchte die Saite von ihrem Hals zu lösen, das war natürlich zwecklos. Sie ruderte mit den Armen, versuchte, ihn hinter sich zu fassen zu kriegen, aber sie hatte kaum noch Kraft. Dann sackte sie in sich zusammen und Enno konnte deutlich spüren, wie das Leben aus ihr wich. Er, Gregor Samsa, Franz Kafka, Enno Horstmeier aus Höxter hatte sie endlich besiegt. Und die E-Saite würde mit dieser Patina voller klingen als je eine E-Saite zuvor.
ENDE

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Freitag, 8. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 2. Silvia
Endlich raus aus diesem widerwärtigen Zeltlager, weg von Rudel-Duschen, stinkenden Klos, Feldküche und Dauerbeschallung. Sie fühlte sich allmählich zu alt für diese Camps mit Hunderten von Jugendlichen. Und laut waren die TEN SINGer sowieso. Lauter aufgedrehte Jugendliche im Hier-ist-alles-so-toll-und-wir-lieben-uns-alle-und-wir-haben-eine-großartige-Zukunft-vor-uns-Fieber. Die meisten kamen ja zu Hause wieder auf den Teppich. Aber mindestens zehn Prozent setzten sich aus zutiefst verstörten Teenagern zusammen, die ihre ganze Lebenshoffnung in diese Jugendarbeit legten. Sie hielten ihr drittklassiges Bühnensolo am Rande Prags für ihre Eintrittskarte in die Welt des Ruhms, des Glamours und des Glücks. Silvia bereitete sich schon innerlich aufs Scherben Fegen vor. Spätestens im November war es soweit. Wenn man wieder vom Traumpartner übersehen wurde, der schulische Erfolg ausblieb und die Waage einen folterte oder der Spiegel oder beides.
Aber heute durfte sie sich eine Auszeit gönnen. Einen halben Tag lang – und eine Nacht. Das hatte sie ausgehandelt: die kommende Nacht durfte sie in einem Hotel verbringen und musste erst zum Morgenprogramm um 10.00 Uhr zurück sein.
Dreißig Jahre war es her, dass sie die goldene Stadt zum letzten Mal gesehen hatte. Damals war es – abgesehen vom Dach des Nationaltheaters an der Moldau – eher eine graue Stadt gewesen, aber sie hatte sie geliebt. Über allem hatte diese feine Melancholie gelegen, keine rasenden Autos, kein Massentourismus, alles war gnadenlos billig gewesen und die staubigen, grauen Fassaden, die zum Teil von maroden, hölzernen Baugerüsten verdeckt gewesen waren, hatten ihren einstigen Glanz erahnen lassen, was ihnen gerade diesen geheimnisvollen Charme verliehen hatte. Das Besondere hatte man entdecken müssen: das Schwarzlicht-Theater, Kammerkonzerte in barocken Kirchen, das jüdische Museum, das Goldgässchen auf dem Hradschin, die deutsche Buchhandlung, die urigen Kneipen und pittoresken Ecken am Flussufer. Damals hatte sie sich mit Tränen in den Augen geschworen, eines Tages zurückzukehren. Als Achtzehnjährige hatte sie davon geträumt, in Prag zu studieren. Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung gehabt, aber die Bilder in ihrem Kopf hatten ihr gefallen.
Mit Bus und Bahn fuhr sie zu ihrem Hotel in der Nähe der Innenstadt. Sie war überrascht von diesem völlig veränderten Stadtbild: liebevoll instandgesetzte Fassaden und aufwändig gepflasterte Gehwege, alle Farben des Regenbogens, Straßencafés und überall Menschen, wie sie auch in London, Paris oder Berlin herumliefen: bunt, individuell und stilbewusst. Vom ehemaligen Ostcharme war nichts geblieben. Einerseits gefiel es ihr, dass das Beklemmende, Depressive, Düstere und Farblose von einer solch ästhetischen und quirligen Lebendigkeit abgelöst worden war. Aber als sie mit der Tram in die Innenstadt fuhr, tat es ihr irgendwie weh, dass Prag sich nun kaum noch von all den westeuropäischen Hauptstädten unterschied. Sie stieg aus und schlenderte durch das Altstadtviertel rund um die Theinkirche. Überall war es hübsch und blitzsauber, aber aus allen Schaufenstern brüllte einem der gleiche Ramsch entgegen: böhmisches Glas, Matruschkas, Schnaps, Bier, Karlsbader Oblaten und als Kunst dargebotener Kitsch. Sie würde in Richtung Moldau flüchten, das war sicher noch ein magischer Ort.
Als sie das Tor der Karlsbrücke erblickte, schlug ihr Herz höher. Sie erinnerte sich dunkel an die gespenstischen Skulpturen, die das Brückengeländer säumten. Doch was hier los war, kannte sie so bisher nur von der Ponte Vecchio in Florenz: ein einziges Geschiebe und Gedränge vorbei an Verkaufsständen mit Schmuck, Malerei und Nippes. Reisegruppen verschiedenster Nationalitäten, die den Fähnchen ihres Führers folgten. Zuerst hatten die Deutschen Prag besetzt, dann waren die Panzer der Russen durch die Straßen gerollt und jetzt die Lawine des internationalen Tourismus. Auch wenn es ihr nicht gefiel – sie war ein Teil davon.
Trotz der Massen wanderte sie rauf zur Prager Burg, löste ein Ticket und betrat das Goldgässchen, das durch den Massentourismus auch viel von seinem Charme eingebüßt hatte. Sie hatte Hunger, aber hier oben gab es überall nur industriell gefertigte Mikrowellen-Sandwiches und so hielt sie noch eine ganze Weile durch und plante einen Imbiss nach dem Abstieg. Kurz vor der Karlsbrücke nahm sie Platz in einem der zahlreichen Touristen-Restaurants und verspeiste in Erinnerung an ihren Aufenthalt vor dreißig Jahren die böhmische Spezialität schlechthin: Gulasch mit Hefe-Knödeln und Rotkohl. Eigentlich etwas für kalte Tage, aber das Essen war so köstlich wie damals und sie bereute nicht, in einem Lokal Platz genommen zu haben, in dem vermutlich keine Einheimischen aßen.
Frisch gestärkt machte sie sich auf zu ihrem nächsten Ziel, sie wollte noch einmal vor dem prachtvollen Bau des Nationaltheaters stehen. Man sah die schwarz-goldene Kuppel mit der eigentümlichen Form von nahezu jedem Punkt der Innenstadt. Bei der Abschlussfahrt der Jahrgangsstufe 13 hatte ihnen dies als Orientierung gedient, hatte sich doch die Tram-Station, von wo sie damals zurück ins Hotel gefahren waren, ganz in der Nähe befunden. Die Schönheit des Theaters war ungebrochen. Aber heute zog sie nichts mehr in die Straßen, in denen sie damals von Kneipe zu Kneipe geschlendert waren, um sich mit dem leichten, aber würzigen Schwarzbier vollzukübeln. Sie selbst hatte sich nicht betrunken, aber etliche hatten damals den Bogen überspannt und waren an Peinlichkeit nicht zu übertreffen gewesen. Sie schlug die andere Richtung ein. Gegenüber des Nationaltheaters führte eine Brücke über die durch Stauwehre träge dahin strömende Moldau. In der Mitte des Flusses lag eine Insel und die war ihr Ziel. Damals hatte das Herbstlaub gelb geleuchtet, heute war alles grün und zu den Bäumen und Bänken hatten sich Spielplätze gesellt. Aber als sie die Wege entlang schlenderte, sah sie ihren Mitschüler Horsti vor sich. Horsti hatten sie ihn seines Nachnamens wegen genannt: Horstmeier. Sie hatte tatsächlich seinen Vornamen vergessen. Sie hatten sich über ihn lustig gemacht. Horsti war ein Intellektueller, ein Büchernerd, der eine Eins in Philosophie und Literatur hatte, eine Nickelbrille trug und sich betont unmodern kleidete. Er lebte das Klischee des einsamen Dichters und Denkers, von allen unverstanden, wo er doch selbst längst verstanden hatte, was die bürgerlichen Biertrinker hinter ihren Schlachthoffassaden niemals begreifen würden. In Prag war er auf den Spuren Kafkas gewandelt, hatte einen Koffer voller Bücher erstanden und man hatte ihm bei seinem Spaziergang auf der Moldauinsel deutlich angesehen, dass er in seiner Vorstellung selbst zu Kafka wurde und mit jedem Schritt den Fuß bewusst auf den Boden setzte, auf dem schon sein großes Vorbild die gleichen düsteren Gedanken spazieren geführt hatte.
Sie nahm auf einer der Bänke an der Spitze der Insel Platz und blickte hinüber zu den Lichtern der Prager Burg. Nachts sah alles so unversehrt aus. Sie dachte an Ralf, in den sie damals so verliebt gewesen war, der sie kaum eines Blickes gewürdigt hatte und schließlich mit Anja im Hotelzimmer rumgeknutscht hatte. Sie dachte an Heike und Martina, mit denen sie hier auf Entdeckungsreise gegangen war. Sie hatte seit mehr als zehn Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Die Menschen in ihrem Leben kamen und gingen und man wusste erst viele Jahre später, welche Rolle sie eigentlich gespielt hatten.
Sie erhob sich und ging ans Wasser. Einmal die Finger in die Moldau halten, einen Stein finden, ein Andenken, eine Verbindung zwischen damals, heute und morgen. Sie kniete vor dem gluckernden Wasser und suchte den nahen Grund nach Steinen ab, als sie plötzlich etwas drückte. Ihr Hals zog sich zu, sie bekam keine Luft, jemand drückte seine spitzen Knie in ihre Schulterblätter. Abwechselnd ruderte sie mit den Armen und versuchte, ihre Finger hinter das zu klemmen, das ihr die Kehle zuschnürte, sie hörte ihren eigenen Herzschlag, das Blut rauschte in ihren Ohren, der Kopf wurde heiß, die Lichter, die der Fluss reflektierte, funkelten von den Wellen, welchen Wellen? Und dann erloschen sie auch schon.
ENDE TEIL II – FORTSETZUNG FOLGT AM 15.09.

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Freitag, 1. September 2017
Für immer Prag - Kurzkrimi in drei Teilen - Teil 1. PAVEL
Schon wieder hatten sie ihn um fünf Uhr morgens aus dem Bett geklingelt. Die Jogger, die die Leichen fanden, waren auch immer früher auf den Beinen. Der einzige Vorteil eines Einsatzes kurz nach Sonnenaufgang bestand darin, dass die Stadt so wirkte, als habe sie sich seit seiner Kindheit kaum verändert: Nur wenige Autos kurvten durch die Straßen, die Touristen, die die tschechische Hauptstadt in jedem Jahr mehr belagerten, begafften, knipsten, vollschissen und vollkotzten, lagen noch in den Betten ihrer Hotels oder in ehemals erschwinglichen Innenstadtwohnungen, die sich heute kein Tscheche mehr leisten konnte, es sei denn, er war dick im Geschäft.
Die Tret- und Ruderboote lagen fest vertäut an den Stegen, über der Moldau waberten gespenstische Frühnebelbänke, erste Vorzeichen des nahen Herbstes, die den Blick auf die Insel verschleierten, auf der das Opfer schon auf ihn wartete. Hoch über dem Fluss thronte der Hradschin, die Prager Burg, unterhalb stachen die zahlreichen Turmspitzen, die die Tore zur Karlsbrücke krönten, wie mahnende Zeigefinger von Boten einer längst vergessenen Welt in den Himmel. Diese märchenhafte Stadt hatte den sowjet-imperialistischen Sozialismus überlebt, sie würde auch die massentouristischen Auswüchse des Turbo-Kapitalismus überstehen. Wer wusste schon, wo die Gierigen in zwanzig Jahren einfielen? Südafrika? Island? Vielleicht sogar Afghanistan? Die Krisenherde von gestern wurden schnell zu den Urlaubszielen von morgen und umgekehrt.
Pavel stieg die Treppen von der Brücke zur Insel hinab. Er hätte auch den Fahrstuhl nehmen können, aber er hatte die altehrwürdigen Stufen gern. Unten angekommen musste er die Parkwege fast der Länge nach abschreiten, denn die Leiche lag an der Spitze der Insel, von wo man einen atemberaubenden Blick auf alle beeindruckenden Gebäude der Stadt hatte.
Es hatte etwas Vulgäres, wie sie dalag, mit den von der Feuchtigkeit strähnigen Haaren, den aufgerissenen, glotzenden Augen und dem nachlässig gekleideten, dahinwelkenden Körper, der weniger an verblühte Schönheit als an jahrzehntelange Mühsal in unüberwindlicher Mittelmäßigkeit denken ließ. Wenigstens ein spektakuläres Ende war der welken Blume vergönnt, die ihren Platz am Rande der Mauer sicher niemals verlassen hatte. Nun lag sie hier in durchnässten Khaki-Cargohosen in 3/4-Länge, schwarzen Trekking-Sandalen und einem verblichenen T-Shirt. Die feine, rote Linie an ihrem Hals verriet in Verbindung mit den hervortretenden Augäpfeln auch einem medizinischen Laien die Todesursache: sie war garrottiert worden.
„Raubüberfall?“, fragte Pavel die Kollegen von der Spurensicherung.
„Unwahrscheinlich.“, erwiderte Oskar. „Im Portemonnaie stecken noch hundertachtzig Kronen und fünfzig Euro.“
„Ausländerin?“, fragte Pavel.
„Deutsche. Geboren 1969 in Höxter.“
„Wo liegt das denn?“
Oskar zuckte mit den Schultern.

Gründliche Recherchen ihres Tascheninhaltes ergaben, mit wem sie in Prag war. Und dort wartete komplizierte Ermittlungsarbeit auf sie.

FORTSETZUNG FOLGT AM 8.9.

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Donnerstag, 31. August 2017
Kapitel 8 - "Ich hab' den Ausbau nicht gewollt"
Schröttinghausener Straße – Mittwoch, 14.

September 2016
Jäh wurde Luise von Martinas schriller Stimme aus ihren Träumen gerissen: „Mama, aufwachen! Du hast schon wieder Besuch.“
„Wer ist denn da?“, fragte sie und bemerkte, dass ihr Mund sich ganz trocken anfühlte, sie musste heftig geschnarcht haben.
„Onkel Bernhard.“, antwortete Martina knapp und Luise musste sich einen Augenblick sammeln, um sich zeitlich zu orientieren: Uhrzeit, Wochentag. Dann fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ja heute zur Frauenhilfe gehen wollte, doch das Licht, das durchs Fenster fiel, sah verdächtig nach Spätnachmittag aus. Sie blickte auf die Uhr: Es war kurz vor vier, zu spät, um noch ins Gemeindehaus zu gehen. Bis sie angezogen und gekämmt und mit ihrem Rollator dorthin gelaufen war, war die Frauenhilfe zu Ende.
„Warum hast du mich nicht eher geweckt?“, fragte sie ihre Tochter vorwurfsvoll.
„Du hast so laut geschnarcht, da dachte ich, du brauchst deinen Schlaf. Hast fast den ganzen Wald unten im Siek abgesägt.“
„Aber ich wollte doch zur Frauenhilfe, das wusstest du doch.“
„Was willst du denn bei der Frauenhilfe, wenn dir da die ganze Zeit die Augen zufallen? Jetzt komm, ich helf' dir ins Kleid und kämm' dir die Haare, damit Onkel Bernhard nicht glaubt, du wärst aus der Mottenkiste gestiegen.“
Seufzend schlug Luise die Decke zurück, richtete sich langsam auf und ließ sich von Martina beim Ankleiden unterstützen.
Ihr Schwager Bernhard Maas hatte in der Nachkriegszeit ihre kleine Schwester Marie geheiratet, die wider Erwarten schon lange verstorben war, obwohl sie doch als Letzte an der Reihe gewesen wäre. Bernhard und Marie hatten 1975 in der Siedlung auf der anderen Dorfseite einen Bungalow gebaut, nachdem sie zuvor seit ihrer Hochzeit 1961 bis zu ihrem Umzug auf dem Hof von Bernhards Eltern eine kleine Wohnung gehabt hatten. Kinder waren ihnen versagt geblieben, doch sie hatten sich wunderbar eingerichtet in ihrem neuen Heim und bis zu Maries Tod vor drei Jahren eine gute Zeit dort verbracht. Bernhard verstand es, geschickt mit Geld umzugehen. Als Bankangestellter war er immer bestens über den Finanzmarkt informiert gewesen und hatte mit risikoarmen Börsengeschäften und einer zusätzlichen Erbschaft vor fünfzehn Jahren so viel Geld angehäuft, dass er es in den Neubau eines Mehrfamilienhauses investiert hatte. Mit den Mieteinnahmen konnte er seine Rente soweit aufstocken, dass er gegenüber seinem früheren Gehalt keine Einbußen zu beklagen hatte.
In Bügelfaltenhosen und Sportsakko stand Bernhard in Luises Wohnzimmer und blickte aus dem Fenster. „Na, altes Mädchen?“, begrüßte er seine Schwägerin lautstark. „Haste wieder die Frauenhilfe verschlafen?“
„Ach ja“, seufzte Luise. „Ich war wohl ganz kaputt und Martina wollte mich nicht stören.“
„Dann komm' ich nächstes Mal um zwei und weck' dich.“
„Ja, das ist gut. Aber da machst du doch sicher selber Mittagsschlaf.“
„Ach was. Um zwei bin ich längst damit durch. Um viertel nach elf kommt das Mittagessen, um halb zwölf hab' ich das verputzt, dann guck ich die Post durch und von zwölf bis eins lieg' ich flach. Halb drei gibt’s Kaffee, halb sechs Abendbrot.“
„Da hätte ich ja nach den Nachrichten schon wieder Hunger.“, gab Luise zu bedenken.
„Ach was.“, erwiderte Bernhard. „Zum Abendprogramm ess' ich immer Würmer und trinke ein Bier.“
„Ach so.“, antwortete Luise, gar nicht erstaunt über die befremdlichen Essgewohnheiten ihres Schwagers, denn sie wusste, dass mit Würmern Erdnuss-Flips gemeint waren.
„Hast du denn noch keinen Kaffee gehabt?“, fragte er seine Schwägerin fürsorglich.
„Nee, ich hab' ja geschlafen. Aber Martina kocht sicher gerade welchen. Einen trinkste doch mit, oder?“
„Na ja, einen vertrage ich wohl noch.“
„Siehste.“, sagte Luise und tippelte zu ihrem Wohnzimmerschrank, aus dem sie die altbewährten Waffelröllchen zog.“
„Wegen mir musst du jetzt aber keine Kekse mehr herkriegen.“, protestierte Bernhard.
„Ach, so'n bisschen was zu knabbern“, hielt Luise dagegen, „damit der Kaffee nicht so allein im Magen ist und vor lauter Einsamkeit Schaden anrichtet. Kuchen kriege ich ja heute nicht, den hätte es bei der Frauenhilfe gegeben, da hat Martina nichts für mich mitgebracht.“
„Die kann dir doch wohl eben noch ein Stück holen.“
„Nee, der Dorfladen hat ja nur morgens auf.“
„Mittwochs auch nachmittags.“
„Das wusste ich gar nicht.“
„Wie isses, Luise? Gehen wir beide dahin und setzen uns bei Kaffee und Kuchen ins Café?“
„Ach, du bist wohl nicht ganz gescheit.“, erwiderte Luise. „Martina hat bestimmt gleich den Kaffee fertig. Soll die den etwa weg kippen? Und wie sieht das denn aus, wenn ich nicht zur Frauenhilfe gehe, aber zum Kaffeetrinken in den Dorfladen. Da zerreißen sich ja alle die Mäuler über mich.“
Wie auf ein Stichwort betrat Martina das Wohnzimmer mit dem erwarteten Kaffee. Sie schenkte Bernhard und Luise eine Tasse ein und stellte einen Teller mit weichen Orangen-Schokoladen-Plätzchen dazu. „Deine Waffelröllchen pack mal wieder in den Schrank.“, scherzte Martina. „Hans Dillinger kommt heute nicht.“
„Nein, der kommt schon lange nicht mehr.“, antwortete Luise mit unverhohlenem Bedauern. „Ist auch schon seit acht Jahren tot.“
Trotzig stellte Luise ihre Waffelröllchen auf den Tisch, denn sie fand sie immer noch köstlich im Gegensatz zu Martinas Billig-Gebäck für Zahnlose. Sie hatte zwar schon lange keine eigenen Zähne mehr, aber mit der Haftcreme saßen die Dritten bombig.
„Und was gibt’s Neues, Bernhard?“, fragte Luise und biss demonstrativ in ihr knuspriges Lieblingsgebäck.
„Ach, ich hab' wieder Ärger mit meinen Mietern. Immer dasselbe.“
„Ach, mit diesen Klutes?“
„Nein, die benehmen sich ganz ordentlich, wenn nur die Frau nicht immer so viel dummes Zeug sabbeln würde. Aber er hat ja studiert. War ja Doktor in Bielefeld.“
„War der nicht Internist?“, fragte Luise.
„Nee. Fach-arzt für All-ge-mein-me-di-zin. So nannte der sich. Na, jedenfalls ist er ganz vernünftig, so'n Ruhiger, aber sie, dann wollte sie die Buchsbaumhecke wegreißen und Lavendel pflanzen, dann wollte sie das Carport bunt anmalen, dann die Terrasse anders pflastern, aber ich hab' ihr gesagt, Frau Rösener-Klute, hab' ich gesagt, wenn Sie das alles so haben wollen, müssen Sie sich ein eigenes Haus kaufen. Da hat sie ihren Lavendel mit ins Rosenbeet gepflanzt, am Carport hängen jetzt so komische, bunte Stofffetzen und auf die Terrasse haben sie Holzfliesen gelegt, die man einfach wieder runternehmen kann. Aber eins sag' ich dir, wenn das gammelnde Holz mir die Platten versaut, dann zahlen die mir das auf Heller und Pfennig.“
„Geld genug haben die ja, wenn er Doktor war. Und die anderen?“
„Ja. Die sind das Problem. Zuerst wohnten oben drin ja diese Habenichtse, die zuerst mit den Scheinen wedelten und nachher pleite waren. Und bei denen, die dann einzogen, dachte ich, jetzt habe ich meine Ruhe. Ich hatte mich extra vorher erkundigt. Sein Vater war Professor und ihrer Pastor. Die sind beide Lehrer und haben zwei Kinder. Die sahen auch ganz ordentlich aus, als die sich vorstellten, hatten die Haare ordentlich, die Kleidung war sauber, die Schuhe geputzt, das Auto gewaschen und die Kinder gut erzogen. Sie waren mit allem zufrieden, auch damit, dass sie den kleineren Garten haben, der auch noch zum Norden liegt, aber dafür ist die Wohnung ja mit Südbalkon. Aber dann ging's los. Zuerst habense ein Bienenhotel gebaut, was'n Quatsch, wo so ein Ding doch ein paar Meter weiter an der Boulebahn steht, und die Nachbarn haben sich beschwert, dass sie beim Kaffeetrinken auf der Terrasse immer alles voller Bienen, Hummeln und Wespen haben.“
„Wer, diese Klutes?“
„Ja, die auch, aber auch die vom Haus nebenan. Diese Lehrer meinten jedenfalls, das läge nicht an ihrem Bienenhotel, das wäre im Spätsommer eben so und sie sollten mal froh sein, dass das ganze Gift inne Landwirtschaft nicht alle Bienen ausgerottet hätte, sonst gäbe es bald nichts mehr zu essen.“
„Ja, aber ohne das Gift jawohl auch nicht.“, mischte Martina sich nun ein, die die ganze Zeit über neugierig dabei gestanden hatte. „Ohne Pflanzenschutzmittel, Schädlingsbekämpfung und Kunstdünger würden unsere Äcker wohl kaum genug hergeben für die ganzen Leute in unserem vollen Land.“
„Na, werden ja eher weniger als mehr.“, meinte Luise. „Werden ja kaum noch Kinder geboren.“
„Dafür kommen jetzt die ganzen Flüchtlinge. Und die Türken sind ja auch noch da. Die kriegen immer noch reichlich Kinder, und die müssen ja schließlich auch alle was essen.“
„Erzähl das mal Herrn Lehrer und Frau Lehrerin.“, meinte Bernhard. „Jetzt haben sie doch die schöne, einheitliche Puschenrasenfläche aufgerissen und da landwirtschaftliches Gras mit Wiesenblumen eingesät, mitten in der Siedlung, und ich kann jetzt wieder zusehen, wie ich die Nachbarn beruhige, die sich über die ganzen Unkrautsamen ärgern, die zu ihnen rüberfliegen.“
„Was soll denn der Quatsch mit der Wiese?“, fragte Luise. „Haben sie dazu was gesagt?“
„Die fingen doch tatsächlich wieder mit den Bienen an!“, regte Bernhard sich auf. „Und die Schmetterlinge haben sie ja auch noch ins Spiel gebracht. Tja, und jetzt wollen sie den Holzschutzanstrich vom Carport auf Schadstoffe untersuchen lassen und ich soll das bezahlen, und wenn es dann wirklich zu giftig ist, dann soll ich das Teil abreißen und neu aufbauen und selber zahlen wollen sie natürlich nichts, sagen, das wäre Vermietersache.“
„Sollen sie doch woanders hinziehen, wenn ihnen das alles nicht passt.“, meinte Martina.
„Ja, das habe ich auch gesagt.“, erklärte Bernhard. „Aber da wurde die Frau Lehrerin regelrecht zur Furie. 'Das könnte Ihnen so passen!', hat sie gesagt und 'So einfach kommen Sie uns nicht davon.' - Nein, nein, ich sage euch, das macht heute alles keinen Spaß mehr mit dem Vermieten. Ich dachte, bei so 'nem Neubau läuft das alles von selbst, aber jetzt denke ich manchmal, ich sollte alles verkaufen und aufbrauchen. Gibt ja sowieso keinen, dem ich was vererben kann.“
„Ach, Onkel Bernhard“, versuchte Martina ihn zu beruhigen, „wenn du kein Aufgabe mehr hast, dann langweilst du dich am Ende noch zu Tode. Du schaffst das schon. Notfalls ekelst du die Lehrer raus. So schwierig ist das gar nicht.“
„Na, wenn das nicht so schwierig ist“, erwiderte Bernhard, „kannst du das ja übernehmen. Aber sag mal, Martina, hast du gar nichts zu tun?“
„Wieso? Ich kann hier doch wohl stehen, schließlich wohne ich auch hier.“
„Na, dann setz dich wenigstens hin, sonst hat man ja das Gefühl, dass man gleich wieder gehen soll.“
Mit einem Lächeln, das Gelassenheit ausdrücken sollte, aber kaum ihre Verärgerung verbarg, setzte Martina sich betont langsam auf einen Sessel.
„Besser so?“, fragte sie.
„Viel besser.“, antwortete Bernhard.
Nach einer Stunde machte Luises Schwager sich auf den Heimweg und Martina begleitete ihn zur Tür. Danach räumte sie das Kaffeegeschirr ab und ließ Luise allein. Im Fernsehen lief um diese Zeit nichts Interessantes und außerdem wollte Luise wissen, was sie bei der Frauenhilfe verpasst hatte. Sie rief Hildegard Bierhoff an, ihre langjährige Freundin, die seit ihrer Heirat im Gasthof lebte. Als sie sich nach längerem Läuten am Telefon meldete und Luise sich zu erkennen gegeben hatte, fragte die: „Luise, wo bist du heute Nachmittag gewesen? Alle haben nach dir gefragt.“
„Stell dir vor, ich hab schon wieder verschlafen.“
„Hätte Martina dich nicht wecken können?“
„Sie meinte, ich hätte so laut geschnarcht, dass sie dachte, ich wäre zu erschöpft für die Frauenhilfe.“
„Ach was. Die hatte nur wieder keine Lust, dich da hinzubringen.“
„Da hätte ich doch allein hingehen können.“
„Na na, du warst ja nun ziemlich lange ziemlich krank.“
„Ach ja, aber das ist ja nun zum Glück überstanden. Warum ich anrufe, was gab's denn heute bei der Frauenhilfe?“
„Die Pastorin aus Künsebeck war da und hat einen Vortrag gehalten über Krankenhäuser in Tansania für züchisch Kranke.“
Das Wort „psychisch“ konnte Hildegard wie die meisten Angehörigen ihrer Generation nicht korrekt aussprechen.
„Ach, die Droste?“
„Nein. Die Droste ist doch in Brockhagen. Die Wiesemann.“
„Ach, die mit dem einen Pastor in Halle verheiratet ist?“
„Ja genau. Die hat da in Künsebeck aber nur ein paar Stunden.“
„Ist ja auch richtig so. So ein Pastor verdient ja nun wirklich ordentlich und einer muss schließlich bei den Kindern bleiben.“
„Ach, die gehen doch schon lange zur Schule.“
„Ja und? Irgendwann kommen die auch nach Hause, wollen was essen und müssen Schularbeiten machen. Da muss auch jemand sein, der die abends ins Bett schickt. Wenn dann beide Eltern in der Gemeinde rumpuzzlen, wie soll das gehen?“
„Ja, aber sie hat ja nur ein paar Stunden, Luise.“
„Ja, das ist wenigstens vernünftig. - Welchen Kuchen gab es denn?“
„Zitronenrolle.“
„Nur für die Diabetiker oder für alle?“
„Nein, heute für alle.“
„Na, dann habe ich ja da wenigstens nichts verpasst. Das ist für mich kein Kuchen, das ist parfümierter Nachtisch. Wer hat die denn bestellt?“
„Anna Mauritz.“
„Ja, das will ich wohl glauben. Die hat ja auch schon ewig last mit ihren Zähnen. Die soll sich ihre paar alten Stummel raus reißen lassen. Ich jedenfalls bin mit der Haftcreme ganz zufrieden.“
„Sie ist wohl noch nicht so weit.“
„Gab es sonst was Neues?“
„Tiedemanns Bianca hat wohl was Kleines unterm Kittel.“
„Ich habe es gesagt! Die verliert ihre Unschuld noch vor ihren Babyspeck-Pausbacken. Wie alt ist die jetzt eigentlich?“
„Siebzehn“
„Oh Gott! Und der Vater?“
„Kuglers Otto sein Enkel. Marvin heißt der.“
„Martin?“
„Nein, Mar-vin. Mit v, aber wie in Vase.“
„Verrückter Name.“
“Das sag auch mal. Verrückter Name und verrückter Kerl. Ist auch gerade mal achtzehn. Und so, wie der immer mit Ottos Mercedes durch die Straßen jagt, muss Bianca zittern, ob sie überhaupt noch vor der Niederkunft unter die Haube kommt.“
„Wollen die denn heiraten?“
„Das will ich doch wohl hoffen!“
„Kann man heutzutage nicht wissen.“
„Auch wieder wahr.“
„Wie geht es eigentlich Hagemeyers Gerd?“
„Ach, der liegt ganz schlecht. Den haben sie am Montag wieder ins Krankenhaus gebracht. Marianne ist fix und fertig.“
„War sie denn bei der Frauenhilfe?“
„Nein. Da hat sie keinen Sinn für. Beckers Mathilde hat mir das erzählt.“
„Geht's der denn wieder besser?“
„Ja, seit sie die Spritzen kriegt, sagt sie, kann sie es wohl aushalten.“
„Na, das ist doch mal eine gute Nachricht. Und du? Wie geht’s deinen Knochen?“
Ach, man beißt sich so durch. Du, Luise, aber nächstes Mal hole ich dich zur Frauenhilfe ab.“
„Ach was. Kannst mich ja anrufen.“
„Hast du denn Telefon am Bett?“
„Nein. Nächstes Mal mache ich meinen Mittagsschlaf auf'm Sofa. Grüß Renate mal schön und bis bald.“
„Ja, mach ich, Luise. Halt die Ohren steif.“
Luise merkte, dass sie zur Toilette musste und setzte sich so schnell sie konnte in Bewegung, um Martina keinen Anlass zu geben, ihr Windeln aufzuschwatzen. Sie saß gerade glücklich, dass sie es rechtzeitig geschafft hatte, da klingelte das Telefon. „Wie ärgerlich“, dachte Luise, „jetzt verpasse ich einen Anruf und weiß noch nicht einmal, wer mich erreichen will.“
Martina hatte das Klingeln gehört und ging an den Apparat: „Tappe?“
„Ach, Martina, bist du das?“
„Ja. Und mit wem spreche ich?“
„Christiane Kleinebekel. Ich wollte eigentlich mit deiner Mutter sprechen.“
„Die ist gerade für alte Weiber.“
„Wie bitte?“
„Na ja, für kleine Mädchen passt ja nicht mehr so ganz.“
„Ach so. Jetzt verstehe ich das. Kannst du sie denn mal ans Telefon holen?“
„Wenn die erst sitzt, das kann dauern.“
„Dann warte ich eben so lange.“
„Was willste denn mit der besprechen? Die hört doch sowieso kaum noch was.“
„Dann schreie ich eben. Was du sagst, hört sie ja schließlich auch.“
„Da bin ich mir gar nicht so sicher.“
„Warum gehst du dann nicht mal mit ihr zum Arzt und besorgst ihr ein Hörgerät?“
„Ach, das lohnt sich doch nicht mehr.“
„Wie bitte?“
„Ich meine, die Zuzahlung ist richtig hoch und meine Mutter wird da gar nicht mehr mit fertig. Das ist rausgeschmissenes Geld. Früher hat man auch nicht so ein Gewese um die alten Leute gemacht. Die wurden anständig versorgt und wenn es nicht mehr ging, sind sie gestorben. Heute versucht man alles immer weiter künstlich zu verlängern und die Krankenkassenbeiträge steigen und steigen.“
„Martina, das will ich alles gar nicht gehört haben, aber ich will jetzt mit deiner Mutter sprechen.“
„Die sitzt auf'm Klo.“
„Dann geh' und guck bitte, ob sie fertig ist.“
„Na gut.“
Martina schlurfte schwerfällig über den Flur zum Bad ihrer Mutter.
„Mama, Telefon.“
„Wer ist denn da?“
„Christiane Kleinebekel.“
„Ich komme.“
Luise kam wieder angekleidet aus dem Bad und bewegte sich zielsicher ins Wohnzimmer. Sie nahm den Telefonhörer und setzte sich aufs Sofa.
„Hallo Christiane, hier ist Luise.“
„Mensch, Tante Luise, hat deine Wärterin dich am Ende doch ans Telefon gelassen?“
„Och, Christiane, ich war nur kurz auf'm Klo. Schön, dass du anrufst. Wie geht’s dir denn?“
„Danke, gut. Aber eigentlich rufe ich an, weil ich hören wollte, wie es dir geht. Man sieht dich ja überhaupt nicht mehr.“
„Ja, so geht das mit uns Alten.“, erklärte Luise. „guck mal, meine Freundin, die Elisabeth, weißte, die Pastorentochter, die lebt ja auch noch, die ist schon seit Jahren im Heim und ganz durch'n Wind. Die braucht auch keiner mehr besuchen, die erkennt einen sowieso nicht. Und wenn's bei mir erst im Kopf losgeht, gehe ich besser auch nicht mehr aufe Straße.“
„Tante Luise, du bist doch noch so klar im Kopf wie ein Glas Korn. Hast du dich denn von deiner Sommergrippe immer noch nicht erholt?“
„Eigentlich schon. Aber ich bin doch noch reichlich erschöpft. In unserem Alter steckt man das nicht mehr alles so weg. Heute wollte ich eigentlich zur Frauenhilfe, aber das habe ich schon wieder verschlafen.“
„Dann könntest du aber schon aus dem Haus gehen?“
„Theoretisch.“
„Na, dann kann ich dich ja wohl auch mal besuchen. Übernächste Woche habe ich ein bisschen mehr Zeit. Hast du Montag Nachmittag schon was vor?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Dann halten wir das fest?“
„Ja, ist gut. Aber sag mal, wie geht’s denn deinen Kindern?“
„Alles bestens. Wachsen und gedeihen.“
„Solange sie sich noch nicht vermehren.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Tiedemanns Bianca kriegt doch was Kleines.“
„Was, ehrlich? Wer hat dir das denn erzählt?“
„Bierhoffs Hildegard. Gerade eben. Hat sie bei der der Frauenhilfe gehört. Bianca ist wohl erst siebzehn und der Vater auch gerade mal achtzehn.“
„Wer ist denn der Vater?“
„Ein Enkel von Otto Kugler.“
„Der Sören?“
„Nein, so hieß der nicht.“
„Marvin?“
„Ja, genau. So wie Martin, nur mit v wie in Vase. Also pass' auf auf deine beiden. Das kann schneller gehen, als man denkt und eh du dich versiehst, biste Oma.“
Christiane lachte und scherzte: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bess'res findet.“
„Ja, das sag auch mal, Christiane. Guck mal, der Erich Mensendiek, was hat der mir Jahrelang den Hof gemacht, war ja auch ein schneidiger Kerl, eine Menge Mädchen waren scharf auf ihn, aber wenn ich mir den jetzt angucke, will ich den nicht tagein, tagaus bei mir in der Stube sitzen haben. Trautes Heim, Glück allein, sag ich immer.“
„Du bist nicht allein, Tante Luise.“, erwiderte Christiane schmunzelnd. „Übernächste Woche komme ich vorbei und bringe Kuchen mit. Magst du noch so gern Friesentorte?“
„Oh ja, und wie!“
„Dann backe ich eine. Tschüss.“
„Ja, Tschüss, Christiane.“
Langsam legte Luise den Hörer zurück auf die Gabel. Ein verschmitztes Schmunzeln umspielte ihre vom Alter noch schmaler gewordenen Lippen. Sie war alt und runzlig, aber wie sie da in ihrem feinen Kleid kerzengerade auf dem Sofa saß, sah sie aus wie die englische Königin.

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