Freitag, 28. August 2020
Wahlkampf
Brütende Hitze schon um neun Uhr morgens, das war irgendwie auch nicht richtig, nicht einmal im August. Paul holte die Zeitung ins Haus, wusste ja im Großen und Ganzen, was drin stand: die überregionalen Berichte waren am Vortag in den Fernsehnachrichten gelaufen, die Inhalte des Lokalteils, die ihn interessierten, kannte er bereits, saß ja seit Jahren im Stadtrat und war mit allen im Gespräch. Die Tagespresse diente mehr einem Frühstücksritual, als der Befriedigung seines Informationsbedürfnisses.

Heute erlebte er eine Überraschung. Dass so etwas überhaupt noch möglich war. Ein Leserbrief von Frank Schulte, diesem geckenhaften Theologen, der sich mit der Beharrlichkeit eines hungrigen Nagetiers in den Landtag zu mogeln versuchte, ausgerechnet für die sterbende Partei Deutschlands, ausgerechnet in einer konservativen Hochburg.
„Geschmückt mit fremden Federn“ lautete die Überschrift, „Radwege für für Robbelsdorf schreiben sich plötzlich alle auf die Fahne“
„Meine Güte“, stöhnte Paul. „Was hat er denn jetzt für ein Problem?“
Neugierig las er, was der unliebsame kommunalpolitische Weggefährte zu sagen hatte:
„Mit Befremden nehme ich in den letzten Tagen die großspurige Propaganda diverser politischer Parteien wahr, die sich als Retter der Ortsteile inszenieren und sich dabei in geradezu schamloser Weise mit fremden Federn schmücken. Es ist ja eine bekannte Strategie, dass konservative Bundesregierungen sich mit einer stabilen Wirtschaftslage brüsten, die sie lediglich den umsichtigen und nachhaltigen Maßnahmen der Vorgängerregierung verdanken. Dass nun aber schon auf kommunalpolitischer Ebene dem Bürger so offensichtlich und frech ins Gesicht gelogen wird, das ist schon ganz großes Kino!
Das vorbildliche Radwegnetz in Robbelsdorf, an dem die Bürgerinnen und Bürger sich seit nunmehr zwei Jahren erfreuen dürfen, geht auf das Konto meiner Initiative im Stadtrat. Gegen zahlreiche Widerstände habe ich es in langen Kämpfen durchgesetzt und nun brüstet sich die Partei der Untätigen, allen voran der für das Bürgermeisteramt kandidierende Herr Rabente mit dem Ergebnis. Aber so ist es ja immer: Die einen räumen das Haus auf und die anderen empfangen den Besuch und geben mit den behaglichen Räumlichkeiten an. Ein schäbiger Politikstil, in den all jene verfallen, die selbst nichts zu bieten haben.“
„So ein Idiot.“, dachte Paul. Das war doch wirklich jedem klar, dass Radwege zu den Schwerpunkten seiner Partei gehörten. Schulte hatte aus ureigenstem persönlichen Interesse – er war Freizeit-Radsportler – das Thema in den Rat eingebracht, das war richtig, aber alles andere hatten Paul und seine Weggefährten vorangetrieben, denn mit Arbeit, machte Frank Schulte sich nicht die Hände schmutzig. Schließlich war er ein Mann des Wortes.

Es klingelte an der Haustür. Für die Post war es eigentlich zu früh. Wer das wohl sein mochte?“ Paul schlurfte durch den Flur, um zu öffnen. Dort standen ein Mann mit übellaunigem verlebtem Gesicht und eine aparte junge Frau. Wie Zeugen Jehovas sahen die nicht aus. Der Mann stellte sich vor: „Guten Morgen, Herr Rabente. Mein Name ist Stefan Keller und das hier ist meine Kollegin Sabine Kerkenbrock. Wir sind von der Kriminalpolizei und ermitteln in einem Mordfall. Dürfen wir hereinkommen?“
„Können Sie sich ausweisen?“, fragte Paul skeptisch.
Beide zeigten ihm umgehend ihre Dienstausweise, die überzeugend echt wirkten. Mit Sicherheit konnte er das nicht sagen, er sah diese Karten zum ersten Mal. Sie wirkten beide nicht wie Trickbetrüger, also ließ er sie eintreten und bat sie ins Wohnzimmer. Alle drei setzten sich und Paul fragte: „Aber wer ist denn nun ermordet worden?“
„Pfarrer Frank Schulte, der Landratskandidat der SPD.“, antwortete der Kommissar.
„Das ist ja schrecklich!“
„Waren Sie befreundet?“
„Wir saßen zusammen im Stadtrat. Aber natürlich für unterschiedliche Parteien.“
„Sie kandidieren für den Bürgermeisterposten?“
„Ja, aber für die Grünen.“
„Haben Sie heute morgen schon die Tagespresse gelesen?“
„Ja, gerade eben. Fragen Sie wegen des Leserbriefs von Frank Schulte?“
„Ja, genau. Hatten Sie darüber im Vorfeld eine Auseinandersetzung?“
„Nein. Ich war vollkommen überrascht. Radwege sind ein originär grünes Thema, natürlich haben wir das Projekt von Anfang an im Rat mit vorangetrieben. Das ist platteste Wahlkampfpolemik, was der Herr Schulte da verfasst hat. Er will mit Gewalt in den Landtag, schon seit Jahren. Ich vermute, er hat das Pfarrerdasein satt und wäre lieber Berufspolitiker. An diesem Image hat er schon lange gearbeitet.“
„Ging er dabei sprichwörtlich über Leichen?“
„Nein, so krass würde ich das nicht formulieren. Rücksichtslos, ja. Selbstverliebt, geltungssüchtig, bisweilen verbissen und verzweifelt. Großspurig und ein bisschen größenwahnsinnig war er auch. Aber er hat keine Existenzen vernichtet. Wozu auch?“
„Nun, offensichtlich war er aber jemandem im Weg. Haben Sie eine Vorstellung, wer ihn loswerden wollte?“
„Nein. Da bin ich vollkommen ratlos.“

Frustriert verließen ihn die Beamten. Paul hatte ganz vergessen zu fragen, wie Schulte ums Leben gekommen war. Vermutlich hätten Sie auch nichts verraten, weil es sich dabei um Täterwissen handelte. Hätte er gewusst, dass man ihm seine eigenen, zerknüllten Wahlplakate in den Rachen gestopft hatte, bis er daran erstickt war, hätte er geahnt, wer der nächste war.

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