Freitag, 21. August 2020
Sehnsuchtsort
Das Haus war sein stärkstes Argument. Ohne das Haus in Holland hätte sie ihn längst verlassen. Er hatte es geerbt von seinem niederländischen Großvater, ein jahrhundertealtes Fischerhaus: Gegenüber der Bäcker, bei dem man sich in Pantoffeln Brötchen holen konnte, nach hinten hinaus das winzige Gärtchen an der Gracht, nur drei Kilometer bis zum nächsten Strand, umgeben von einem Dorf wie auf einem Adventskalender und einer Landschaft wie in gefälligen Aquarellen gemalt.
Sie hätte das Haus gern für sich gehabt, ohne den anspruchsvollen Gatten und Lebensgefährten, der ständig nach Gesprächen und gemeinsamen Aktivitäten gierte.

Jetzt lag er oben im Bett und schnarchte. Sie war die steile Stiege hinuntergeschlichen, hatte sich einen Tee gekocht und genoss die Stille der Nacht, die nur alle fünfzehn Minuten vom Klang der Turmuhr durchbrochen oder vielmehr strukturiert wurde.
In ihrem Kopf wurde die Geschichte des Ortes lebendig. Mehrköpfige Familien hatten in dieser winzigen Hütte gelebt und gearbeitet: Nach vorn hinaus ein Laden, in der Mitte Alkoven zum Schlafen und nach hinten eine Küche und vielleicht ein Schuppen zum Ausbessern der Netze.

In den ersten Jahren hatte seine Risikobereitschaft an ihren Nerven gezerrt: Immer schwamm er zu weit hinaus, sogar bei Ebbe, sogar am Atlantik. Wenn er dann ewig nicht zurückkam, geriet sie in Panik, sie hätte ihn ja nicht retten können, war eine viel zu schlechte Schwimmerin. Auch hier an der Nordsee war mit der Strömung nicht zu spaßen, aber er schlug wie immer alle Warnungen in den Wind.
Irgendwann war ihr aufgefallen, dass ihre Panik nicht dem möglichen Verlust ihres Lebenspartners galt, sondern der Scheu vor Unannehmlichkeiten, schwierigen, organisatorischen Herausforderungen, verstörenden Verdächtigungen…
Sie stellte zum ersten Mal fest, dass sich die Sorge in Hoffnung gewandelt hatte, ja sogar in so etwas wie Euphorie. Wenn er nun wirklich nicht zurückkam? Wann musste sie den Rettungsdienst alarmieren? Wie lange konnte sie es glaubwürdig hinauszögern?

„Oh komm, du Geist der Wahrheit“, spielten die Carillons in einer Penetranz, die kein Zufall sein konnte. Auch wenn sich diese geistliche Musik einreihte in Bizets „Carmen“, das britisch-patriotische „Land Of Hope And Glory“ und den „Entertainer“ aus dem Hollywoodfilm „Der Clou“, so war es doch bezeichnend, dass gerade dieser Choral sich in ihren Kopf bohrte und nicht „Lobe den Herren, den mächtigen König“ oder „Geh aus mein Herz und suche Freud“.
Die Wahrheit erschien ihr grundsätzlich attraktiv, sie hatte an sich kein Bedürfnis, sie zu verdrängen, nur dieses unbequeme Detail, dass sie extra lange gewartet hatte, das wollte sie gern unterschlagen. „Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“, das war gegenwärtig nicht in ihrem Interesse, sie favorisierte Dunkelheit und Nebel und wollte gern den trügerischen Schein der trauernden Witwe aufrecht erhalten. Die indigenen Evangelikalen, die sie stets mit argwöhnischen Blicken musterten, hatten sie ohnehin im Visier. „Dat is ook niet een van ons.“, flüsterten sie unüberhörbar hinter überflüssigerweise vorgehaltener Hand. Zum Glück bildeten diese sauber geschrubbten und blütenweiß gestärkten Religionsfaschisten nicht die Mehrheit der örtlichen Bevölkerung. Aber ihr inquisitorischer Habitus vergiftete die Atmosphäre mit einem Anstrich von Hexenverfolgung und sie fühlte sich als Opfer. Ja sie war ein Opfer, keine Täterin, denn sie hatte nichts getan, gar nichts, absolut überhaupt gar nichts hatte sie getan.

Die Sonne brachte die Hortensienblüten, die korallenroten Ebereschenbeeren und die fast reifen Weintrauben im Gärtchen zum Leuchten. Die Enten planschten im Wasser, Tauben stritten gurrend um die Grenzen ihres Reviers und hässliche Silbermöwen konkurrierten um die Pole Positions auf den Schornsteinen. Der Himmel war so blau wie die Unendlichkeit und bunte Schmetterlinge umflatterten die bereits dahinwelkenden Blüten. Sie betrachtete den seidigen Schimmer ihrer sich in feinsten Fältchen kräuselnden Haut. Wie viel Zeit ihr wohl noch blieb, um die Intimität dieses einzigartigen Fleckchens regelmäßig zu genießen?


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