Freitag, 26. Januar 2024
Spoiler 15
1988

Am 17. April stand trotz des noch jungen Trauerjahres ein Fest auf dem Hof Vollweiter-Rahmöller an. Raimund feierte seine Konfirmation und Ingrid hatte alle Verwandten dazu eingeladen. Lisbeth hatte beim Putzen, Backen und Kochen geholfen, alles andere wäre gegen ihre Landfrauenehre gegangen.
Die Konfirmandengruppe war so groß, dass in der kleinen Johanneskirche in Häger nicht alle Angehörigen Platz gefunden hätte, darum fand der Festgottesdienst in der größeren und auch schmuckreicheren Jacobi-Kirche in Werther statt. Raimund fühlte sich unwohl in dem dunklen Herrenanzug mit den blank polierten Spießerschuhen. Die Krawatte schnürte ihm die Kehle zu und der gestärkte Hemdkragen kratzte am Hals. Lisbeth hatte darauf bestanden, damit ihr Enkel einen ordentlichen Eindruck hinterließ. "Kleider machen Leute.", hatte sie gesagt und keinen Widerspruch geduldet. Auch das Stofftaschentuch, das er mitzuführen hatte, musste weiß und gestärkt sein. Er wollte diesen Tag einfach nur möglichst unbeschadet hiter sich bringen, reichlich Geldgeschenke kassieren und sich dann endlich eine anständige Stereoanlage kaufen.

Den Einzug hatten sie ausführlich geübt und so schritt er mitten in der Zweierreihe an der Seite von Stefan Horstmann die reihen mit den sich erhebenden Gemeindegliedern ab. Vor ihnen waren Sigrid Husemann und Christiane Walter an der Reihe. Er hatte noch immer Sympathien für Sigrid, wusste aber nichts damit anzufangen. Menschen waren ein unbekanntes, fernes Land für ihn, Mädchen ganz besonders.

Raimund saß seine Zeit ab, tat, was alle taten, ließ die Predigt an sich vorbei rauschen, litt an dem kratzenden Kragen, fror trotz des wärmenden Jacketts in der düster-klammen Luft, die von den dicken, alten Sandsteinmauern der alten Kirche eingeschlossen wurde. Das war hier nicht seine Welt, vor allem nicht, als er und Stefan aufgerufen wurden, um den Segen zu empfangen. Und dann gab der Pfarrer Raimund auch noch einen eigenartigen Konfirmationsspruch mit auf den Weg: "Erforsche mich Gott und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege." Psalm 139, 23f
Was für eine Unverschämtheit!! Da ließ der Pfaffe ihn öffentlich dastehen wie einen, den man einnorden musste. Das würde er ihm büßen. Raimund wusste noch nicht wie, aber er würde dem Paffen einen Denkzettel verpassen, einen, bei dem er wusste, von wem er kam, ohne irgendetwas beweisen zu können.

Nach dem Gottesdienst suchten viele seiner Altersgenossen mit ihren Angehörigen ein Restaurant in der näheren Umgebung auf. Dass es in seinem Fall weniger elegant zuging, machte ihm nichts aus, im Gegenteil. So konnte er sich leichter unbemerkt der todlangweiligen Gesellschaft entziehen und bekam nicht stundenlang enervierende Erwachsenengespräche aufgezwungen. Man lebte ja schließlich nicht mehr in den Vierzigern, wo mit der Konfirmation auch die Schulzeit und die Kindheit endeten, wo man in die Lehre ging und Teil der Erwachsenenwelt wurde. Raimund musste noch mindestens zwei Jahre zur Hauptschule und danach im Rahmen welcher Ausbildung auch immer drei weitere Jahre zur Berufsschule gehen. Erst dann würde er verstehen, worum genau die Gespräche an der Festtafel sich drehten. Den elterlichen Hof zu übernehmen, war eine sichere Variante, aber auch eine langweilige. Kohle wollte er machen, schnelles Geld mit wenig Aufwand. Er brauchte nur eine zündende Idee, einen Betrug, bei dem man todsicher nicht erwischt wurde, eine neue Geschäftsidee oder eine geniale Gang, mit der man sich nahm, was man wollte und die Beute brüderlich teilte. Allesamt diffuse Pläne, deren Verwirklichung er mit den Erwachsenen kaum erörtern konnte. Aber aus ihm würde ein Gewinner werden, das nahm er sich ganz fest vor, ihn würde niemand mehr zusammenfalten, demütigen, ausbremsen. Er würde sich nichts befehlen und gar nichts gefallen lassen.
Entschlossen und grimmig blickte er aus dem Fenster und fixierte den Horizont, während die Gäste um ihn herum alle gut gelaunt durcheinander schnatterten. Sie amüsierten sich prächtig, nur mit ihm sprach niemand. Ingrids Herz zog sich zusammen, als sie beim Abräumen der Suppenteller die finstere Miene ihres Sohnes bemerkte. Sie eilte zu ihm und drückte sein Gesicht an ihren Busen. "Ich bin so stolz auf dich, mein Großer.", säuselte sie.
"Lass das! Ich bin doch kein Baby mehr!", blaffte Raimund sie an und stieß sie grob zurück. Entsetzte Stille breitete sich aus. Sein Onkel Gerd sprang auf, griff sein linkes Ohr und zog ihn daran hoch.
"Du entschuldigst dich jetzt bei deiner Mutter, aber sofort!", brüllte er.
"Nun lass ihn doch, er hat ja Recht.", versuchte eine freundliche Nachbarin zu vermitteln.
"Der hat noch keine Rechte.", erwiderte Gerd. "Also, was is'?", wandte er sich wieder herausfordernd an Raimund. Der sprang plötzlich auf, befreite sich mit einer Drehbewegung aus dem Klammergriff des brutalen Onkels und konterte: "Du hast mir überhaupt nix zu sagen! Bist doch nicht mein Vatter!"
Dann rannte er weg von der Deele, auf dem schnellsten Weg in sein Zimmer, schloss sich ein und riss sich die unbequeme Kleidung vom Leib. Sie konnten ihn alle mal. Vielleicht würde er doch Landwirt, aber ein richtig guter. Gerd wäre der Erste, den er vom Markt drängte, sein ganzes Land würde er aufkaufen und wenn er dann eines Tages winselnd vor der Tür stände, würde er ihn vom Hof jagen. Spielte der sich hier als Beschützer seiner Schwester auf, dabei hatte er nie etwas für sie getan, auch jetzt nicht, wo sie es als Witwe besonders schwer hatte.

Als Raimund sich ein wenig beruhigt hatte, klopfte Ingrid sachte an seine Tür: "Komm doch Junge. Es ist doch vor allem dein Fest. Alle fragen nach dir. Und es gibt Welfenspeise zum Nachtisch."
"Ich zieh' aber nicht mehr diese Spießerklamotten an. Das kratzt alles."
"Musst du auch nicht. Nimm einfach eine saubere, schwarze Jeans und ein ordentliches T-Shirt."
Ein wenig tat es Raimund nun leid, dass er so eine Szene hingelegt hatte. Das war ja vor allem für ihn selbst ziemlich peinlich. Und es stand zu befürchten, dass einige Gäste unter diesen besonderen Umständen ihre Geldgeschenke zurückzogen. Es würde nicht leicht, aber wenn er es eines Tages allen zeigen wollte, musste er jetzt damit anfangen. Er zog an, was seine Mutter ihm geraten hatte und darüber die verkratzte, speckige Motorradjacke vom Flohmarkt, schließlich war es April und für langes Sitzen war es im T-Shirt zu kalt. Außerdem half ihm die Jacke dabei, sein Gedicht nicht zu verlieren. Stolz und ungebrochen trat er ihnen entgegen.

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Sonntag, 21. Januar 2024
Spoiler 14 - nichts für Kinder
1988

Die Kopfschmerzen, mit denen Horst an einem trüben Märzmorgen aufwachte, waren nicht stark, aber penetrant. Er hatte am Vorabend ein paar Gedecke zu viel versenkt. Mürrisch setzte er sich an den Frühstückstisch und versuchte mit Kaffee und Schinkenbroten den Schmerz zu vertreiben, doch er hielt sich beharrlich.
Ingrid fragte Raimund, ob sie am Mittwoch in die Stadt fahren könnten, um sich nach einem Konfirmationsanzug und Schuhen umzusehen.
"Hört auf zu quatschen!", blaffte Horst. "Ich hab' Kopfschmerzen!"
"Dann solltest du nicht regelmäßig mehr trinken als du verträgst.", wies Ingrid ihn zurecht.
Horst schlug ihr unvermittelt ins Gesicht und brüllte: "Und jetzt halt' die Klappe, sonst gibt's mehr davon!"
Für den Rest des Frühstücks duckten die anderen Familienmitglieder sich weg. Dann ging er in den Stall, um die Tiere zu versorgen.

Als er sich nach zwei-ein-halb Stunden zum zweiten Frühstück setzte und die Post durchsah, fiel ihm ein offizielles Schreiben der Schule seines Sohnes in die Hände: da stand etwas von mangelhaften Leistungen in Englisch und Deutsch und von Gefährdung der Versetzung.
"Verdammt!", fluchte Horst. "Der Junge ist doch schon einmal sitzen geblieben. Kann der sich nicht mal ein bisschen mehr anstrengen?"
"Sprache kann er nicht so gut.", entschuldigte Ingrid ihn. "Vielleicht braucht er ein paar Nachhilfestunden.
"So ein Tinnef!", schnaubte Horst. "Das kostet nur mein Geld, das sich irgendein pickliger Student in die Tasche steckt und bringt am Ende trotzdem nichts. Nur Zeitverschwendung und Ärger hat man mit dem Jungen. Das Einzige, was da hilft, ist eine anständige Tracht Prügel, damit der seine Schularbeiten ordentlich macht. Dem zeige ich schon, wo der Hammer hängt, wenn der heute Mittag nach Hause kommt."

Ingrid machte sich berechtigte Sorgen. Sie wollte nicht erneut die Blutergüsse und Schürfwunden kühlen müssen, die Horst dem Jungen mit dem Ledergürtel beibrachte. Und wer konnte schon mit Gewissheit sagen, dass er nicht eines Tages bleibende körperliche Schäden davontrug? Von den seelischen ganz zu schweigen. Beim Kartoffeln Schälen grübelte sie verzweifelt, wie sie Horst davon abhalten konnte, Raimund zu verdreschen.

Etwa zehn Minuten, bevor das Mittagessen fertig war, ging Ingrid in den Stall, um Horst Bescheid zu geben. Zum Mittagessen wusch er sich und zog sich gründlich um, um anschließend ein Nickerchen auf dem Sofa zu halten. Raimund war noch nicht aus der Schule zurück und Lisbeth deckte den Tisch. Ingrid konnte ihren Mann nirgends finden, weder beim Vieh, noch auf dem Plumpsklo, noch in der Scheune. Auf den Feldern gab es in dieser Woche nichts zu tun, da fiel ihr Blick auf das Getreidesilo. Die Abdeckung war zur Seite gezogen, so dass es nach oben offen stand. Richtig, er hatte beim zweiten Frühstück davon gesprochen, das im Silo irgendetwas nicht in Ordnung sei und er das reparieren müsse. Sie rief ihn, aber er antwortete nicht. Hatte das Problem mit den drohenden Prügeln für Raimund sich am Ende von selbst erledigt? War Horst schlecht geworden oder war er abgerutscht und ins Korn geraten? Darin versank man ja wie in Treibsand und musste jämmerlich ersticken.
Ingrid kletterte an den Außensprossen hoch, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Sie war regelrecht enttäuscht, als sie Horst im Inneren des Silos entdeckte: quicklebendig auf den inneren Sprossen, mit einem Eimer und einer Maurerkelle.
"Essen ist gleich fertig.", rief sie zu ihm hinunter.
"ich auch.", antwortete er. "Die Löcher sind geflickt, muss nur noch trocknen. Den Deckel mach' ich heute Abend wieder drauf."
Er stieg an den Eisenbügeln nach oben. Als er angekommen war, wandte er noch einmal den Blick aufs Getreide und sagte: "Is' noch alles schön trocken, scheint nichts passiert zu sein."
In diesem Moment gab Ingrid einem Impuls nach, einer inneren Stimme, die ihr sagte, dass sich diese Gelegenheit sicher nie wieder böte. Sie versetzte Horst einen kräftigen Tritt, der stürzte schreiend in die losen Weizenkörner und versank. Noch guckte der Kopf heraus und er rief: "Hol die Feuerwehr, du dumme Nuss, aber schnell!"
"Mach ich.", sagte Ingrid und kletterte nach unten. Doch sie tat nichts dergleichen. Die Zeit würde für sie arbeiten. Und zwar schnell. Als sie in die Küche kam, war Raimund schon zu Hause. Die Speisen standen dampfend in heißen Schüsseln auf dem Tisch. Ingrid schob Raimund Kartoffeln und Gulasch hin.
"Wo bleibt denn Horst?", fragte Lisbeth ärgerlich.
"Sagt, er kommt gleich.", erwiderte Ingrid und nahm sich von den Butterbohnen. Wenn sie das nächste Mal nach ihm sah, würde sich das Problem erledigt haben.

Eine halbe Stunde später war die Feuerwehr auf dem Hof, dann die Polizei, dann der Leichenwagen. Ingrids Rechnung war aufgegangen und alle kondolierten ihr wegen des schrecklichen Verlustes durch einen tragischen Arbeitsunfall. Nicht einmal Lisbeth hegte einen Verdacht.

Sie brachten die Beerdigung hinter sich, wie es sich gehörte und danach organisierte Ingrid Nachhilfe für Raimund. Er würde es schaffen, dafür würde sie sorgen, mit echter Unterstützung anstelle von Einschüchterung und Gewalt.

Zum Glück zahlte die Versicherung eine ordentliche Summe, sodass Ingrid landwirtschaftliche Helfer bezahlen konnte, die die schweren Arbeiten übernahmen. Mehr als die Hälfte der Acker- und Weideflächen verpachtete sie. Die konnte Raimund übernehmen, wenn er soweit war. Sie verkaufte auch einen Großteil des Viehs, behielt nur ein paar Schweine, vier Kühe und die Hühner.

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Freitag, 12. Januar 2024
Spoiler 13
1986
Niemand von den neuen Mitkonfirmanden und Mitkonfirmandinnen besuchte Raimunds Schule. Sie stammten alle aus Häger, aber er konnte nicht behaupten, dass er sie kannte. Wie sie wohl waren? Sie machten durchweg einen fröhlichen, unkomplizierten Eindruck, aber er traute dem Frieden nicht. Er wollte nicht wieder zur Zielscheibe von Spott und üblen Streichen werden. Er legte sich die Miene eines einsamen Killers zu: finster, abweisend, geheimnisvoll. Die Rechnung ging auf. Die anderen gingen ihm aus dem Weg und er hatte seine Ruhe. Er saß seine Zeit ab, erledigte hin und wieder die Hausaufgaben, saß blass, stumm und teilnahmslos auf seinem Stuhl. Vielleicht fiel dem Pfarrer das auf, aber er nahm es nicht zum Anlass, das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Der Junge störte ja nicht. Seine Lustlosigkeit war kein Einzelfall und seinem Alter geschuldet.
So sollte es die nächsten zwei Jahre weitergehen: leise, mürrisch, zurückgezogen.

In der Schule war er nicht sehr viel anders. Er hatte ein paar Freunde, war aber oft apathisch und teilnahmslos. Mitschüler und Lehrer hielten das für zur Schau gestellte Lässigkeit und Arroganz. Niemand kam auf die Idee, dass etwas nicht stimmte. Niemand ahnte, dass Raimund schlecht schlief, dass er aus Alpträumen erwachte, verzweifelt versuchte, seiner Mutter auszuweichen, die immer wieder viel zu nah kam, auf so merkwürdige Weise, von der er nicht sicher war, ob alle Mütter so etwas taten und er wagte nicht, sich jemandem anzuvertrauen. Damit wäre er aus dem Rahmen seines nach außen getragenen Bildes gefallen, dem Bild eines ganzen Kerls, unerschütterlich, nicht leicht zu beeindrucken, stark und überlegen, einer, der weiß, wo es langgeht.
Genau so wurde er wahrgenommen. Das spiegelten ihm seine Freunde und auch manche Lehrer. Und so wurde er langsam stärker, auch wenn sie blieb, die Angst vor dem gewalttätigen Vater und der übergriffigen Mutter. Er legte sich einen Panzer zu, an dem er die Angriffe abprallen ließ, damit sie nicht bis in seine Seele vordrangen. Schläge hielt er aus, der Mutter konnte er meistens entkommen und wenn nicht, ließ er es eine Weile zu, um sich dann bald unter einem Vorwand wieder zu entziehen. Doch dann wurde Ingrid fordernder. Sie behandelte ihn wie ein Zwergkaninchen, ein Tier, das man versorgt, damit man etwas zum Kuscheln hat. Und wenn das Tier nicht will, dann wird es geschlagen und festgehalten und auch gegen seinen Willen drückt man es an sein Herz, vergräbt die Nase in seinem weichen Fell, zwingt ihm die vermeintliche Liebe auf, um die es nicht gebeten hat und die doch eigentlich nur ein Bedürfnis nach physischer Nähe und Wärme oder dem angenehmen Gefühl der Berührung von seidig weichem Fell ist. Es geht nur um die eigenen Bedürfnisse. Liebe ist etwas anderes.
Tief im Inneren wusste Raimund das auch, doch er hatte keine Worte dafür. Stattdessen wappnete er sich, verdrängte, verhärtete. Er hatte ein großes Ziel vor Augen: Er würde aus der Opferrrolle herauswachsen und es allen zeigen.

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Freitag, 5. Januar 2024
Spoiler 12 - nichts für Kinder
1985
Auch wenn Raimund noch in die sechste Klasse der Hauptschule im benachbarten Halle ging, schickten seine Eltern ihn bereits mit zwölf Jahren zum kirchlichen Unterricht. Die meisten Jungen und Mädchen aus Häger besuchten ohnehin andere Schulen, seine Klassenkameraden wohnten überwiegend in Halle und Brockhagen, auf der anderen Seite des Teutoburger Waldes.
Die meisten Katechumenen trafen sich eine halbe Stunde vor dem Unterricht auf dem Hof der ehemaligen Dorfschule, auch um dort heimlich das eine oder andere Zigarettchen zu rauchen. Raimund brauchte ein paar Wochen, um davon etwas mitzubekommen, denn er stand ja mit niemandem von den Gleichaltrigen in Kontakt. Als er dann auch einmal zwanzig Minuten vor dem Unterricht auf dem Schulhof auftauchte, taten alle so, als sei er nicht vorhanden; teils aus Unsicherheit, teils aus Desinteresse, teils aus Verachtung - wer blieb schon in der Grundschule sitzen?
Raimund hätte gern dazu gehört, wenigstens einen Freund gefunden, aber da war nichts zu machen. Die treffen vor dem Unterricht gab er schnell wieder auf, kam einfach pünktlich oder ein paar Minuten zu spät, wodurch ihm zwar viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, hingegen noch weniger Wohlwollen - nun stand er auch auf dem Sympathie-Punkte-Konto des Pfarrers in den roten Zahlen.

Schon bald wurde er zur beliebten Zielscheibe gemeiner Streiche, erbarmungsloser Hänseleien und heimlicher Angriffe. Täter waren die Jungen, aber die Mädchen kicherten beifällig. Niemand war auf seiner Seite, ergriff Partei oder schützte ihn. Nicht einmal der Pfarrer sorgte für Gerechtigkeit, weil er selbstvergessen gefangen in seinen religionspädagogischen Vorträgen nichts von dem mitbekam, was sich unter den Heranwachsenden abspielte.
Raimund wusste sich nicht anders zu helfen: Als er von Carsten zum dritten Mal mit Krampen beschossen wurde, brüllte er: "Lass das, du Sackarsch!"
Die Miene des Pfarrers versteinerte. "Raimund, du bleibst nach dem Unterricht noch hier und bis dahin will ich nichts mehr von dir hören!"
Raimund schwieg erbost, während seine Peiniger feixten. Als alle gegangen waren, sagte der Pfarrer: "Solche Ausdrücke will ich hier nicht hören, das ist hier ein christliches Gemeindehaus, ein Ort des Friedens und der Nächstenliebe. Hier beleidigen wir uns nicht gegenseitig."
"Aber..."
"Ich will auch deine Ausreden nicht hören.", unterbrach der Pfarrer seinen Erklärungsversuch. "Ich erwarte einfach von dir, dass du dich künftig an die Regeln hältst. Und jetzt geh bitte. Ich habe noch viel zu tun heute."

Eine helle Flamme des Zorns brannte fauchend in Raimunds Magen. Demütigungen waren an sich schon schlimm genug, aber Ignoranz und Ungerechtigkeit wirkten wie Brandbeschleuniger. Doch wie sollte er seinem Herzen Luft machen? Vor seinen Eltern wollte er nicht dastehen als der dumme Junge, der von den anderen verführt und zum Dank als Einziger ermahnt wird. Jeden Abend vor dem Einschlafen grübelte er darüber nach, wie er dieser unrühmlichen Rolle entkommen könnte.

In der darauffolgenden Woche versuchte er es mit Ignorieren. Das nützte gar nichts. Und als ihm schließliche ein Krampe mitten im Gesicht traf, war es mit seinem Gleichmut zu Ende. Er sprang auf und verpasste dem Übeltäter eine Ohrfeige. Der schlug zurück und gleich darauf wälzten die beiden Jungen sich auf dem Boden. Der Pfarrer trennte die beiden Kampfhähne energisch. Und als alle beteuerten, Raimund habe angefangen, war das urteil gefällt. Der Pfarrer trug Raimund auf, seinen Eltern mitzuteilen, er wolle sie dringend sprechen. Raimund sagte nichts. Sollte der blöde Pappe doch selbst in die Gänge kommen. Vielleicht vergaß er es ja einfach wieder. Tatsächlich geschah nichts und in raimund reifte der Entschluss, direkt in die Offensive zu gehen. Nur so hatte er eine Chance, sich Respekt zu verschaffen.

Zum nächsten Unterricht baute er ein Blasrohr aus einem alten Filzstift. Dann zerriss er Blätter eines sauberen Schreibblocks in säuberliche Schnipsel, die er mitsamt dem Plastikröhrchen in seiner Federmappe verstaute. In der Unterrichtsstunde wartete er einen günstigen Moment ab, um unbemerkt einen Schnipsel in den Mund zu schieben, gründlich durchzukauen und mit der Zunge eine kleine, feste Kugel zu formen. Er hatte das zu Hause gründlich geübt. Im nächsten günstigen Moment setzte er das Röhrchen an die Lippen, zielte und feuerte auf Rolf Horstmann. Er traf ihn in der Ohrmuschel. Das war Rolf unangenehm, aber er wusste nicht, was eigentlich geschehen war. Raimund fand, dass er schon wissen sollte, woher es kam, er sollte es nur nicht beweisen können. Es brauchte ein wenig Zeit für den passenden Augenblick. Der war gekommen, als Rolf ihn direkt ansah und der Pfarrer abgelenkt war. Die eingespeichelte Papierkugel traf Rolf direkt im Auge. Es gab einen Riesenaufstand, auch wenn er nicht ernsthaft verletzt war, aber es tat weh und das Sehen war für eine kleine Weile stark beeinträchtigt. Natürlich hatten die meisten Konfirmanden und Konfirmandinnen genau beobachtet, was geschehen war. Da nützte es Raimund gar nichts, dass der Pfarrer nichts gesehen hatte. Es herrschte kollektive Entrüstung. Man mutmaßte, dass Rolf möglicherweise auf dem verletzten Auge erblinden könne. Und wenn ein Außenseiter eine Grenze überschreitet, selbst wenn es nicht in voller Absicht geschieht, ist die darauf folgende Ablehnung um ein Vielfaches unerbittlicher und emotionsgeladener, als wenn eine Person aus dem vertrauten inneren Kreis der Peergroup einen Fehltritt begeht.

Der Pfarrer suchte noch am gleichen Tag Raimunds Eltern auf und schilderte den Vorfall. Er müsse ihn vorläufig vom kirchlichen Unterricht zurückstellen, erklärte er, der Junge besitze offensichtlich noch nicht die erforderliche Reife.
Horst war außer sich. Er fand es natürlich nicht schlimm, dass sein Sohn sich als Rabauke entpuppte, aber dass er deswegen Ärger hatte, die Schmach der Zurückstellung vom Konfirmanden-Unterricht, das Gerede im Dorf, das nun alles auf ihn zurückfiel, das machte ihn wütend. "Dir werde ich beibringen, dich anständig zu benehmen!", brüllte er, als der Pfarrer außer Hörweite war. Er zog den Gürtel aus der Hose und prügelte damit auf seinen Jungen ein, der sich duckte, um sich zu schützen, der aber später am ganzen Rücken mit roten und blauen Striemen gezeichnet war.
Als Horst sich abreagiert hatte und mit einer Flasche Bier in den Garten ging, kümmerte sich die bis dahin paralysierte Ingrid um ihren verletzten Sohn.
"Komm, Raimund.", flüsterte sie. "Wir gehen in dein Zimmer, du legst dich aufs Bett und ich mache dir feuchte Umschläge, dann wird es schnell wieder besser."
Raimund gehorchte schluchzend, schleppte sich ins Schlafzimmer und ließ sich von der Mutter vorsichtig Pullover und Hemd vom Körper streifen. Die kühlen Tücher, die Ingrid auflegte, taten wirklich gut und er begann, sich zu entspannen.
Ingrid weinte. Sie litt mit ihrem Kind, das sie doch über alles liebte. Wie konnte ein Vater seinem eigenen Sohn solche Gewalt antun?
"Wenn er das noch einmal macht", seufzte sie, "prügele ich ihn windelweich."
Sie strich vorsichtig über Raimunds Rücken, nur über die unverletzten Stellen. Seine Haut war so zart und warm und makellos.
"Rück mal.", hauchte sie. Raimund machte etwas Platz und sie legte sich neben ihn. Ihre Hand glitt über die vollendete Rundung seiner Gesäßbacken.
"Hat er dich da auch gehauen?", flüsterte sie mitfühlend. Raimund fand, dass sich diese Berührung falsch anfühlte. "Nein.", log er und drehte sich vom Bauch auf die Seite, sodass er seiner Mutter direkt ins Gesicht sehen konnte. Ihr Ausdruck war eigenartig. Sie strich mit den Fingerkuppen über seine nackte Brust, über den Bauch bis zum Bündchen des Schlüpfers. Dann drückte sie ihre feuchten Lippen auf seinen Bauch und produzierte ein Furzgeräusch. "Das habe ich immer gemacht, als du klein warst.", kicherte sie. "Dann hast du immer gelacht und gar nicht mehr aufgehört."
Raimund lachte nicht. Er lag da wie erstarrt.
"Aber es gefällt dir immer noch.", meinte Ingrid. "Das seh' ich."
Dann legte sie ihre Hand auf sein Genital, das etwas größer und fester war als im Normalzustand. Das kam in letzter Zeit öfter vor und Raimund fühlte sich immer unwohler. Er wollte seine Mutter nicht vor den Kopf stoßen, schließlich war sie die Einzige, die zu ihm hielt, aber sie tat seltsame Dinge mit ihm, die ihm überhaupt keinen Spaß machten.

"Ich muss aufs Klo.", sagte er und sprang auf, um der bedrohlichen Situation zu entkommen.
Er entkam diesmal. Aber dies sollte nicht die letzte Grenzverletzung gewesen sein.

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