Donnerstag, 16. Juli 2020
Mamma
Das letzte, das er sah, waren die wimpernlosen, dunkel geränderten Augen der kahlköpfigen Frau. Mit letzter Kraft blies sie ihm das Lebenslicht aus. Sie hatte nicht mehr viel Zeit, aber sie überlebte ihn. Dabei hatte alles so harmlos angefangen.

An einem schönen Junitag war sie zur routinemäßigen Mammographie erschienen – sechs Mal spanischer Büstenhalter: zwei Mal horizontale Quetschung, zwei Mal vertikale Quetschung und zwei Mal die Cleopatra, um das Gewebe zwischen Brustansatz und Achselhöhle zwischen die Platten des Röntgengeräts zu bekommen. Dazu musste die Frau sich in einer theatralischen, Ballett-Figur positionieren, mit vorgestreckter Brust, durchgebogenem Rücken, halb seitlich, halb rückwärts gewandtem Kopf und ausladender Armbewegung. Jedes Mal dachte sie: Jetzt ist die Maschine am Anschlag, jetzt geht nichts mehr, aber es wurde immer noch ein bisschen mehr gequetscht, ein nahezu unerträgliches Folterinstrument kam da zum Einsatz, aber was tat frau nicht alles für die Gesundheit.

Wieder zwei Jahre Ruhe, hatte sie gedacht und war erlöst nach Hause gegangen. Falsch gedacht. Nach einer Woche war ein Schreiben gekommen. Bitte in einer Woche noch einmal zur Abklärung erscheinen. Zu weiteren Aufnahmen und Ultraschall. Kein bösartiger Befund. Aber auch keine Entwarnung.

Eine Woche Zittern. Na gut, das ließ sich aushalten. Sie war pünktlich zum Termin erschienen, saß trotzdem eine halbe Stunde im Wartebereich. Dann wieder in den spanischen Büstenhalter, glücklicherweise nur mit einer Brust. Danach zusätzlich eine halbe Stunde warten auf den nächsten Schritt. Ultraschall. Die Ärztin war einigermaßen verzweifelt. „Ich kann es nicht abbilden.“, sagte sie. „Ich sehe nichts, das ist eigentlich gut, aber auf der Röntgen-Aufnahme ist etwas zu sehen, das ist nur leider so nah an der Thoraxwand, dass man es weder mit der Mammographie noch im Ultraschall vernünftig sehen kann. Im Kernspin könnte man eindeutig etwas erkennen, aber das zahlt die Krankenversicherung nicht.“
„Was kostet das denn?“
„Um die vierhundert Euro.“
Sie schluckte heftig. Vierhundert Euro. Ein Klacks für die Besserverdienenden. Für sie selbst aber leider nicht aufzubringen.

Die Ärztin sah sich noch einmal die Aufnahmen an und meinte schließlich: „Es kann sich auch durchaus um eine normale Gewebeüberlagerung handeln. Sie bekommen einen Termin in sechs Monaten, dann kontrollieren wir, ob sich etwas verändert hat. Seien Sie dann bitte unbedingt da.“

Sechs Monate zittern. Na das konnte ja heiter werden. Aber musste das sein? War das hier nicht ein Ausnahmefall? Gleich am nächsten Tag suchte sie die örtliche Niederlassung ihrer Krankenversicherung auf.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte ein geschäftig und aufstrebend wirkender junger Mann mit dem üblichen, aufgesetzten Lächeln Empathie-befreiter Servicekräfte.
„Ich habe ein schwerwiegendes Problem.“, erklärte sie. „Beim Mammographie-Screening gab es eine auffällige Veränderung in der Brust zu sehen, bei der nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich um eine bösartige Variante handelt. Die Position ist so ungünstig, dass man weder bei der Mammographie noch beim Ultraschall vernünftig erkennen kann, um was es sich handelt. Die Ärztin hat mir erklärt, dass ein MRT eindeutige Ergebnisse liefern würde, dass die Krankenkassen das aber nicht bezahlen.“
„Das ist richtig.“, antwortete der junge Mann mit schon deutlich weniger freundlichem Gesichtsausdruck. „Vermutlich sind Sie vollkommen gesund und wenn bei jeder Frau ein MRT vorgenommen würde, würden die Kosten und damit auch die Versicherungsbeiträge explosionsartig in die Höhe schießen. Das will niemand. Wenn sich in einem halben Jahr etwas verändert hat, wird man weiter sehen.“
„Aber dann ist es vielleicht schon zu spät.“, sagte sie. „In einem halben Jahr kann sich die Lage dramatisch verändern.“
„Aber das ist doch nicht gesagt.“, beschwichtigte er sie.
Allmählich stieg ihr die Galle hoch: „Aber wozu veranstaltet man dieses sicherlich auch äußerst kostspielige, flächendeckende Screening, wenn man im Bedarfsfall nicht schnell handelt? Das ist doch schließlich der Sinn der Untersuchung: Früherkennung, damit man rechtzeitig intervenieren kann, sodass der Krebs nicht metastasiert und brusterhaltend, wenn nicht sogar minimalinvasiv operiert werden kann. Das muss doch auch im Interesse der Versicherer liegen, hier schnell zu handeln und so die Kosten geringer zu halten. Da müssen Sie sich doch für einsetzen!“
„Erklären Sie mir nicht, was wir müssen.“, erwiderte er nun mit vollends versteinerter Miene. „Selbstverständlich steht es Ihnen frei, einen Termin für ein MRT zu vereinbaren und in Vorleistung zu gehen. Sollte sich der Verdacht bestätigen und es sich tatsächlich um ein Mammakarzinom handeln, würden wir Ihnen Ihre Auslagen erstatten. Wenn wir aber wegen jeder Panikattacke den Empfehlungen der Radiologen folgen, sind wir sehr bald zahlungsunfähig. Glauben Sie mir, diese vielfachen apparatemedizinischen Untersuchungen sind nichts als Geldschneiderei. Die wollen Ihre Geräte auslasten, machen Ihnen Angst, damit Sie sich eine weitere, völlig überflüssige Untersuchung aufschwatzen lassen. Glauben Sie mir: Wenn die im Ultraschall nichts erkennen, dann ist da auch nichts.“

Sie fand sich mit der Zurückweisung ab. Was blieb ihr auch anderes übrig. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um weiterhin ihren Lebensunterhalt zu verdienen und konnte sich nicht in Streitereien mit der Krankenversicherung verzetteln.

Als sie ein halbes Jahr später wieder in den spanischen Büstenhalter gequetscht wurde, war das unscheinbare, kleine Etwas zu einem riesigen, invasiven Karzinom angewachsen, hatte Ausläufer in das umliegende Gewebe gebildet.

Es folgte das ganze Programm: Resektion der Brust, Bestrahlung, Chemotherapie mit allen üblichen Nebenwirkungen: Übelkeit, Schwäche, Reizung der Schleimhäute, Haarausfall.

Sie mochte sich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen. Nach zwei Jahren musste sie den erbitterten Kampf aufgeben, konnte nur noch palliativ behandelt werden. Sie wusste, dass das MRT höchstwahrscheinlich ihr Leben gerettet hätte. Im Frühstadium lag die Genesungsquote bei 90 Prozent. Aber es ging ja nicht um die Rettung von Testikeln sondern um Brüste, dazu um Brüste von alternden Frauen, an denen kein Mann mehr ein gesteigertes Interesse hatte. Schon gar nicht der junge Schnösel, der sie so brüsk abgewiesen hatte. Sie würde gehen müssen, aber ihn würde sie mitnehmen und wenn er in ihr Gesicht sah, würde er wissen, warum.

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