Freitag, 8. Februar 2019
Tote zaubern nicht – ein abgeschlossener Kurzkrimi mit Peter Margo
Seit Wochen war es saukalt. Darum freute ich mich auf mein abendliches Ritual, den Abstecher in die bar mit dem besten Whisky der Stadt, aus dem sich leicht auch mal eine Sitzung epischen Ausmaßes entwickelte. Heute war so ein Abend, das hatte ich im Urin. Den ganzen Tag hatte ich im Villenviertel herumgelungert und beim Blick auf den zugefrorenen See war ich in Gedanken in meine Kindheit zurückgekehrt, wo ich auf Schlittschuhen meine Bahnen gezogen hatte, strotzend vor kraft und Bewegungsdrang und so voller Energie wie eine Hundewelpe. Heute fühlte ich mich wie ein betagter Cocker Spaniel, steif in den Gelenken, müde und voller Sehnsucht nach einem prasselnden Kaminfeuer, vor dem ich mich entspannt ausstrecken konnte. Meine zugige Vierzig-Quadratmeter-Bude im Hinterhaus verfügte nur über eine altersschwache Zentralheizung, darum musste ich für ein inneres Feuer sorgen, und ich weiß nicht, ob ich es meinem voraussichtigen Verstand oder meiner Bequemlichkeit verdankte, dass ich den Whisky nicht einfach flaschenweise nach Hause trug, sondern ihn in überschaubaren Portionen in der Bar hinunterkippte.

Nur noch die Rechnung schreiben und eintüten, dann würde ich den wohlverdienten Feierabend antreten. Doch weit gefehlt: Ein zartes Klopfen an der Tür rückten den Islay Scotch in weite Ferne. Vielleicht kam mal wieder ein Engel vorbei, dafür schob ich mein Abendritual gern hinaus, zumal so ein Engel einem ja auch das Herz wärmte.
Ich krächzte: „Ja, Bitte.“
Meine Stimme war reichlich angefressen von der Kälte, dem Schnaps und zu vielen Zigaretten.
Tatsächlich trat ein Engel ein, aber keiner von der Sorte, von der einem heiß wird, sondern so ein unberührbarer, eine Pinguin-Tante, klein, zierlich und ziemlich blass.
„Treten Sie näher, Lady“, sagte ich, „und nehmen Sie Platz! Was kann ich für Sie tun?“
Sie setzte sich zaghaft auf den vorderen Teil des Stuhls und fragte: „Bin ich hier richtig? Sind Sie Peter Margo, der Privatdetektiv?“
„Ja, der bin ich. Wo drückt der Schuh?“
„Es ist so, ich möchte, dass Sie jemanden für mich finden.“
„Das ist mein Job. Wen soll ich denn für Sie suchen?“
„Es handelt sich um meinen Verlobten. Er ist verschwunden.“
Das machte mich stutzig. Nonnen lebten doch zölibatär oder war dies nur eine Verkleidung und ich bekäme gleich eine haarsträubende Geschichte zu hören.
Tatsächlich trug sie einen Verlobungsring, und ich begann zu ahnen, wie haarsträubend die Geschichte war. Sie erinnerte mich an den Auftrag eines engelhaften Wesens, das vor etwa einem Jahr mein Büro aufgesucht hatte. Ich forschte in ihrem Gesicht, aber ich konnte ums Verrecken keine Ähnlichkeit feststellen.
„Hören Sie Lady oder Mutter oder wie auch immer Sie genannt werden wollen...“
„Schwester.“, unterbrach sie mich.
„Wie bitte?“
„Nennen Sie mich Schwester.“
„Ach so. Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, aber wie kann es sein, dass Sie als Ordensfrau verlobt sind?“
„Ich bin eine Braut Christi.“
„Und der ist verschwunden, der Christus?“
„Ja, genau.“
„Aber so, wie ich das einschätze, hat er doch schon vor knapp zweitausend Jahren den Abflug gemacht und ist seitdem nicht zurückgekommen. Oder habe ich da was verpasst?“
„Wenn Sie das jüngste Gericht meinen mit der Wiederkunft des Herrn, das hat noch nicht stattgefunden. Aber unser Herr Jesus hat den Jüngern ja unmittelbar vor der Himmelfahrt zugesagt: 'Siehe,ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
„Also im Geiste?“
„Ja, so ähnlich. Aber nicht nur in unserer Vorstellung, sondern tatsächlich. Und diejenigen von uns, die sich ihm verschrieben haben, konnten seine Gegenwart spüren.“
„Permanent?“
„Nein, nicht pausenlos, aber regelmäßig.“
„Und jetzt nicht mehr?“
„Nein. Zum letzten Mal vor etwa einem Jahr. Seitdem herrscht Funkstille.“
„Hören Sie, Schwester, das ist nicht direkt mein Gebiet und auch nicht das der Polizei, die würden Sie auslachen und dann den psychologischen Krisendienst einschalten. Vielleicht beraten Sie sich besser mit Ihrer Äbtissin oder Ihrem Bischof.“
„Das geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Ich habe beide in Verdacht, dass sie mit seinem Verschwinden etwas zu tun haben.“

Das klang zwar nach absolutem Irrsinn, aber meine Neugier war stärker: „Das müssen Sie mir näher erklären.“
„Wir legen in unserem Orden viel Wert auf Spiritualität und Gemeinschaft. Wir leben bescheiden und arbeiten hart, aber wir genießen die Gegenwart des Herrn täglich in vollen Zügen und im Überfluss. Doch seit uns der Bischof eine neue Äbtissin zugewiesen hat, ist dieser Reichtum mehr und mehr verloren gegangen. Es reichte plötzlich nicht mehr, emsig seinem Tagewerk nachzugehen; wir mussten Ziele mit ihr vereinbaren, die es zu erreichen galt. Wer es schaffte, wurde in Ruhe gelassen, wer über das Ziel hinausschoss, wurde vor allen gelobt, wer hinter der Erwartung zurückblieb, wurde vor allen getadelt und außerdem durch besonders niedere Arbeiten gedemütigt. Und eh wir uns versahen, wurde aus fröhlicher Arbeit verbissene Hetze und aus Schwestern erbitterte Rivalinnen. Nun fühlen die Stundengebete sich an wie das Herunterleiern zu oft gespielter Schallplatten und wie eine lästige Pflicht, die man hinter sich bringen muss, die einen vom Erreichen der Ziele abhält, also alle Rosen zu schneiden oder ein Stück Leinen zu Ende zu weben. Dabei verlieren wir das eigentliche Ziel aus den Augen, nämlich die Gemeinschaft mit Gott. Und jetzt hat er uns verlassen, weil wir ihn so sträflich vernachlässigt haben.“

Das war kein Auftrag für mich, und ich wollte dem Pinguin auch nicht sein sauer verdientes Geld aus der Tasche ziehen, aber ich wollte ihre Hoffnung nicht zerstören. Um sie zu enttäuschen, sah sie zu zerbrechlich aus.
Ich versuchte, mich in ihre Welt hineinzudenken, dann sagte ich: „Vielleicht ist er ja gar nicht verschwunden, vielleicht ist er nur vor Langeweile eingeschlafen.“
„Wieso vor Langeweile?“
„Na, wenn keine von seinen Bräuten mehr zeit für ihn hat, dann ist ihm vielleicht langweilig und er dämmert ein bisschen vor sich hin, bis wieder was los ist.“
„Aber es ist doch immer etwas los. Auf der ganzen Welt. Es gibt so viel für ihn zu tun.“
„Dann ist er vielleicht vor Erschöpfung eingeschlafen.“
„Aber er schläft nie.“
„Woher wollen Sie das denn wissen? Wenn seine Bräute, die Tag für Tag so vor sich hingearbeitet haben, immer mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, plötzlich den Turbo einlegen, sich nur noch anzicken und bei den exklusiven Verabredungen mit ihm auch die ganze zeit an etwas Anderes denken, ist das vielleicht total anstrengend. Er muss höllisch auf alle aufpassen, dass sie sich in der Hektik nicht verletzen und die ganze zeit vergeblich um ihre Aufmerksamkeit kämpfen. So was schlaucht. Da kann einem schon mal der Kopf aufs Kissen sinken, weil einen die Kräfte verlassen, auch als Heiland. Er war ja schließlich auch nur ein Mensch.
Und jetzt tobt da bei Ihnen ein Sturm und Ihr Boot droht zu versinken und der Meister schläft. Sie müssen ihn nur wecken, dann wird er Ihnen schon helfen.“
„Spielen Sie an auf die Stillung des Sturms?“
„Welche Stillung des Sturms?“
„Auf dem See Genezareth.“
„Kenn' ich nicht.“
„Jesus war erschöpft von den Anstrengungen des Tages, ließ sich von den Jüngern im Boot über den See fahren und schlief fest, als plötzlich ein furchtbarer Sturm aufkam. Als die Jünger ihn weckten, gebot er dem Sturm, zu schweigen und das Meer beruhigte sich.“
„Ach, lassen Sie mich mit diesem Bibel-Gedöns in Ruhe! Oder holen Sie sich da Ihre Ideen, wenn Ihnen das hilft! Ich denke, dass Sie ihn wecken müssen, aber wie Sie das tun, das müssen Sie selbst herausbekommen. Sie kriegen ihn bestimmt wach, selbst wenn er schon tot ist. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er wieder aufwacht. Aber wenn Sie wollen, dass der große Magier es für Sie richtet, müssen Sie ihn wach schütteln. Denn Tote zaubern nicht.

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Freitag, 1. Februar 2019
Spontanerbrechen - Kurzkrimi
Im Bauch fängt es an. Der Darm ist mein Gehirn. Der Kopf ist nur die Schaltzentrale, das Wesentliche kommt aus den Organen unterhalb des Rectus Abdominis. Kein Wunder. Da wird lautstark gearbeitet, da wird Energie gewonnen, da werden wertvolle Ressourcen generiert. Die Schaltzentrale frisst nur und verursacht Wahnvorstellungen. Im Bauch entsteht auch neues Leben. Der Hohlraum sehnt sich danach, gefüllt zu werden, damit darin etwas Neues wächst, etwas das atmet und dafür sorgt, dass das Leben nicht aufhört.

Sie legt den Stift aus der Hand. Dieser Kurs in kreativem Schreiben ist vielleicht doch nicht das Richtige. Einfach aufschreiben, was einem morgens als erstes in den Sinn kommt. Warum die weibliche Morgenlatte in Literatur verwandeln? Wer will so etwas lesen? Ein tiefer Seufzer entfährt ihr. Sie nimmt den Stift wieder in die Hand. Was soll's, schreibt sie eben was in ihr ist.

Ramon streicht über meine Körperseite. Er beginnt an der Schulter, fährt wie ein Aston Martin, der sanft durch toskanische Hügel surrt, über meine Rippen, ins Tal meiner Taille, auf den Gipfel meiner Hüfte und geht dann langsam, kaum wahrnehmbar mit den Fingerkuppen über den Bauch hinunter, bis er schließlich den Ansatz des dunkeln Wildwuchses erreicht, in dessen Zentrum das süße Sehnen schlummert.

Ein Schatten fällt auf die Seite. Sebastian beugt sich über ihre Schulter, küsst ihren Hals bleibt eine Weile stehen, massiert die Nackenmuskulatur. Plötzlich hält er inne. „Wusste ich es doch!“, zischt er. Dann werden seine zärtliche Hände zu Schraubstöcken, die sich um ihren Hals legen. Sie will ihn fragen, was los ist. Ihr wird klar was los ist. Sie will ihm noch sagen, dass das nur Literatur ist, dass Ramon nicht existiert, doch es ist zu spät.

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Freitag, 25. Januar 2019
Das Meer in dir
Er war sich nicht im Klaren darüber, ob das Kribbeln auf der Haut von den Millionen feiner Sandkörner herrührte oder aus seinem Innersten kam. Er genoss die intensiven Sonnenstrahlen, die ihn mehr durchwärmten als jeder Qualitätswhisky vor einem prasselnden Kaminfeuer und da stieg noch eine andere Hitze in ihm auf, die kam von den athletischen Leibern, die wahlweise in sandiger Panade vor sich hin brieten wie Chicken Nuggets im Umluftherd oder herumtollten wie junge Hunde, um ihm mit ihrem betörenden Muskelspiel den Mund wässrig zu machen.
Mehr wollte er doch gar nicht von seinem Urlaub: Sonne, Strand und von der Liebe träumen – ja und hin und wieder zum Schuss kommen, das gehörte natürlich dazu.

Er war ein bisschen wie Friedrichs Gedicht: erst wüten und dann still da liegen. Er fühlte sich sogar wie das dazu gehörige Gemälde, ein azurblauer Wirbel, durchzogen von weißen und schwarzen Schlieren, umgeben von einer ockerfarbenen Hülle auf grauem Grund. Ockerfarben war seine Haut und der Sand hier am renaturierten Strand von Marina di Bibonna war auch eher grau als goldgelb. Und in ihm toste es noch immer, auch wenn er scheinbar in sich ruhte. Wenn er die Augen schloss, war da wieder das Platschen des von panischen Schlägen gepeitschten Mittelmeeres. Er hat kein so großes Problem mit den Bildern, sie kamen und er hielt sie aus. Aber mit den Bildern kamen auch die Geräusche. Und dieser Soundtrack war nicht zu ertragen. Er blinzelte in die Sonne und nahm einen Schluck aus der Limoflasche. Die Cocktails hob er sich für den Abend auf, er war ja kein Teenager mehr.

Vor elf Jahren hatte alles angefangen. Sie hatten sich angefreundet auf einer Fortbildung, die halbe Nacht geredet und sich dann immer häufiger verabredet. Ihm war sofort aufgefallen, dass Friedrich genauso war wie er. Nein nicht direkt ein Seelenverwandter. Dirk war ein Macher, einer der Strukturen durchschaute und es verstand, sich das zunutze zu machen, einer der diese Strukturen auch verändern und neu entwickeln konnte. Leitung lag ihm, hatte ihm schon immer gelegen, auch wenn die wenigsten ihm das zutrauten.
Friedrich dagegen war ein Schöngeist gewesen. Zwar ein hierarchischer Typ, der sich nicht infrage stellen ließ, aber auch ein Künstler, ein Individualist. Dirk hatte ihn für sein doppeltes Talent bewundert, die Lyrik und die Malerei und wie er das Zusammenspiel beider Kunstformen verstand. Dirk hatte organisiert und Friedrich hatte ausgestellt und viel Lob und Anerkennung geerntet.
Aber in einer Hinsicht waren sie von Anfang an gleich gewesen: sie gaben Männern gegenüber Frauen den Vorzug. Beide waren ledig und machten ihre Homosexualität nicht öffentlich. Es war zwar kein Ausschlusskriterium mehr, aber immer noch äußerst unwahrscheinlich, als offen schwul lebender Mann in eine nette, bürgerliche Kirchengemeinde zum Pfarrer gewählt zu werden. Und wer Karriere machen wollte, brachte lieber keine wertkonservativen Kleinbürger gegen sich auf.
Sie waren nie ineinander verliebt gewesen. Friedrich war nicht Dirks Typ, zu altmodisch und unlustig. Er erinnerte Dirk immer an seinen alten Lateinlehrer, der hatte auch so für die alten Griechen geschwärmt und so einen merkwürdigen Bart getragen, wie ein arabischer Fürst, Haare an Kinn und Oberlippe, Die Wangen und den Hals aber glatt rasiert.
Dirk war wohl auch nicht Friedrichs Typ gewesen, der füllige Körper, der derbe Humor, das hatte jedes eventuelle Verlangen in ihm im Keim erstickt. Aber sie waren gute Freunde geworden, die sich gegenseitig unterstützten und über die schlimmste Einsamkeit hinweg halfen. Und einmal im Jahr verreisten sie zusammen.

„Mir ist sooo heiß!“, hatte Friedrich gestöhnt. „Ich glaube, ich muss in den Schatten und mir einen Eiskaffee genehmigen.“
„Du bist am Meer!“, hatte Dirk gekontert. „Lass uns ins Wasser gehen.“
„Du weißt doch, dass ich nicht schwimme.“
„Du musst ja auch nicht schwimmen. Du planscht ein bisschen im Flachen, bis du dich abgekühlt hast und dann gehst du auf die Luftmatratze und leistest mir beim Rausschwimmen Gesellschaft.“
„Das habe ich ja noch nie gemacht!“
„Das ist ein Grund, aber kein Hindernis.“
„Wie bitte?“
„Ich meine, du kannst es als Ausrede versuchen, aber du kommst nicht damit durch. Alles, was man im Leben tut, tut man irgendwann zum ersten Mal.“
„So wie das Outing. Das macht man auch nur einmal. Wie ein Sprung ins kalte Wasser.“
„Fang nicht wieder davon an. Du weißt, dass ich meine Bewerbung für den Diakonie-Vorstand vergessen kann, wenn ich das tue.“
„Oder wenn ich es tue.“
„Untersteh dich! Ich weiß auch nicht, warum du das überhaupt tun musst. Es gibt genug kleine Wichser, die von unseren Urlauben wissen, eins und eins zusammenzählen und fünf herausbekommen. Wenn Du Deine sexueller Orientierung offenlegst, werde ich sofort mit dir in einen Topf geworfen und das weißt du.“
Friedrich hatte nur überlegen gegrinst. Da hatte etwas den Schalter in Dirks Kopf umgelegt.

Warum wollte Friedrich auch alles kaputt machen? Was hatte er davon, allen auf die Nase zu binden, dass er Männer liebte? Glaubte er, dass da schon jemand in den Startlöchern saß?

„Und jetzt komm, erst abkühlen, dann Seele baumeln lassen.“
„Was tue ich nicht alles für meinen ständigen Reisebegleiter.“, stöhnte Friedrich und rappelte sich auf. Das schrittweise Eintauchen in das kühle Tyrrhenische Meer kostete ihn reichlich Überwindung: „Jetzt war ich so froh, endlich mal wieder einen echten Kultururlaub zu machen und jetzt geht es hier ab wie letztes Jahr auf Ibiza.“
„Ibiza war geiler.“, entgegnete Dirk und kicherte seehoferisch. „Die Jungs am Strand waren alle willig, zumindest prinzipiell. Da bist doch sogar du auf deine Kosten gekommen.“
„Ach ja, aber eigentlich ist das nichts für mich. Ich will mich richtig verlieben, auf Dauer, in jemanden, auf den ich mich verlassen kann.“
„Warum musst du alles auf einmal haben? Du kannst doch massenhaft abwechslungsreichen Sex haben und verlassen kannst du dich auf mich. Komm, alter Mann, ich schleppe dich raus auf das Meer, das du so schön kreativ in Szene gesetzt hast.“
Dirk war den Strand hoch gelaufen und hatte die Luftmatratze geholt. Er hatte seinen Reisegefährten weit hinausgezogen. An Land bewegte er sich schwerfällig, aber im Wasser war er in seinem Element. Tatsächlich hatte Friedrich sich in der Sonne entspannt, darum war es ein leichtes für Dirk gewesen, ihn von der Matratze zu schubsen. Friedrich hatte aufgeschrien, war untergetaucht, wieder aufgetaucht, hatte panisch nach Luft gerungen und Dirk hatte geschrien: „Friedrich, halt dich an der Matratze fest!“, doch gleichzeitig hatte er ihn fortgestoßen, dafür gesorgt, dass der Ertrinkende weder die Matratze noch Dirk zu fassen bekam. Friedrich hatte Wasser geschluckt, nicht mehr schreien können, nur husten, hatte nach Luft gerungen und so immer mehr Wasser in seine Lungen gesogen, bis er schließlich nicht wieder aufgetaucht war.
Dann war der Freund zurück zum Strand geschwommen, hatte Alarm geschlagen, Panik und Verzweiflung nach außen gekehrt.

Drei Tage war das nun her. Seltsam, Friedrich fehlte ihm eigentlich gar nicht. Sein Bild verblasste schon, kein Wunder, bei dem Anblick, der sich ihm hier bot. Nur das letzte Gedicht, das sein Reisegefährte verfasst hatte, behielt er im Herzen:

Das Meer in dir

Wellen
die erst leise schwappen
größer werden
schneller kommen
alles mit sich reißen
und dann brechen
das Meer in dir
es tost und wütet
um dann
gleich morgen
wieder dazuliegen
tief und still und sanft

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Freitag, 18. Januar 2019
Das hatte Michelangelo nicht gewollt
Levke fröstelte. Und dunkel war es auch. Hatte wohl niemand mitbekommen, dass sie noch auf der Toilette gewesen war. Sie tastete sich durch das dunkle Foyer. Zumindest die Bodenfliesen waren hell, wenn auch im hässlichen Siebzigerjahre-Look, so eine Mischung aus Waschbeton, Marmor und Terrazzo. Kalt und rutschig. Sie hatte vergessen, wo sich die Lichtschalter befanden. Sie erinnerte sich, wie man sich aus einem Labyrinth befreite, tastete sich konsequent an der rauen Klinkerwand entlang; irgendwann käme die Haustür von allein. Kam sie auch, aber sie war verschlossen. Verriegelt und verrammelt. Wie sollte sie das Haus verlassen? Sie zog das Telefon aus der Tasche. Der Akku war leer, na toll! Und an den Festnetzapparat im Gemeindebüro kam sie auch nicht heran. Die Fenster im Erdgeschoss waren nur mit einem Schlüssel zu öffnen. Tränen der Verzweiflung stiegen auf. Sie wollte nicht die ganze Nacht in diesem kalten, unwirtlichen Gemeindehaus verbringen, allein und von allen verlassen. Doch dann hatte sie eine Idee: Wenn sie den Lichtschalter fand, würde sie einfach permanent das Licht an- und ausknipsen. Das musste irgendwann jemandem auffallen und der könnte dann Hilfe holen, Pfarrer oder Küster Bescheid sagen, die hatten ja einen Schlüssel.
Doch dann breitete sich Erleichterung in ihr aus: Sie hörte ein Geräusch, da war doch noch jemand im Haus. Sie war gerettet – oder zumindest nicht allein. Vielleicht geschah ja jetzt das Unglaubliche und Paradiesische, vielleicht hatte David sich das für sie ausgedacht. Ihr Herz hämmerte.
„Hallo?“
Keine Antwort.
„Hallo? Wer ist da noch? Ich bin's, Levke Kopaz, ich bin hier im Foyer, die haben mich eingeschlossen. Hallo?“
Totenstille.
Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet?
Doch, da war es wieder. Ein leises Klappern, so wie behutsam sich nähernde Schritte. Warum antwortete die Person nicht? War das vielleicht ein schlechter Scherz?
„Ich finde das jetzt langsam nicht mehr witzig!“, schimpfte Levke. Sie hörte die Schritte wieder, konnte aber in der Dunkelheit keine Richtung ausmachen, sie schienen von verschiedenen Seiten zu kommen.
Jemand packte zu, griff ihr von hinten an die Handgelenke und führte ihre Hände hinter den Rücken. Bis zum Anschlag. Es tat sehr weh, sie schrie auf. Vor ihre Augen war ein Schatten, der drängte ihr entgegen. Bevor sie gewahr wurde, dass es sich um einen schwarz gekleideten, maskierten Mann handelte, hatte er sich schon an sie gepresst und nestelte an ihrer Jacke. Sie versuchte, sich aus dem stahlharten Griff des Hintermanns zu befreien, wehrte sich, versuchte zu treffen. Der Vordermann schlug ihr hart ins Gesicht. Zwei mal, kurz hintereinander. Sie schmeckte Blut. Benommen bemühte sie sich, auf den Beinen zu bleiben.
Es gelang ihr, sich aus dem Klammergriff zu winden, sie schlug um sich, griff zunächst ins Leere, dann bekam sie etwas zu fassen, mit dem sie ihren wehrhaften Schlägen mehr Wucht verleihen konnte.
Plötzlich lag sie am Boden und blickte mit schreckgeweiteten Augen in die Dunkelheit. Es war seltsam still. Noch seltsamer war, dass der schnöde Steinfußboden sich unter ihrem Körper ganz warm und weich anfühlte. Sie wollte gerade zusätzlich in Panik geraten, weil sie diese Empfindung für ein einsetzendes Taubheitsgefühl hielt, doch dann entspannte sie sich: Sie lag im Bett. Sie hatte das alles nur geträumt.
Das Nachthemd war komplett nass geschwitzt. Ihr Mund fühlte sich trocken an und der Traum war so realistisch gewesen, dass jetzt noch ihre Wangen von den harten Schlägen schmerzten. Sie stand auf, um sich in der Küche ein Glas Wasser einzuschenken. Die Beine zitterten noch immer, dabei war sie doch in Sicherheit. Vor wem hatte sie solche Angst? Niemand im Chor bedrohte sie oder machte ihr unangenehme Avancen, ganz im Gegenteil, sie wartete sehnsüchtig auf ein Signal von David, aber der war immer so beherrscht, vielleicht interpretierte sie in seine Blicke mehr glühende Leidenschaft, als da tatsächlich vorhanden war.
Das leicht sprudelnde Mineralwasser tat gut und allmählich stand sie wieder sicher und fest auf ihren Beinen. Kann ich ja auch gleich noch aufs Klo gehen, wo ich schon einmal aufgestanden bin – dachte sie.
Es lohnte sich und nach dem Toilettengang wusch sie sich selbstverständlich die Hände. Beim Blick in den Spiegel zuckte sie zusammen: aus ihrer Unterlippe sickerte Blut und der obere Teil ihres Nachthemdes war voll davon. Wie konnte eine so langsam blutende Wunde so viele Flecken verursachen? Sie musste sich festhalten. Die Beine zitterten wieder. Nur schnell ins Bett und dann vielleicht einen Krankenwagen rufen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Sie warf sich auf die Matratze und atmete schnell und heftig. Das Bett war nass geschwitzt. Oder war ihr Blut auch ins Laken gezogen? Sie knipste die Nachttischlampe an und setzte sich auf. Und dann wurde es schlagartig dunkel.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie noch immer im Bett. Sie fühlte sich, als sei sie schon tot, so kalt und starr, als könne sie sich nie wieder bewegen. Doch dann kam das Zittern und sie wusste nicht, ob es der Unterkühlung oder dem schrecklichen Anblick geschuldet war, der sie in die Ohnmacht hatte sinken lassen. David lag neben ihrem Bett, die Augen weit geöffnet und erstarrt, aus seiner Schläfe hatte sich ein dicker Blutstropfen Bahn gebrochen und neben ihm lag die Marmor-Figur aus Carrara: Michelangelos David als Miniatur, aber groß genug, um diesen David seinem Schöpfer zurückzugeben.

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