Freitag, 20. November 2020
Macht
"Ich mach euch alle kaputt.“, brüllte Berti und jetzt bekam sogar Ruben Angst, den doch so leicht nichts aus der Bahn bringen konnte, der noch mit jedem noch so verhaltensauffälligen Kind zurechtgekommen war. Aber Berti war nur noch die wütende Rache. Doch wofür?
Berti hatte neue Spielregeln beim Schrubberhockey eingefordert. Solche, die seine persönlichen Gewinnchancen erhöhten. Er war schnell in der Bewegung, stark und hemmungslos, wenn es darum ging, einen Gegner außer Gefecht zu setzen. Aber wenn er erst eine Rechenaufgabe lösen musste, um herauszufinden, ob er gerade dran war oder ein Junge mit einer anderen Nummer, dann war er rettungslos unterlegen. Das fand er ungerecht. Und darum tobte er. Er tobte nicht zum ersten Mal. Immer, wenn es nicht in seinem Sinne lief, probte er den Aufstand. Manchmal kam er sogar damit durch. Diesmal nicht. Sie hatten ihn einfach überstimmt. Das würden sie teuer bezahlen.
Berti schnappte sich den Schrubber und begann, auf Dominik einzudreschen. Genauer gesagt auf Dominiks Kopf. Ruben war paralysiert – Angst, Überraschung, Entsetzen und Hilflosigkeit rangen in ihm um die Vorherrschaft, Mut und Phantasie hatten sich in die Dunkelheit zurückgezogen.
Ben zog schließlich die Notbremse. Er zertrümmerte einen Stuhl auf Bertis Schädel. Berti machte nichts mehr kaputt. Nie mehr. Aber das, was er zerstört hatte, reichte auch für mehr als ein Leben.

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Samstag, 14. November 2020
Gebrauchsanweisung
Bürobewohner bitte bei Betrieb nicht behelligen.
Bruno ahnte nicht, was „seine“ Jugendlichen ihm da an die Bürotür geklebt hatten. Noch wähnte er sie auf seiner Seite. Die Kündigung wollte er nicht gelten lassen, niemand würde ihn aus seinem Revier vertreiben, das hatte er sich hart erarbeitet, so etwas gab man nicht einfach preis. Gemeindeaufbau, das war seine Sache. Der Pfarrer stolzierte immer nur wie ein Pfau auf dem Gelände herum. Das würde jetzt ein Ende haben. Und dann würden sie die Kündigung stante pede zurückziehen. Einer musste ja dafür sorgen, dass es weiterging.
Als sie den Pfarrer Tage später zu Grabe trugen stellte so mancher die Frage nach der Schuld. Der Täter war gefasst, das Motiv offenkundig, doch die Schuld?
Wer hatte es so weit kommen lassen? Wer hatte bei der Einstellung nicht gründlich geprüft, mit wem man es da zu tun hatte? Wer hatte nicht reagiert und sich weggeduckt, als Arbeitsaufträge zurückgewiesen wurden und stattdessen Projekte aus der Taufe gehoben wurden, deren Sinn sich nur den Wenigsten erschloss? Wer hatte stillgehalten, als es Jahr für Jahr schlimmer wurde – aus Feigheit, aus Desinteresse, als falscher Rücksichtnahme?
Bruno sah sich noch immer als Herrn über den künftigen Gemeindeaufbau. Die fünfzehn Jahre würde er auf einer Pobacke absitzen. Die Zeit nutzen für innovative Konzeptentwicklung.
Ohne ihn ging es ja nicht.

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Freitag, 6. November 2020
Vergebung
Unendlich erschüttert. Bitte um Vergebung. :-)

Diese Messenger-Botschaft war der Gipfel der Geschmacklosigkeit, der schlagende Beweis des fehlenden Fingerspitzengefühls. Rücksichtslos hatte sie seinen guten Willen ausgenutzt, ihn als Seelenmülleimer missbraucht, um ihm ihr ganzes selbst verursachtes Chaos, in das sie sich manövriert hatte, vor die Füße zu kotzen. So wie immer. Wieder einmal war es eine Affäre gewesen, die sie sich nicht hatte verkneifen können und zum diskreten Fremdgehen war sie zu blöd oder vermutlich auch gar nicht willens. Sie sehnte sich nach den Beziehungsproblemen, dann hatte sie wieder einen Grund, dem Seelsorger ihr ach so waidwundes Herz auszuschütten, weil der häusliche Frieden gestört war und die Schuld nun so schwer auf ihr lastete und sie Trost und Zuspruch brauchte.
„Sie kann wohl nicht anders.“, hatte Dirk in sein Tagebuch geschrieben, in dem er alles raus gelassen hatte, das er nicht weiter erzählen durfte, weil es ihm im seelsorgerlichen Gespräch anvertraut worden war. Immer Verständnis, immer Nachsicht.

Und dann hatte sie es eingeschleppt, diese ewig läufige Hündin. Mit Geschlechtskrankheiten hatte sie ihn nicht infizieren können, dafür war er zu treu, aber mit Corona, das hatte sie schließlich geschafft, hatte ihn so lange bekniet, bis er zu einem unmittelbaren Kontaktgespräch bereit gewesen war, hatte ihn zwei volle Stunden lang zugelabert und das ganze Zimmer mit ihren belasteten Aerosolen vollgeatmet. Lüften ging ja nicht, hätte ja jemand etwas hören können.

Sie wusste genau, dass sie ihn getötet hatte. Darum kam jetzt diese Nachricht. Diesmal war sie für den direkten Kontakt zu feige, obwohl sie nun nicht mehr ansteckend war, aber Verantwortung übernehmen, aushalten, dass jemand böse auf sie war, das war nicht so ihre Sache.

„Vergiss es!“, tippte Karin, aber sie schickte die Nachricht nicht ab. Dann wäre sie ja gewarnt. Sie sollte es schon vorher wissen, aber keinesfalls entkommen. Karin schob sich das Tranchiermesser in den Ärmel ihrer leichten Steppjacke und machte sich auf den Weg.

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Freitag, 30. Oktober 2020
Sabotage - eine Peter-Margo-Geschichte
Plötzlich war er einfach da. Eine gewaltige Stille breitete sich in meinem schmucklosen Büro aus, brennend kalter, eisiger Frost schien die Rauchschwaden meiner filterlosen Zigaretten in geordnete Streifen zu zerteilen. Wer war er?
Starr, fast leblos blickte er mich aus trüben Augen an und mit leiser, emotionsloser Stimme fragte er: „Sie sind Privatdetektiv?“
„Sie sagen es.“
„Ermitteln Sie auch bei Sabotageverdacht?“
„Das kommt darauf an.“
„Worauf kommt es an?“
„Auf die näheren Umstände. Wenn Sie sich zum Beispiel von einem politischen Gegner gestört fühlen, kommt es darauf an, wo sie selbst politisch stehen. Ich arbeite nicht für Faschisten.“
„Ich bin kein Faschist.“
„Das behaupten alle Faschisten, mit Ausnahme von Mussolini, aber der behauptet gar nichts mehr.“
„Nein schon lange nicht mehr. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es geht nicht um Politik.“
„Worum geht es dann?“
„Um das Leben.“
„Sind Sie Arzt?“
„Nein.“
„Heilpraktiker?“
„Nein. Ich bin niemand, der irdisches Leben um jeden Preis verlängert.“

Ich hatte das Rätselraten satt, darum machte ich eine Ansage: „Erklären Sie mir bitte kurz und präzise, worum es bei Ihrem Fall geht, wer was sabotiert, in welcher Form und aus welchen vermeintlichen Gründen und was genau ich für Sie herausfinden soll.“
Er räusperte sich. „Vielleicht beantworte ich Ihre Fragen in der von mir selbst gewählten Reihenfolge. Punkt eins: Wer sabotiert? Etliche. Es ist gar nicht so wichtig, wer. Ebenso vielfältig ist die Form der Sabotage, sie geschieht heilkundlich, in der wissenschaftlichen Forschung, in der persönlichen Lebensweise und der Ernährung der Täter. Was Sie genau herausfinden sollen, ist das Motiv oder auch die Motive. Ich will verstehen, warum das passiert, es geht mir nicht um Schuld sondern um die Ursache und damit um einen Ansatz, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.“
„Aber was wird sabotiert?“
„Ich. Ich werde sabotiert.“
„Wobei denn?“
„Bei der Erfüllung meiner Aufgabe.“
„Die worin besteht?“
„Das Leben zu gegebener Zeit zu beenden.“
„Sind Sie ein arbeitsloser Henker?“
„So könnte man es auf frivole Weise ausdrücken. Tatsächlich bin ich niemand anderes als der Tod.“
„Und jetzt wollen Sie mich holen?“
„Sie? Ach was, nein, für Sie ist es noch längst nicht Zeit.“
„Da bin ich aber beruhigt.“
„Warum?“
„Weil ich weiterleben will.“
„Wozu?“
„Na… um zu leben.“
„Was ist so reizvoll daran?“
„Es ist nicht reizvoll. Ich mache einfach weiter.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht.“ Ich überlegte kurz, dann erklärte ich: „Vermutlich hoffe ich noch immer auf bessere Zeiten. Auf Tage, an denen ich Spaß daran habe, die Nase in die Sonne zu stecken, an denen mein Blick auf einer schönen Frau ruht, die diesen wohlwollend erwidert, darauf, dass noch viele Male der beste Whisky der Stadt durch meine Kehle rinnt und meinen Magen wohlig warm macht, lauter so Wohlfühlzeugs, wonach sich alle sehnen.“
Er sah mich lange wortlos an mit diesem verstörend friedlichen Gesichtsausdruck, dann sagte er: „Ich verstehe. Sie empfinden noch Wertschätzung gegenüber dem Leben. Daran ist natürlich nichts Falsches. Ich hatte zunächst einen vollkommen anderen Eindruck von Ihnen.“
„Ja“, antwortete ich. „Ich wundere mich auch gerade über mich selbst. Aber was ich nicht verstehe: Wie kommen Sie darauf, dass Sie sabotiert werden? Gestorben wird doch immer, gerade kürzlich sind die Menschen gestorben wir die Fliegen und ich wette, die nächste Pandemie sitzt schon in den Startlöchern.“
„Ach ja, die Pandemie.“, seufzte er. „Da habe ich meine Gegner wohl verärgert, etwas übertrieben.“ Er kicherte in sich hinein, das war wirklich gruselig. Dann wurde er wieder ernst, sah mich an und fragte unvermittelt: „Wann hatten Sie persönlich den letzten Verstorbenen zu beklagen?“
Ich musste überlegen. Ich persönlich? Das war schon eine Weile her. Schließlich fragte ich: „Was wäre denn so schlimm daran, wenn niemand mehr stürbe? Das würde doch viel Kummer und Leid ersparen.“
„Ach ja?“, fragte mein seltsamer Kunde. „Was wäre denn, wenn Kinder übergriffiger Eltern in Ewigkeit von diesen drangsaliert würden? Wenn schwierige Ehen niemals endeten, wenn grausame Despoten bis in alle Ewigkeit weiter wüteten?“
„Vielleicht wäre das gar nicht so schlimm“, überlegte ich. „Wir hätten ja alle unendlich viel Zeit. Eltern kann man verlassen, von Ehepartnern kann man sich scheiden lassen, Despoten muss man nicht töten, die kann man auch verjagen, verbannen oder wegsperren. Und leider lassen Sie ja vorzugsweise die widerlichtsen Diktatoren jeden Dreck überleben. Da wäre also kaum eine Verschlechterung.“
„Die widerlichsten Diktatoren sind meine Reduktionshelfer, ohne die geht es nicht. Aber mal im Ernst: Die Erde würde entweder schon bald aus allen Nähten platzen oder es dürften keine Kinder mehr geboren werden. Wo nichts stirbt, kann auch nichts Neues wachsen. Halten Sie das für erstrebenswert?“
„Ich hab‘s nicht so mit Kindern.“, antwortete ich lapidar.
„Also doch kein Lebensfreund?“
„Doch, schon, aber ich habe gern meine Ruhe, lasse mich ungern stören. - Aber kommen wir wieder zur Sache. Sie wollen also wissen, warum die Menschheit versucht, Sie zu besiegen?“
„Ganz genau.“
„Können Sie mich bezahlen?“
„Selbstverständlich.“
„Mit richtigem Geld?“
„Ich zahle im Voraus.“
Mein Kunde legte einen Umschlag auf den Tisch. Ich sah hinein. Fünftausend Euro. Damit konnte ich eine Weile arbeiten.
„Dann brauche ich noch Ihre Kontaktdaten, damit ich Sie über Ergebnisse informieren kann oder auch für den Fall, dass ich Fragen habe.“, erklärte ich.
„Die brauchen Sie nicht.“, erwiderte der Besucher mit Grabesstimme. „Ich finde Sie.“
Ich blickte in seine gleißend dunklen Augen und mir lief schon wieder ein heißkalter Schauer über den Rücken. Das lief nicht so wie ich es geplant hatte. Ich wollte schnellstmöglich Hilfe für den den Verrückten organisieren und das Geld den zuständigen Behörden übergeben, aber er war äußerst geschickt in seinem Wahnsinn, also musste ich mich noch eine Weile gedulden.

Als er den Raum verlassen hatte, war es eiskalt in meinem Büro und es roch modrig. Zeit für einen Schlenker in Harrys Bar, um mich an einem rauchigen Scotch zu wärmen. Vorher kontaktierte ich den sozialpsychiatrischen Krisendienst und die Polizei, um herauszufinden, wer der Wahnsinnige war und das weitere gemeinsame Vorgehen abzusprechen.

Harrys Bar war in mildes Licht getaucht, aufgeheizt vom Stoffwechsel der Anwesenden und nach dem ersten Schluck, der den Geschmack von Asche auf der Zunge hinterließ, spürte ich, wie mein Blut im Rhythmus des rauchigen Blues aus der Jukebox durch meine Venen pulsierte und die Wärme langsam von meinem Magen bis in die Spitzen der Finger und Zehen drängte. Es war wunderbar. Warum sollte ich wollen, dass das jemals aufhörte?
Neben mir saß ein junger Typ, den ich nicht kannte. Er trank ein Bier und schien auf jemanden zu warten. „Was denken Sie über den Tod?“, fragte ich ihn.
„Ich bin nicht zum Sterben hier.“, sagte er und nahm einen kräftigen Zug aus seinem Glas.
„Das unterstelle ich Ihnen auch gar nicht. Aber ich habe da aktuell einen Rechercheauftrag. Versuchen Sie, dem Tod zu entkommen oder nehmen Sie einfach an, was geschieht?“
„Sind Sie einer von den Zeugen Jehovas?“
„Nein, ich bin Privatdetektiv. Ein Kunde hat mich gebeten, nach den Gründen zu forschen, warum Menschen nicht sterben wollen.“
„Ist so etwas denn ein Auftrag für einen Privatdetektiv?“
„Eigentlich nicht. Aber der Kunde hat im Voraus gezahlt und ich gehe ja kein Risiko ein, wenn ich ihm den Gefallen tue.“
„Ach so.“, antwortete er. „Aber ich weiß jetzt gar nicht was ich dazu sagen soll. Jeder will doch leben. Ist doch so eine Art Trieb oder etwa nicht? Vor dem Sterben hat man natürlicherweise Angst und versucht es zu vermeiden.“
„Ja, das erklärt, warum man dem eigenen Tod ausweicht.“, antwortete ich. „Aber warum versucht die Menschheit seit sie denken kann, den Tod zu besiegen?“
„Damit man nicht alleine übrig bleibt?“
„Ja vielleicht.“
„So.“, sagte mein Gesprächspartner. „Von meinem Bier ist nichts mehr übrig und meine Verabredung hat mich versetzt. Viel Erfolg noch bei Ihrer Recherche.“
Ich bedankte mich und sah mich nach einem weiteren Kandidaten für ein Interview um.

Da saß Jochen, Englisch- und Politik-Lehrer im Ruhestand. Das konnte interessant werden. Ich fragte, ob ich mich zu ihm setzen dürfe und schließlich stellte ich meine Eingangsfrage:
„Jochen, was denkst du über den Tod?“
„Kommt.“, antwortete Jochen.
„Mehr nicht?“
„Unausweichlich ungewiss.“
„Wie bitte?“
„Er kommt auf jeden Fall, lässt sich nicht vermeiden, aber man weiß absolut nicht, wann – es sei denn du bestimmst es selbst und setzt einen Punkt.“
„Das klingt alles sehr nach Sachebene. Was ist denn mit dem Gefühl?“
„Sehr ambivalent. Irgendwie traurig und gleichzeitig entlastend, dass irgendwann alles vorbei ist. Alles Schöne würde man gern für immer festhalten, aber die Vorstellung alles, was man so aushalten muss, würde immer weitergehen und kein Ende in Sicht, das fände ich unerträglich. Schwer und leicht ist der Tod, schmerzvoll und erlösend und gnadenlos barmherzig.“
„Du würdest ihn also gar nicht besiegen wollen?“
„Nicht endgültig. Nur etwas länger aufbleiben. Den Spielfilm noch zu Ende gucken. Und dann noch eine heiße Schokolade. Und eine Geschichte. Und ein Lied vorgesungen bekommen. Und noch eins. Bis man irgendwann glücklich einschläft. Glücklich über den gelungenen, langen Tag, zufrieden und müde von den reichen Erlebnissen.“

Auf dem Heimweg dachte ich lange nach. Mit dem Tod kam der endgültige Beginn der Zukunft, von dort gab es kein Zurück und gerecht war er auch, denn er holte jede und jeden; so individuell ein jeglicher den Tod erlebte, am Ende machte er alle gleich. Er war ein ambivalenter Geselle, ein personifiziertes Oxymoron, wahllos-exklusiv schlug er zu, war zerstörerisch und perspektivisch zugleich, spannend und entspannend.

Zu Hause fischte ich einen Roman aus dem Bücherregal, einen, den ich schon einmal gelesen hatte, in dem ich nun nach Stellen suchte: „Halloween“, von Ray Bradbury, die Geschichte einiger Jungs, die in der Halloween-Nacht mit dem Tod auf eine Reise durch Raum und Zeit gehen. Hatten Kinder wirklich diesen unverstellten, neugierigen Blick auf den Tod? Erschien er ihnen in all seiner Befremdlichkeit wie ein vertrauter Bekannter? Kinder waren wohl am ehesten empfänglich für die Illusion von einer Fortsetzung, wo sich eigentlich ein Abbruch vollzog. Ich entschloss mich, am nächsten Morgen früh aufzustehen und in einem Schulbus Kinder zu interviewen.

Ich fühlte mich wie ein schmieriger Schokoladenonkel, als ich gegen 7.30 Uhr den ersten Jungen im Bus anquatschte, aber ich fegte meine Bedenken beiseite, ich war zu neugierig. „Wie alt bist du?“
„Zehn.“
„Was denkst du über den Tod?“
„Ist Scheiße.“
„Warum?“
„Weil dann alles aufhört.“
„Du meinst, dann kommt nichts mehr?“
„Doch, aber man weiß ja nicht was und auf jeden Fall ist man nicht mehr hier. Das finde ich doof.“
„Was glaubst du wie es sein wird?“
„Weiß nicht. Vielleicht geht man durch einen Tunnel und am Ende ist Licht. Und wenn man vorher Schmerzen hat oder total traurig ist, dann geht das alles weg, dann ist man erlöst. Vielleicht ist das auch ganz schön und man fühlt sich leicht und frei.“
Ein kleines Mädchen hatte uns aufmerksam zugehört, nun mischte sie sich ein:
„Ich glaube man kommt zu Gott in den Himmel und da sind überall Engel und man ist ganz leicht und frei und alles ist schön.“
„Wie alt bist du?“
„Acht.“
Ein anderes Mädchen sagte: „Dann ist man endlich fertig mit allem. Man muss nichts mehr schaffen und ist für immer frei. Vielleicht hat man Angst beim Sterben, aber dann wird alles gut und vielleicht ist man auch wieder ganz klein und fängt von vorn an.“
„Du glaubst also an Seelenwanderung?“
„An was?“, fragte das Mädchen und sah mich verständnislos an.
„Dass die Seele beim Sterben den Körper verlässt und schon bald in einen neuen Körper einzieht, in ein Baby, das gerade geboren wird.“
„Ja genau.“, sagte das Mädchen. „Das könnte sein. Ich weiß aber nicht ob das stimmt.“
„Das kann ja auch niemand wissen.“
„Und was glauben Sie?“, fragte der Junge.
„Ich glaube, dass das mit dem Tod schon irgendwie einen Sinn hat. Aber er macht mir auch Angst und ist mir lästig. Ich will nicht, dass Menschen sterben, die ich gern habe.“
„Ich auch nicht.“, sagte der Junge.
„Keiner will das.“, sagte das kleine Mädchen.

Die Kinder waren an ihrem Zielort angekommen und ich suchte mein Büro auf. Ich lüftete einmal kräftig durch und drehte danach die Heizkörper auf Höchstleistung. Der Kaffee war gerade durchgelaufen und in meinem schmuddeligen Becher gelandet, da trat er wieder ein, mein Kunde. Ich bat ihn, Platz zu nehmen, erledigte noch einen kurzen Anruf und berichtete dann von meinen ersten Ergebnissen.
„Das ist alles nichts Neues für mich.“, erklärte er. „Aber ich sehe, dass es die Kinder sind, die sich mir am wenigsten in den Weg stellen.“
„Aber Sie können doch nicht die Kinder holen!“, protestierte ich.
„Warum denn nicht?“, fragte er erstaunt.
„Die haben doch ihr ganzes Leben noch vor sich.“
„Nicht, wenn ich es beende.“
„Aber das ist grausam. Kinder sind so hilflos.“
„Alte Menschen auch.“
„Aber die sind alt und lebenssatt.“
„Wenn das so wäre, säße ich nicht hier. In Wahrheit sind sie alt und lebensgierig und nicht bereit, Platz für etwas Frisches und Neues zu machen. Vielleicht sehen sie es ein, wenn ich ihnen ihre irdische Zukunft nehme.“
„Was haben Sie jetzt vor?“
„Mal sehen.“

Er erhob sich von seinem Stuhl. Ich musste unbedingt Zeit gewinnen, bevor er loszog und Kinder in die Luft sprengte oder zerhackte oder vor fahrende LKWs stieß. Der Mann war brandgefährlich. Ich musste improvisieren.
„Nehmen Sie doch noch einen Augenblick Platz.“
Ich wies mit einer einladenden Geste auf den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte. „Ich bin doch erst am Anfang meiner Recherche und wir könnten doch zusammen überlegen, in welche Richtung ich weiter ermitteln soll. Bitte.“
Nach kurzem Zögern setzte er sich wieder und sah mich aus dunklen unbewegten Augen an. Sie waren blau. Wie konnten blaue Augen so dunkel sein? Gestern Abend hätte ich geschworen, sie seien braun gewesen, nahezu schwarz. Aber sicher lag das an seinem Auftreten, seiner frostigen Härte, die überall durch seine sanfte, kultivierte Etikette schimmerte.
Ich beschwor ihn: „Die Kinder wollen leben, etwas aus sich machen und erst wenn es genug ist, wollen sie sich mit dem Tod abfinden.“
„Ja.“, sagte mein Auftraggeber. „Jetzt, wo das vermeintlich Ende noch in weiter Ferne liegt, erklären sie sich großmütig bereit, sich eines Tages darauf einzulassen. So wie sie versprechen, am Wochenende ihr Zimmer aufzuräumen. Aber wenn es dann so weit ist, haben sie keine Lust und drücken sich. Und wenn sie erst groß sind, werden sie immer geschickter im Ausweichen und Kapriolen Schlagen. Sie rotten sich zusammen und verbünden sich. Und für mich wird die Luft immer dünner.“
„Aber S I E haben doch unendlich viel Zeit zur Verfügung.“, argumentierte ich. „Üben Sie sich in Geduld. Sterben können Sie schließlich nicht.“

Es klopfte an der Tür. Ich erlaubte, einzutreten und ein Team aus Polizisten, einer Psychologin und zwei Sanitätern trat in mein kleines Büro.
„Hallo Eckhardt.“, grüßte die Psychologin meinen Auftraggeber. „Wir würden Dich gern noch eine Weile bei uns wohnen lassen, Du bist noch nicht wieder vollständig zu Kräften gekommen. Wenn Du jetzt schon wieder an die Arbeit gehst, übernimmst du dich nur.“
Eckhardt nickte einsichtig. Er wischte sich ein unsichtbares Stäubchen vom makellos schwarzen Ärmel seines Mantels, erhob sich langsam und schloss den Knopf über dem Bauch, bereit zu gehen, wohin auch immer.
„Ich krieg hier keine Luft sagte er.“ In zwei eiligen Schritten war er am Fenster und riss es auf. Er nahm ein paar tiefe Atemzüge und sah hinunter. Plötzlich befanden sich seine Sohlen auf dem Fensterbrett und noch bevor irgendjemand reagieren konnte, stürzte er drei Stockwerke in die Tiefe. Von unten vernahm man einen erstickten Schrei. Er hatte einen Passanten mit in den Tod gerissen.

Ich wandte mich an die Polizisten, was nun mit dem Vorschuss geschehen solle. „Behalten sie ihn.“, winkte der Beamte ab. Er hat ein Geschäft mit Ihnen abgeschlossen und bezahlt. Sie haben mehr getan, als nur ihre Arbeit und nebenbei vermutlich eine ganze Reihe Leben gerettet – bis auf diese beiden, aber Sie sind nun einmal nicht der Herr über Leben und Tod.“
„Nein“, sagte ich. „Der hat seine Arbeit erledigt und ist jetzt für immer frei.“

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