Freitag, 28. April 2023
Goereese Jongens - ein Zweiteiler - Teil 2
"Hey, Anneke, kleine Wildkatze! Auch mal wieder hier?"
Heriberts Grinsen legte sein wettergegerbtes Gesicht in attraktive Falten. Gut, dass er wieder eine Frau gefunden hatte. Hoffentlich die Richtige.
Anneke kam gleich zur Sache: "Das mit dem Johann, also dass er verschwunden ist, weißt du was darüber?"
"Schlimme Sache.", meinte Heribert und sein Gesicht nahm nun ernsthafte Züge an. Sofort sah er ein paar Jahr älter aus.
"Komm, wir setzen uns in den Club und trinken ein Bier. Dabei quatscht es sich leichter."
Als sie bestellt hatten, erklärte Heribert: "An dem Tag, an dem Johann verschwunden ist, wollte er sich hier mit Piet treffen. Die beiden hatte Geschäfte am laufen. Johann zog Material aus seiner Firma ab und verkaufte es günstig an Piet. So hielt der seinen kleinen Betrieb über Wasser. Aber als ich ihn darauf angesprochen habe, ob er was weiß, meinte er, Johann sei nicht gekommen. Für Piet ist es am schlimmsten. Er hat jetzt keinen Lieferanten mehr."
"War schon immer eine arme Wurst, der Piet.", bemerkte Anneke. Über dem Wasser zogen sich dunkle Wolken zusammen.
"Wie meinst du das?", fragte Heribert. "Der hat doch den Laden von seinen Eltern geerbt und dazu das Haus. Notfalls kann er das Geschäft verkaufen und arbeiten gehen wie normale Leute."
"Was ist hier schon normal?", meinte Anneke. "Piet war immer schon auf der Jagd nach Anerkennung. Schon als Kind. Immer musste er allen beweisen, wie lange er auf den Händen laufen konnte, wie lange er es in der kalten See aushielt, wie viele Poffertjes er verdrücken konnte, welche Mädels er rumbekam. Und mit nichts, was er anfing, bekam er ein Bein an die Erde. Spott und Häme, das war die ganze Ernte."

"Entschuldigung." Ein Unbekannte mischte sich ein. "Ich habe zufällig zugehört und auch von dem verschwundenen Mann gelesen. Ich war hier an dem Tag und ich habe zwei Männer beobachtet, die sich hier im Café gestritten haben. Der eine sagte immer: 'Ich mag nicht mehr.', der andere sagte: 'Vertrag ist Vertrag.'
Worum es genau ging, habe ich nicht verstanden. Dann sind sie runter zum Strand, vielleicht, um in den Wellen ihr Mütchen zu kühlen. Ich habe dann nicht mehr hingesehen, Kuchen gegessen, Zeitung gelesen. Irgendwann kam der eine zurück. Der andere fehlte."

Als der Unbekannte die Männer beschrieb, schien es mehr als wahrscheinlich, dass er Piet und Johann beobachtet hatte und dass Piet allein zurückgekommen war.

Die Polizei kam nun schnell weiter. Am Ende fand man Johann, unweit des Strandes, an eine Boje gefesselt. Piet hatte ihn im Affekt ertränkt, weil er seine Existenz bedroht sah, denn Johann wollte die Lieferungen einstellen, weil er befürchtete, aufzufliegen und nicht nur seinen Job zu verlieren.

Anneke war sehr traurig. Und sehr wütend auf die alte, rechtschaffene Krähe von Gegenüber. Die Theunissen und ihresgleichen hatten den Piet dahin gebracht, der endlich dem Spott und der Häme entkommen wollte. Armer Piet. Und armer Johann. Goereese Jongens.

Anneke wusste wieder, warum sie lieber in der Großstadt blieb.

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Freitag, 21. April 2023
Goereese Jongens - ein Zweiteiler - Teil 1
War doch schön bei Oma. Anneke rekelte sich auf der weichen Matratze und blickte verträumt unter den hellen Dachfirst. Fast so unbeschwert wie in Kindertagen. Draußen zwitscherten die Vögel. Warum kam sie nicht öfter? Oma wäre froh. Sie roch Kaffee und frische Pfannkuchen. Schnell in Hose und T-Shirt geschlüpft und die steile Stiege hinab in die helle, kleine Küche. Der Duft hatte nicht zu viel versprochen. Es schmeckte köstlich und dazu kam von der Oma der neueste Tratsch: Heribert hatte wieder geheiratet, eine aus Brielle, die hier niemand kannte, schien aber ganz nett zu sein.
Frau Hiemstra war vor zwei Wochen nach dreieinhalb Jahren im Pflegeheim gestorben.
Julika de Graaf vom größten Hof in den Polderwiesen war schwanger und Johann Gerritsen war seit drei Wochen spurlos verschwunden. War einfach nicht von der Arbeit nach Hause gekommen.

Mit Johann war Anneke als Kind um die Häuser gezogen, so manchen langen Sommer. Und durch die Wiesen, die Dünen, die Strände.
Als sie mobiler wurden, war Johann mit dem Moped auf Goeree herumgeknattert und Anneke durch Rotterdam geradelt, später durch Den Haag, zum Studieren.
Als Teenager war es ihr bei Oma zu eng geworden. Nicht im Haus, sondern im Dorf. Man trat aus der Tür und die übelgelaunte Theunissen schoss mit giftigen, herablassenden und missbilligenden Blicken über Annekes Gestalt: die wild toupierten Haare, die bunten Shirts oder Blusen, die zerrissenen Jeans, die klobigen DocMartens. Die meisten hier gaben ihr das Gefühl, falsch zu sein, versagt zu haben und damit jedes Recht auf Zugehörigkeit verwirkt zu haben. Nur sie machten es richtig, mit den sauber geschrubbten Giebelwänden, den hochglänzend gewienerten Fenstern und lackierten Türen, den immer frischen Blumen auf den gründlich gefegten Trottoires, den aufgeräumten Stuben, durch die man bis zum Garten hindurchsehen konnte.
Die Schönheit des Ortes war teuer erkauft, die Idylle trügerisch. Sie war eine Anklage, ein immerwährender Vorwurf: Sieh her, wir machen es richtig, das wird Dir niemals gelingen.

Und jetzt war Johann verschwunden. Auch das noch.
"Oma, ich muss mal raus. Darf ich dein Rad nehmen?"
"Klar, wenn du es bis heute Abend zurück bringst."

Anneke fuhr über den Marktplatz am Hafen, wo die lebenslustigen Zugezogenen und einheimischen Rebellen sich auf ein Bier trafen. So wie früher. Aber am Hafen lungerten keine Jugendlichen mehr herum. Das Dorf wurde langsam zur Schlafstadt für kinderlose Paare und alte Menschen. Für Leute mit Geld. Leute mit sehr klären Vorstellungen.

Anneke fuhr hinaus in die Wiesen, zu dem kleinen Hof, auf dem Johann aufgewachsen war. Seine Oma hatte in der gleichen Straße gelebt wie ihre Oma, da hatten sie sich kennengelernt.

Der Hof sah aus wie damals. Johanns Eltern waren noch nicht alt und hatten den Betrieb im Griff. Anneke nahm allen Mut zusammen und lenkte Omas Rad bis zur offenen Stalltür.
"Goede middag.", rief sie. Greta kam heraus, Johanns Mutter, und musterte sie zunächst argwöhnisch, bis sie sie schließlich erkannte.
"Ich hab das mit Johann gehört.", sagte Anneke. "Kann ich irgendwas tun?"
"Bist Du bei der Polizei oder Privatdetektivin?", fragte Greta.
Anneke schwieg beredt. Das hatte gesessen.
"So meinte ich das nicht.", sagte sie kleinlaut.
"Ich auch nicht.", entgegnete Greta schuldbewusst. "Komm, wir trinken einen Kaffee zusammen."

Anneke erfuhr nichts Neues. Johann war auf dem Heimweg von der Arbeit abhanden gekommen - oder hatte sich aus dem Staub gemacht.

Immerhin. In der Gegend von Renesse brachten sich die Leute meistens um, wenn sie nicht mehr könnten, hatte Oma mal behauptet. Vielleicht wollte Johann auch einfach nur irgendwo neu anfangen. Er war viel zu lebenslustig für diese Umgebung.

Später fuhr Anneke durch die Dünen zum Surferstrand. Hier hatten sie sich als Kinder auf die Bretter geträumt und manchmal verlorene Münzen gefunden und sich ein Eis gekauft. Heute wirkte alles kleiner, schäbiger und glanzloser als damals.
Ein Surfer ging vom Wasser geradewegs auf das Café zu. Als er näher kam, erkannte sie ihn.

Fortsetzung folgt.

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Freitag, 14. April 2023
Schwarzwälder
Jetzt sitze ich hier. Hinter mir eine kahle Wand, vor mir eine kahle Wand. Rechts ein vergittertes Fenster, links eine Stahltür mit Guckloch. Bei Gewahrsamszellen geben die sich überhaupt keine Mühe. Könnten je wenigstens ein freundliches Wimmelbild an die Wand malen. So viele sitzen unschuldig ein. Muss man sich in dieser von Angst und Unsicherheit geprägten Situation auch noch zu Tode langweilen?

Eingesperrt in einer winzigen Zelle. Nun hat sie es wieder geschafft. Nach so vielen Jahren. Meine Mutter. Mein Leben lang hat sie mich eingesperrt. Als ich klein war, durfte ich nicht allein zum Spielen raus, wie alle anderen Kinder, das sei zu gefährlich. Und dann musste ich mit ihr Schwarzwälder Kirschtorte essen, als Ausgleich. "Vom Feinsten!", meinte Mutter, aber ich ekelte mich vor der betont alkoholischen Note, denn nie ließ sie aus Rücksicht auf Kinder das Kirschwasser weg. Und sie mischte so viel Chemie in die Sahne, dass sie ganz künstlich schmeckte. Die dunklen Böden waren nicht einmal selbst gebacken. Sie tat mir nicht gut.

Nun meinen sie, dass ich ausbrechen wollte und ihr darum den Rest gegeben habe.
"Wie haben sie es gemacht, Frau Gebhart?", fragte die Kommissarin. "Geben Sie es wenigstens zu und machen Sie ihrem Herzen Luft. Es wird dann leichter für Sie und senkt auch das Strafmaß. Wenn wir mühsam alles selbst herausfinden müssen, wird das teuer und kostet Sie sehr viel Lebenszeit."
"Ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie einfach so gefunden."

Die Kommissarin hat Recht. Ich hätte das beste Motiv. Eine herrschsüchtige, gebrechliche Mutter, die ständig Forderungen stellte, mir ein schlechtes Gewissen einredete, manipulativ, rücksichtslos, unersättlich. Noch gestern musste ich vier Stückchen Schwarzwälder vom Bäcker holen und mindestens ein Stück mitessen. Ekelhaft. Und dann beklagte sie sich: "Die Bäcker heutzutage wissen auch nicht mehr wie es geht. Das habe ich seinerzeit besser hinbekommen. Viel zu wenig Kirschwasser und die Sahne zerfließt schon vom Angucken. Hast du den etwa wieder aus dem Supermarkt geholt? Du sollst doch den von Manegold kaufen."
"Das habe ich getan.", lautete meine Antwort. "Ich kann dir das Kuchenpapier zeigen."
"Ach, seit der Junge das Geschäft übernommen hat, haben die auch schwer nachgelassen."
Der Junge ist zweiundsechzig.
Meine Mutter schraubte sich trotzdem drei Stückchen Torte in den Rachen. Vom Besten darf man ja nichts umkommen lassen. Dann beklagte sie sich über Übelkeit und ich sei Schuld, weil ich nur ein Stückchen gegessen habe.

"Sie konnten nicht mehr, Frau Gebhart.", versuchte es die Kommissarin auf die einfühlsame Art. "Das verstehe ich. Wer will schon sein eigenes Leben den steinalten Eltern opfern? Aber warum haben Sie Ihre alte Dame nicht einfach in eine Einrichtung gegeben und sie dort einmal in der Woche besucht? Dann hätten Sie den nötigen Abstand gehabt."

Hat die eine Ahnung. In eine Einrichtung geben. Die kennt meine Mutter nicht und ihre perfiden Erpressungsmethoden. So hat sie mich jahrelang in die Kirchengemeinde gezwungen. Vom Kindergottesdienst bis zum Kirchenchor. Ich musste immer mitmachen. "Wenn du heute nicht in den Kindergottesdienst gehst, ist der Pastor Heine ganz traurig."
"Natürlich machst du beim Krippenspiel mit. Das ist bei uns Familientradition."
"Wenn sonst niemand den Jugendclub leiten kann, dann musst du das wohl machen, sonst findet das ja nicht mehr statt. Stell dir einmal vor, du hättest mit vierzehn nichts gehabt, wo du hingehen konntest!"
"Wir brauchen dich Sonntag im Chor, sonst ist der Sopran so dünn, dann kommen die Tenöre durcheinander."

Und jetzt hat sie mich wieder eingesperrt. Sie macht sich vom Acker und ich soll verantwortlich sein. Sie verlässt ihren Körper und ich kann nicht einmal diese zwei mal drei Meter verlassen. Zwei mal drei Meter. So groß war mein Kinderzimmer, in das sie mich einschloss, damit ich nicht mit Kerime spielte. Die war ja Muslima und hätte mich vom rechten Weg abbringen können, schließlich war ich erst acht.. Dafür gab es Schwarzwälder Kirsch. Und ich durfte mich nicht beklagen. Schließlich war es das Beste.

"Es gibt absolut keinen Hinweis darauf, dass jemand sich Zugang zur Wohnung Ihrer Mutter verschafft hat. Sie sind die Einzige, die infrage kommt. Sie waren da. Sie hatten ein Motiv und die Gelegenheit. Haben Sie sie mit einem Kissen erstickt? So eins von diesen gehäkelten Monstren, die paradeförmig auf dem Sofa thronen? Oder war es ein dicker Schal? Großflächig um den Hals geschlungen, um keine Erdrosselungs- oder Würgemale zu hinterlassen?"
"Nichts dergleichen. Ich hatte mich ein wenig hingelegt. Als ich wieder aufstand, habe ich sie leblos am Esszimmertisch vorgefunden. Wie oft soll ich das noch wiederholen?"
"Gar nicht. Sie sollen mir erzählen, was wirklich passiert ist. War es nicht so, dass Ihre Mutter Sie ihr Leben lang festgehalten und eingeengt hat?"

Ja. So war es. Aber das kann diese Polizistin nicht wissen. Und das geht sie auch nichts an. Ich war bereits achtzehn Jahre alt, wollte zu einer Versammlung der grünen Ortsgruppe. Beim Gründungstreffen war ich dabei gewesen und nun ging es weiter. Meine Mutter fragte: "Wo willst du hin?", als ich meine Jacke anzog.
"Zur grünen Ortsgruppe."
"Das wirst du bleiben lassen. Parteipolitik verdirbt den Charakter und gefährdet deine Zukunft."
"Wieso das denn?"
"Erfahrung."
Dann schubste sie mich ins Gäste-WC, zog blitzschnell den Schlüssel ab, schloss die Tür und verriegelte sie von außen. Einmal zwei Meter. Zwei Stunden lang, damit es sich nicht mehr lohnte, die Gruppe verspätet aufzusuchen. Ich saß auf der Kloschüssel und starrte die rosa Fliesen an. Ich ging nie wieder zu den Grünen. Die Schmach, mich als Erwachsene von meiner Mutter festhalten zu lassen, war unerträglich. Ich wollte das mit niemandem teilen.

Ich sah der Polizistin in die Augen. Dann sagte ich: "Ich war nicht die Gefangene meiner Mutter. Ich lebe in Bochum, mit meiner Familie, habe ein eigenes Haus, einen Beruf, Freunde, ein Leben. Meine Mutter brauchte kurzfristig Unterstützung, da habe ich mir Zeit genommen. Dann ist sie plötzlich und unerwartet verstorben. So etwas soll vorkommen bei alten Menschen. Sie war 96."

Sah sie mir an, dass ich das selbst nicht glaubte? Sicher, ich war meiner Mutter damals scheinbar entkommen. Zum Studium musste ich ausziehen, mit neunzehn, das ging ja nicht anders. Und dann blieb ich hängen in Bochum, in den Netzwerken meines beruflichen Werdegangs, bei Jan und schließlich bei den Kindern. Ich kam zu Besuch, vielleicht alle sechs Wochen. Alles war im Lot.
Dann ließen irgendwann ihre Kräfte nach. Und als einzige Tochter war ich mehr und mehr gefordert. Sie brauchte meine Hilfe und sie missbrauchte mich als Seelenmülleimer, Prellbock, Fußabtreter. Wie sie es schon in meiner Kindheit und Jugend getan hatte.
Und ich ließ es zu, ließ mich manipulieren, mir ein schlechtes Gewissen einreden.
"Wer weiß, ob dies nicht mein letzter Tag ist?"
"Wer alt ist, wird immer einsamer."
"Und dann liege ich sechs Wochen tot in meiner Wohnung."
Nichts davon war eingetreten. Sie hatte immer weitergelebt, sehr viele Jahre. Sie hatte immer wieder neue Sozialkontakte und nahm mich trotzdem vierzehntägig in Anspruch, zum Schluss sogar wochenlang am Stück. Und ich war da als sie starb. Sie war noch warm, als ich sie fand.

Und jetzt hat sie mich endgültig eingesperrt. Wer weiß für wie viele Jahre? Wenn ich raus komme, ist meine Zeit abgelaufen. Mein Leben hat sie mir gestohlen. Mein ganzes, verdammtes Leben. Und immer Schwarzwälder Kirschtorte. Wenigstens die muss ich nie wieder essen. Das wäre mal ein Motiv gewesen.

Die Zellentür öffnet sich. Die Kommissarin steht im Gegenlicht. "Sie dürfen gehen, Frau Gebhart. Der gerichtsmedizinische Bericht ist gekommen. Ihr Mutter ist erstickt, weil sie sich verschluckt hat. An einer Scheibe Schinken."

Dann habe ich sie wohl doch ermordet. Den aß sie so gerne, den habe ich ihr extra mitgebracht. Nicht Parma, nicht Serrano, nicht westfälisch. Nein. Schwarzwälder.

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Freitag, 7. April 2023
Furie
Ich hatte ihr nichts getan. Ich hatte ihr nichts weggenommen, sie weder beleidigt noch gedemütigt, nicht einmal hinter ihrem Rücken schlecht über sie geredet - außer vielleicht im ganz vertraulichen Rahmen.
Trotzdem fuhr sie regelmäßig Attacken gegen mich, als hätte ich sie von ihrem Platz geschubst. Ich war ja nicht einmal ein Alphaweibchen, das von allen heterosexuellen Geschlechtsgenossinnen wegen der unschlagbaren Konkurrenz gehasst wurde.

Jetzt stand sie vor mir mit diesem absurd langen und spitzen Küchenmesser in der Hand. Noch zeigte die Spitze zu Boden, aber der Arm war angespannt, ihr Blick wirkte entschlossen und aus ihren Augen sprühte der blanke Hass.

Natürlich war sie vollkommen irre, das war mir schon vor Jahren aufgefallen, in den ersten Sekunden unserer ersten Begegnung. Da war sofort dieses Jeglichen-Kontakt-unbedingt-vermeiden-Gefühl gewesen, aber in professionellen Zusammenhängen sind Ausweichmanöver selten von durchschlagendem Erfolg gekrönt. man muss sich stellen, sich wappnen, durchhalten und möglichst unbeschädigt aus dem Kontakt hervorgehen.

Dies war auch jetzt mein Plan. Ich bin keine Kämpferin. Aber ich sehe mich auch ungern als Opfer, zu dem ich unweigerlich würde, wenn ich nicht auf der Hut war.

Ich schlug mit der Hand vor die Stirn. „Oh, ich hab‘ was vergessen!“, stieß ich hervor und rannte aus dem Haus in Richtung der rettenden Sicherheit meiner privaten Fahrgastzelle.

Keuchend stürzte ich in mein Auto und verriegelte es. Und jetzt? Ich konnte doch nicht einfach wegfahren, dann war ich die Irre. Vielleicht hatte sie das Messer nur in der Hand gehabt, um die Küche aufzuräumen. Aber was würde ich behaupten, vergessen zu haben, wenn ich zurückkehrte? Vielleicht mein Mobiltelefon? Das hatte ich heute Vormittag noch nicht aus der Tasche gezogen und es hatte sich auch noch nicht gemuckst. Ich könnte ja in Bereitschaft sein. In einer Angelegenheit, über die ich nicht sprechen konnte. Ja, so wollte ich es begründen.

Ich kehrte zurück. Es war mir zwar nicht geheuer, aber vielleicht hatte ich mit dieser unerwarteten Reaktion Dampf aus dem Kessel genommen und sie hatte die Bluthunde ihrer Affekte zurückgepfiffen. Hoffentlich.

Sie wirkte etwas beherrschter, aber nicht weniger unheimlich. Das Messer lag auf der Theke, außerhalb ihrer Reichweite, sie saß auf einem Stuhl in mehreren Metern Abstand.
"Wir müssen reden.", sagte sie bestimmt.
"Wir tun doch nichts anderes erwiderte ich gleichmütig."
"Ich meine nichts Berufliches. Ich hatte gestern ein Gespräch mit Peter."
"Und inwiefern war das nicht beruflich?"
"Es ging um unsere Freundschaft."
"Wer ist wir?"
"Peter und ich."
"Aha."
"Es kann ja gar nicht sein, dass er sich mit dir zum Kaffee verabredet und für mich keine Zeit hat. Damit habe ich ihn konfrontiert. Und da meinte er, er suche sich selbst aus, mit wem er Kaffee trinke und dann hat er mich praktisch rausgeschmissen. Dafür kann es nur eine Erklärung geben."
"Und welche?"
"Du hast ihm irgendwelche Geschichten über mich erzählt."
"Was für Geschichten?", fragte ich ungläubig. Ich kam mir tatsächlich vor wie im falschen Film.
Ihre Atemfrequenz stieg, ihre Augen glommen wie Kohlen, sie nahm deutlich Fahrt auf.
"Irgendwas Kompromittierendes, das du dir ausgedacht hast." zischte sie
"Warum sollte ich das tun?"
"Um mich aus dem Weg zu räumen, damit du freie Bahn hast!", kreischte sie schnappte sich plötzlich das Messer und riss es in die Luft, um auf mich einzustechen.
Mein Verstand setzte aus und machte Platz für meine Urinstinkte. Es ging jetzt nur um eines: ums Überleben. Ich trat gegen ihr Schienbein und schützte meinen Oberkörper mit gekreuzten Armen. Vor Schmerz heulte sie wütend aus und begann unkoordiniert mit ihrer Waffe herumzufuchteln. Ein heftiger Handkantenschlag und das Messer fiel zu Boden. Ich hätte es wegkicken können und auf sie eindreschen, aber ich befand mich im Ausnahmezustand. Ich griff nach dem Küchengerät und rammte ihr die Klinge bis zum Heft in den Bauch. Dann sah ich zu, wie das Leben aus ihr herauslief. Der Rettungsdienst, ich musste den Rettungsdienst alarmieren, aber ich konnte nicht. Solange sie sich bewegte, war ich noch in Gefahr. Ich schaffte es erst, als sie das Bewusstsein verloren hatte. Da war es zu spät.

Ich hatte in Notwehr gehandelt, aber die Polizei glaubte mir nicht. Auch die Richterin hielt mich für eine kaltblütige Mörderin.

Fünfzehn Jahre für die Paranoia einer eifersüchtigen Furie. Außerdem keine Rehabilitation und keine Zukunft. Hätte ich mich doch bei der allerersten Begegnung von meinen Gefühlen leiten lassen.

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