Freitag, 20. April 2018
Strandgut - abgeschlossener Kurzkrimi
Was für ein wunderbarer Sommerabend und das Anfang April. Nein, nicht in Bella Italia oder sonstwo am Mittelmeer. Es war kurz vor Zeeland, im Nordwesten der Niederlande, wo die Strände breit und die Wellen kräftig waren. Nur heute ließ die Brandung zu wünschen übrig. Der ablandige Wind und der flutbändigende Halbmond hielten die Nordsee so sehr im Zaum, dass Kleinkinder unbeaufsichtigt in ihr hätten planschen können, wäre die Wassertemperatur nicht deutlich zu niedrig gewesen.
Agatha sammelte Muscheln. So viele zusammenhängende, unversehrte Schwertmuscheln fand sie sonst nie. Im Sommer war alles zertreten, und die wenigen Exemplare, die nicht achtlosen, schweren Schritten zum Opfer gefallen waren, schnappten kindliche Schalentierkadaverjäger ihr regelmäßig vor der Nase weg. Sie baute daraus Windspiele für den Garten, denn sie liebte den Klang der aneinander klimpernden Kalkschalen.
Als sie genug Beute in ihren Jackentaschen gesammelt hatte, hob sie den Kopf und blinzelte in die untergehende Sonne. In einiger Entfernung fiel ihr ein leuchtend gelber Gegenstand ins Auge. Die erste vergessene Sandkastenschaufel oder ein Quietscheentchen?, dachte sie. Oder einfach nur der allgegenwärtige Plastikmüll der Weltmeere? Dann konnte sie es erkennen: Ein Gummihandschuh, wie man ihn im Haushalt benutzte, um die Haut zu schonen oder um die notwendige Distanz zwischen sich und ekligen Substanzen herzustellen, die es zu beseitigen galt.
Agatha grinste in sich hinein. Hey, Sergeant, phantasierte sie, Informieren Sie das Team von der Kriminaltechnik. Dies hier scheint mir ein wichtiges Beweisstück zu sein. Wer wirft schon einfach so Gummihandschuhe ins Meer oder entsorgt sie am Strand?
Ja genau, dachte sie, wer tut so etwas und warum? Und was, wenn dieser Handschuh tatsächlich benutzt worden war, um ein Verbrechen zu begehen? Aber wenn sie jemandem davon erzählte, würde man bestenfalls mutmaßen, sie habe ihre Medikamente abgesetzt. So ein Theater wegen so eines banalen Alltagsgegenstandes...
Nun stand sie unmittelbar davor, der Handschuh wirkte seltsam lebendig, hatte sich wohl in der tosenden Brandung mit Sand gefüllt, grotesk sah das aus. Sie hob ihn mit spitzen Fingern an. Meine Güte, war der schwer. Hinter ihr ertönte lautstarkes Gezeter. Schwärme von Möwen und Strandläufern stritten miteinander. Sie traute ihren Augen nicht. Zwei der Strandläufer hüpften auf einem Bein wie Kinder es beim Hinkelspiel taten. Agatha beobachtete sie eine ganze Weile. Sie taten dieses offenkundig nicht zum Spaß, sondern waren Opfer einer Verstümmelung, ob nun durch Unfall, Raubvogel, menschliche Grausamkeit oder Missbildung. Aber sie lebten, und als sie davonflogen, standen sie ihren zweibeinigen Artgenossen in nichts nach.

Agatha wandte sich wieder ihrem Fundstück zu, das einen seltsam fauligen Geruch verströmte, nicht nur brackig und fischig wie manche angespülte Muscheln, deren Fleisch zwischen den Schalen faulte, sondern süßlich und auf eine unbeschreibliche Weise widerwärtig. Sie zog den Handschuh mit beiden Händen auseinander und blickte hinein. Eine rotbraune Masse durchzogen von weißlichem Material glänzte feucht gehalten von der Salzlake des Meeres. Was zum Teufel konnte das sein? Sie war zu neugierig, fasste die Finger des Handschuhs an den Spitzen und schüttelte, bis ihr der Inhalt vor die Füße fiel. Sie erblickte eine abgetrennte, menschliche Hand. Kurz darauf fiel sie Ohnmacht.

Als Agatha wieder zu sich kam, war sie umgeben von Menschen, die sie mit Fragen bestürmten, die sie aber nicht beantworten konnte, weil sie in ihrem gegenwärtigen Zustand kein einziges Wort von dem aufgeregten Niederländisch verstand. Die Helfer hatten wohl einen Rettungswagen oder die Polizei gerufen, vielleicht auch beides, denn sie nahm ein sich näherndes Martinshorn wahr. Wenig später war sie umgeben von Sanitätern, von denen einer ihrer Muttersprache mächtig war, und als sie feststellten, dass die Anzeichen eines Schocks bei ihr bereits abklangen, fragte der Helfer, was denn eigentlich geschehen sei. Endlich brach es aus ihr heraus, dass sie geglaubt habe, der Handschuh habe sich in der Brandung mit Sand gefüllt, dass sie das neugierig gemacht habe, dass sie dann eine derartig undefinierbare Masse darin entdeckt habe, dass ihre unbezähmbare Neugier nach einer plausiblen Erklärung gelechzt habe und sie darum den Inhalt herausgeschüttelt habe. Als es dann keinen Zweifel mehr gegeben habe, dass es sich um eine menschliches Amputat handelte, habe sie die Erkenntnis wie ein Hammerschlag getroffen.
Da sie nun wieder bei sich war, hatte selbstverständlich auch die Polizei Fragen an sie und ein sprachbegabter Ermittler kam auf sie zu.
„Sie kommen aus Deutschland?“
„Ja.“
„Sind Sie im Urlaub?“
„Nur übers Wochenende.“
„Wo wohnen Sie?“
„In Outdorp. Ich habe ein Zimmer über Airbnb gemietet, im Hofdijksweg, gegenüber dem Eiscafé.“
„Okay.“, sagte der Polizist und seine himmelblauen Augen schienen sich unerbittlich in ihren Kopf zu bohren bis zur Rückwand ihre Schädelknochens.
„Können Sie sich ausweisen?“
Agatha erschrak. War sie etwas verdächtig? Dachte der Polizist, sie hätte den Eigentümer der Hand ermordet und zerstückelt und die Leichenteile in der Umgebung verteilt und dann den Fund der Hand und die darauffolgende Ohnmacht vorgetäuscht? Wie gelähmt starrte sie in sein Gesicht, unfähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen.
„Haben Sie einen Ausweis dabei?“, wiederholte der Ermittler die Frage. „Das wäre das Einfachste für uns. Sie sind eine wichtige Zeugin und wir müssen darum Ihre Personalien aufnehmen.“
Fahrig griff Agatha sich an die Brust, wo sie in einer separaten Tasche ihrer Outdoor-Jacke den Ausweis vermutete. Der Reißverschluss klemmte und ihre Nervosität wuchs, insbesondere unter dem erbarmungslosen, stahlharten Blick des Polizisten, der sie dadurch nur noch genauer musterte. Es war ein Teufelskreis, den sie nur durchbrechen konnte, wenn der verdammte Zipper sich endlich bewegen ließ und sie die gewünschte Karte präsentieren konnte. Schließlich klappte es, der Polizist nahm den Ausweis an sich, verglich kurz das Foto mit der Lebenden Person und reichte das Dokument an eine Kollegin weiter, die damit verschwand, um die Personalien zu überprüfen.
„Wir wollen nur gucken, ob Sie keine international gesuchte Terroristin sind.“, scherzte der Mann und grinste schief.
„Aha.“, stieß Agatha beunruhigt hervor. Gab es Fälle, in denen deutsche Touristen von niederländischen Polizisten Beweisstücke untergeschoben wurden, damit die einen Mordfall möglichst schnell erfolgreich abschließen konnten oder gab es solche Vorfälle nur in Bananenrepubliken wie Kolumbien oder den USA?
„Agatha?“, las der Beamte belustigt. „Die Gute?“
Agatha zuckte mit den Schultern, und es war wieder einer dieser Momente, in denen sie ihre Eltern glühend dafür hasste, dass sie sie mit diesem antiquierten, muffig klingenden Vornamen ausgestattet hatten, dazu in einer für Deutschland ungewöhnlichen Schreibweise, eher einer Protagonistin in einem Theaterstück wie „Arsen und Spitzenhäubchen“ würdig, denn einer modernen, jungen Frau, die in der freien Wirtschaft bestehen wollte. Aber ihre Eltern waren beide promovierte, auf alte Geschichte spezialisierte Historiker gewesen, und sie musste froh sein, dass sie es bei altgriechisch hatten bewenden lassen und nicht etwa ein unaussprechliches, assyrisches Kleinod ausgegraben hatten.
Und warum fand der Polizist es lustig, dass ihr Name „Güte“ oder „die Gute“ bedeutete? Hatte er sie insgeheim bereits verurteilt? War seine Frage die beißende Ironie des erfolgreichen Fallenstellers gegenüber seiner sich verzweifelt windenden Beute, die die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgegeben hatte, ihrem Peiniger zu entkommen?
Aber dann wollte der Ermittler doch nur von ihr hören, wie genau der Fund sich abgespielt, wie der Handschuh dagelegen hatte und an welcher Stelle genau und ob sie sich noch an die exakte Uhrzeit erinnerte.

Als die Sanitäter sich davon überzeugt hatten, dass sie wirklich selbständig zu ihrer Unterkunft zurückgehen konnte, lief sie schließlich wieder allen an der leisen Brandung entlang und ließ den Ort des Schreckens hinter sich zurück, nicht aber das grausige Bild, das sich tief und für immer in ihr Gehirn gegraben hatte. So furchtbar der Anblick eines abgetrennten Körperteils auch war, es war nicht das Amputat selbst, das sie schließlich aus den Socken gehauen hatte. Da war etwas am Ringfinger gewesen, das sie schon einmal gesehen hatte. Es war mindestens zehn Jahre her. Damals hatte sie noch einen Haufen Geld verdient und keine Neuroleptika benötigt. Den Ring hatte sie selbst anfertigen lassen, ein absolutes Unikat, eine goldene, sich zweimal um den Finger windende Schlange, deren verdickter Kopf einer Kobra auf das mittlere Gelenk des Fingers wies, mit winziegn Smaragden als Augen und Rubinsplittern auf den filigranen Ausläufern, die die gespaltene Zunge darstellten.
Aimée war verrückt nach Königskobras gewesen, darum hatte sie ihr den Ring zum Geschenk gemacht. Sie vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. Etwas Kleines, Kaltes und Bizarr-Filigranes erwärmte sich allmählich durch das warme Blut, das ihr sich langsam beruhigendes Herz gleichmäßig in ihre linke Hand pumpte.
„Hab' ich es also noch geschafft.“, dachte sie und schritt beschwingt ihrer Unterkunft entgegen.
ENDE

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Sonntag, 15. April 2018
Krimi-Dinner – Midi oder XL-Krimi - Endfassung
Bis auf „Keinmann“ in den Anfängen hat kein Mann und keine Frau hier mitgeschrieben, darum habe ich den Sack jetzt einfach mal zugebunden. Ist jetzt natürlich fast zehn Seiten lang. Müsst ihr ja nicht lesen. Nur falls Ihr wissen wollt, wie es ausgeht ;-)

Was für ein Spaß! Charlotte hatte es diesmal richtig krachen lassen und das evangelische Tagungshaus, das ursprünglich als Erholungsheim für Diakonissen gedient hatte, komplett gebucht. Es gab zwar 30 Betten und sie waren nur zu zwölf Personen, aber zu ihrem Fünfzigsten hatte sie sich einmal etwas gönnen wollen, etwas Skurriles mit Stil und Ambiente. Und das war ihr gelungen. Die „Schöne Aussicht“ trug ihren Namen zu Recht, oben auf der Kuppe eines Berges, wo der Blick über die Wipfel üppiger Mischwälder schweifte und die Sicht aus den altmodischen Panoramafenstern einen dem Himmel so nah brachte, dass kein Wetterumschwung unbemerkt an einem vorbei gehen konnte. Der abgelegene Standort brachte eine unvergleichliche Stille mit sich und die gepflegten Räumlichkeiten nahmen den Gast auf wie der Schoß einer nach Himbeergelee und Napfkuchen duftenden Großmutter. Im Speiseraum stand bereits die gedeckte Tafel, mit weißem Damast, Leinenservietten, Kristallgläsern und Silberbesteck. Das Abendessen hatte Charlotte bei einem besonderen Caterer bestellt. Scones, Shortbread und Gurkensandwiches für den Fünf-Uhr-Tee hatte sie selbst vorbereitet. Beim Tee hätten alle noch einmal Gelegenheit sie selbst zu sein und alles auszutauschen und zu betratschen, was sich in den vergangenen Wochen und Monaten angesammelt hatte. Danach hatten alle Gelegenheit sich auf ihr Zimmer zu begeben und für das Dinner zurechtzumachen, gemäß ihrer Rolle in der Story des Krimi-Dinners.
Doch im Augenblick brach die sinkende Sonne goldgelb durch wüst gedrungene Wolken und tauchte das ohnehin in Orangetönen gehalten Salonzimmer in warmes Abendlicht. Im Kamin knisterten die Buchenscheite und die Etageren mit Häppchen und Süßem luden verführerisch zum Zugreifen ein.
„Eigentlich hätten wir schon verkleidet zum Tee kommen müssen.“, verkündete Simone und warf lachend den Kopf in den Nacken. „Dieser Raum sieht wirklich aus wie das Set zu einem Agatha-Christie-Film.“

Simone war Charlottes beste Freundin seit der Oberstufe. Ihre Rolle beim Krimi-Dinner passte so gar nicht zu ihr, denn obwohl sie eine lebenslustige Charmeurin war, die das Klimakterium noch lange nicht hinter sich hatte, musste sie die unvorteilhaft alternde, altjüngferliche Tochter der alten Lady spielen, die übrigens von der echten Gastgeberin gemimt wurde.

Charlotte selbst war seit sechs Jahren glücklich geschieden, wenn es auch bis zum Attribut glücklich ein weiter und schmerzlicher Weg gewesen war. In Simones Schlepptau befand sich Klaus, ihr derzeitiger Lebensgefährte, ein unverschämt gut aussehender Sportlehrer, der am Abend den Familienanwalt gab.

Ein enger, langjähriger Freund – sowohl von Charlotte, als auch von Simone war Bernd. Eigentlich bevorzugte Bernd Männer und war zur Zeit Single, daher schwer auf der Suche, aber weil bei diesem Dinner ohnehin kein für seine Zwecke geeignetes Material eingeladen war, hatte er sich seufzend in sein Schicksal ergeben und sich bereit erklärt den geldgeilen Schwiegersohn zu spielen – er wäre viel lieber ein geheimnisumwittertes Nachtclub-Luder aus der fernen Großstadt gewesen.

Miriam, Charlottes langjährige Kollegin, spielte die verheiratete Tochter der Lady und damit die Ehefrau von Bernd. Sie mussten sich beim Tee erst einmal kennenlernen.

Susanne, ebenfalls eine alte Schulfreundin, spielte die liederliche Geliebte des jüngeren Sohnes.
Jörg, Susannes Mann seit der Jugend, spielte den liederlichen jüngeren Sohn.

Inga war eine Bekannte aus früheren Zeiten, zu der Susanne eigentlich keinen Kontakt mehr hatte. Nun hatte sie sich aber vor einiger Zeit zufällig wieder getroffen und so nett unterhalten, dass sie beschlossen hatte, Inga samt Partner einzuladen, um so das Dutzend voll zu machen. Inga durfte Charlottes Schwägerin spielen.
Ingas Ehemann hieß Laurens und er durfte auch im Spiel mit seiner Ehefrau verheiratet bleiben. Als jüngerer Bruder der Gastgeberin hatte er eine interessante Rolle.

Burkhard war ebenfalls ein alter Schulfreund. Zu ihm hatte Charlotte gelegentlich Kontakt, vor allem in den letzten Jahren, wo sie sich oft über Scheidung ausgetauscht hatten, denn Burkhard war von seiner Frau zusammen mit den beiden Kindern verlassen worden. Heute Abend spielte er den Pfarrer, mit dem die Familie sich gern schmückte und der sich im Gegenzug der freundlichen Kontaktpflege regelmäßige Spenden für die Kirche erhoffte.

Lisa, kannte Charlotte seit 10 Jahren, sie gingen immer zusammen wandern und hatten dabei die besten Gespräche, denn Lisa hatte einen besonders wachen Geist, ohne dabei auch nur im geringsten intellektuell versnobt zu sein. Sie spielte eine mit der Familie befreundete Ärztin.

Charlottes ehemalige Kommilitonin Margit gab die Enkelin der alten Lady und damit die Tochter von Miriam und Bernd. Da sie beide bereits kannte, unterstützte sie das fiktive Ehepaar bei der gegenseitigen Bekanntmachung und sorgte für viel Entspannung und Gelächter.

Nach der geselligen Teerunde hatten alle rote Bäckchen – denn es war ziemlich warm geworden. Darum genossen sie den Luxus, sich für dreißig Minuten zurückziehen zu können, sich etwas Ruhe und ein paar Minuten in der Horizontale gönnen zu dürfen, bevor sie in ihr Kostüm schlüpften. Um 20 Uhr saß Charlotte äußerst gespannt am Ende der gedeckten Tafel und wartete auf den Auftritt ihrer Gäste. Plötzlich fiel ihr irritierter Blick auf einen gefalteten Briefbogen, der wie eine Serviette auf ihrem Teller lag. Er war ihr zunächst gar nicht aufgefallen, weil er kleinformatig und reinweiß wie das Geschirr war. Sie nahm ihn in die Hand und öffnete das Blatt. Dort stand in schlichter und unpersönlicher Computerschrift:

Wir kannten uns nicht
zumindest nicht gut
eigentlich kaum
und wurdest trotzdem
zu meinem Traum
hast mich einfach umgehaun.

Jetzt lieg ich da
auf dem Rücken
wie ein hässlicher Käfer
und du bist nicht da,
um mir aufzuhelfen.
Scheimerkakmoishit

keinmann, Dienstag, 27. März 2018, 12:12
„Scheimerkakmoishit?“
Was – oder wer sollte das sein? Charlotte starrte perplex auf das Briefpapier. Sie versuchte, es umgekehrt zu lesen: "Tihsiomkakremiehcs" - das ergab ebenso wenig Sinn. Sollte es vielleicht: „Scheim erkak moi shit“ - oder „Schei mer kakmoi shit“ heißen? Das einzige, was für sie Sinn ergab war das „shit“ am Ende …
Da saß Charlotte nun, allein am Tisch und wunderte sich über diese seltsam anmutenden Zeilen:
„… hast mich einfach umgehaun …“
Mit einer Mischung aus Verwunderung und leise prickelndem Vergnügen begann sie zu überlegen: Was/wen sollte sie umgehauen haben – ohne es zu bemerken? Dafür kamen - hoffentlich - nur hier anwesenden Männer in Frage … Charlotte war bereits verwirrt genug, wenn sie nur die Männer in Betracht zog, die diesen Brief an sie geschrieben haben konnten. Die Frauen schloss sie erst einmal aus - sie mochte sich nicht einmal vorstellen, dass eine ihrer Freundinnen ...Nein, das kam nicht in Frage, Charlotte ließ nur hier anwesende, männlichen Kandidaten im Geiste an sich vorüberziehen:
Da war Klaus, Simones derzeitiger Lebensgefährte, dieser unverschämt gut aussehender Sportlehrer, der am Abend den Familienanwalt geben sollte. Fast hätte sie es sich gewünscht, dass er der Verfasser … doch Klaus kannte sie wohl noch nicht lange genug, als dass sie jetzt schon sein "Traum" hätte sein können.
Und Bernd, ihr enger, langjähriger Freund – bevorzugte Männer, den konnte sie als Einzigen schon mal ausschließen … es sei denn, Bernd wäre bisexuell ... so genau hatte sie sich mit Bernd ja noch nie unterhalten. Aber:
"...Jetzt lieg ich da
auf dem Rücken
wie ein hässlicher Käfer ..."
Das passte doch nicht zum exaltierten Bernd, dieser rheinischen Frohnatur.
Doch Jörg, der Mann ihrer Schulfreundin Susanne, den kannte Charlotte schon ewig – fast so lange wie Burkhard, den Ehemann von Inga … sie waren alle zusammen auf derselben Schule …
„Wir kannten uns nicht
zumindest nicht gut
eigentlich kaum …“
Also doch Klaus? Simone wechselte ihre Lebensabschnittsgefährten so häufig, dass Charlotte schon froh war, den aktuellen Mr. Right mit dem richtigen Namen anzusprechen …
„…und wurdest trotzdem
zu meinem Traum …“
Nein, der attraktive, sportliche Klaus konnte es wohl nicht sein – dazu wirkte er zu verliebt in seine Susanne …
Eigentlich zuzutrauen wäre der Brief nur Burkhard, denn Burkhard war von seiner Frau zusammen mit den beiden Kindern verlassen worden. Und Burkhard kannte Charlotte schon seit … dieser Fete, damals, als beide mit der Konfirmanden-Gruppe in diesem Schullandheim im Solling waren. Ihren ersten Klammerblues hatten sie zusammen getanzt, Charlotte erinnerte sich an Burkhards linkische, schwitzige Hände auf ihrer Hüfte, an ihrer Taille, seinen heißen Atem an ihrem Ohr … Burkhard? Nein, ausgeschlossen! Burhard war so sexy wie … Brokkoli!

„c. fabry, Mittwoch, 28. März 2018, 01:00Einer nach dem anderen tauchte auf. Jeder von ihnen hatte sich nach allen Regeln der Kunst zurecht gemacht, aber Miriam, die unscheinbare Kollegin, hatte den Vogel abgeschossen. In schwarzen Lackpumps und einem dunkelgrünen Bouclé-Kostüm, das ihre atemberaubenden Kurven betonte und perfekt zu ihren grünen Augen passte, betrat sie den Speisesaal an Bernds Seite, als sei sie für solche Auftritte geboren. Die Haare waren im Tippi-Hedren-Stil hochgesteckt und die Perlenkette lag akkurat auf ihren vom Triumph-Klassiker geformten Brüsten. Das Make-up war ebenfalls perfekt und in ihrem Glanz wirkte Bernd wie ein vom Leben verwöhnter Mittelmaß-Hetero, unscheinbar, aber gepflegt und sehr zufrieden. Charlotte war sich nicht sicher, ob das gefährliche Funkeln in Miriams Elfenaugen ihrem perfekten Schauspiel oder ihrem wahren Ego geschuldet war. Wie viele Überraschungen sie wohl heute Abend erleben würde.

keinmann, Freitag, 30. März 2018, 12:18
Auch Charlottes alte Schulfreundin Susanne hatte sich wirklich Mühe gegeben, verrucht auszusehen. Doch ihre Verruchtheit hatte die Nachlässigkeit einer alternden, aufgedonnerten Lebedame: Ihr Make-Up war selbst bei gedimmtem Licht zu dick aufgetragen, das Rot von Nägeln und Lippenstift zu schrill. Als sie sich setzte, blitzte unter dem hautengen, seitlich geschlitzten, Seidenkleid ein halterloser Strumpf mit Laufmasche hervor. Das tief geschnittene Dekollete legte voluminöse, schwer hängende Brüste frei, über denen falsche Goldketten klapperten.
Das Minenspiel unter der Pagenkopf-Perücke konnte Charlotte zunächst nicht recht einordnen. Die „liederliche Geliebte“ Susanne schien jedenfalls not amused. In ihre Augen funkelten dunkle, unheilvolle Untiefen. Fast schien es, als wolle sie ihrem Ehemann Jörg, der einige Meter weit entfernt an der kleinen Bar stand und sich in den liederlichen jüngeren Sohn einspielte, die Augen auskratzen.
„Alles in Ordnung, Susanne?“
„Alles Bestens: Falls heute Abend neben dem inszenierten Mord noch ein Ritueller vollzogen wird, dann war ich das!“ Susanne griff sich eines der gefüllten Sektgläser auf der Anrichte und leerte es auf Ex.
„Hattet ihr Streit?“ fragte Charlotte und verdrehte im Geiste die Augen, weil sie aus leidvoller Erfahrung wusste: Susanne und Alkohol vertrugen sich nicht – und eine gehasselhoffte Susanne zettelte früher oder später mit jedem Streit an.
„Dieses Arschloch von einem Ehemann …“ begann Susanne ihre Schuldzuweisungstirade – und lauter, als Charlotte lieb war – einige Gäste schauten bereits konsterniert zur hysterisch lachenden Susanne herüber, die inzwischen von Sekt auf Wodka umstieg „…er hat mich wieder betrogen, dieser, dieser … Blondinen-Stecher!“
Charlotte blickte alarmiert zu Jörg, der – schon ganz in seiner Rolle als liederlicher Sohn – gerade damit begann, heftig mit Miriam zu flirten und den neben ihr stehenden Beau Bernd an die Wand zu spielen. Das schien Bernd zu missfallen - was öffentliche Auftritte anbelangte, war er es gewohnt, die Diva zu geben. Doch in der ungewohnten Rolle als mittelmäßig erfolgreicher Hetero-Ehemann schien er unsicher zu sein, wie er einem verwöhnten Mamasöhnchen und Aufreißer-Typen wie Jörg die gesellschaftlichen Grenzen aufzeigen sollte, damit dieser nicht alle anwesenden Damen anbaggerte, die nicht bei drei auf den Bäumen waren … Aber mal abgesehen davon, dass Bernd als Ehemann heute Abend wohl keine rühmliche Rolle spielen würde: Dieser drahtige, erfolgsverwöhnte Jörg mit seiner lässig- unverschämten Art zu flirten schien Bernd als Mann außerordentlich gut zu gefallen ...
Charlotte seufzte ahnungsvoll und klopfte an ihr Glas: „Meine Damen und Herren: Es ist angerichtet. Möge das Spiel jetzt beginnen!“

"c.fabry, Samstag, 31. März 2018, 16:21
Charlotte drückte auf die Fernbedienung und die erste Anweisung von der CD erfüllte den Raum.
"Liebe Anwesende. Sie werden sich gleich den Tischkarten gemäß auf Ihre Plätze begeben und der knappen Begrüßungsrede der Gastgeberin lauschen. Dann wird der erste Gang serviert - ein Kürbiscreme-Süppchen mit frischen Krabben, dazu ein leichter Weißwein aus der Bourgogne. Genießen Sie das köstliche Essen, besprechen Sie gemäß Ihrer Rolle, was Sie gerade bewegt, beobachten Sie aber auch die anderen und wählen Sie vor dem Auftragen des zweiten Ganges den zweiten Track dieser CD. Guten Appetit."
Die Gäste nahmen der Tischordnung entsprechend Platz und ein Mitarbeiter der Catering-Firma trug die Suppe auf. Dann verabschiedete er sich und überließ die illustre Gesellschaft sich selbst.
"Und wie soll das gleich weitergehen, so ganz ohne Personal?", fragte Inga ganz im Stil einer schrulligen alten Dame. Sie trug Veilchenparfum zur silbergrauen Wurstlockenperücke, hatte sich sogar runzlige Falten geschminkt - dafür war Charlotte viel zu eitel - und ging ganz und gar in ihrer Rolle der missgünstigen Schwägerin auf.
"Ich bitte Dich, Inga", rückte Laurens, ihr Ehemann sowohl im Spiel wie im wirklichen Leben, ihr den Kopf zurecht. "Wir werden schon nicht an Überanstrengung zugrunde gehen, wenn wir die leeren Schüsseln auf den Rollwagen stellen und die vollen vom Buffet auf den Tisch räumen. Wir befinden uns nicht mehr im viktorianischen Zeitalter und du weißt doch, wie schwer gutes Personal heutzutage zu finden ist."
Inga schnaubte und starrte ungeduldig die Gastgeberin an, die nun ihre Rede halten sollte. Charlotte überlegte einen Moment, ob sie das rätselhafte Gedicht der Allgemeinheit zu Gehör bringen sollte, vielleicht war es ja bereits ein Teil des Spiels, aber was, wenn es gar nicht zum Spiel gehörte, welchen Eklat mochte sie damit heraufbeschwören? Außerdem hätte eine alte Lady, die die Erbengemeinschaft zum Dinner lädt, kein Interesse, der Gierigen Meute einen Skandal auf dem Silbertablett zu servieren, schon gar nicht, wenn sie selbst Teil der Ungeheuerlichkeit war.
"Werte Familie, geschätzte Freunde. Wir haben uns heute Abend versammelt, um ein letztes Mal in dieser Konstellation zusammen zu essen und meines verstorbenen Gatten Anthony zu gedenken, zu dessen Testamentseröffnung wir uns morgen Früh um 10.00 Uhr in der Bibliothek versammeln wollen. Danach, da bin ich sicher, werden die Beziehungen in dieser Runde nicht mehr dieselben sein und vielleicht werden wir dann auch schon wissen, wer meinen geliebten Gatten auf dem Gewissen hat, denn ich glaube nicht daran, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist. Freut euch des Lebens, solange ihr es noch könnt. Guten Appetit!

„c. fabry, 95.04.2018, 12.40 Uhr
Die Suppe schmeckte allen hervorragend, darum fiel die betretene Stille zunächst überhaupt nicht ins Gewicht. Doch schließlich hielt Simone die Spannung nicht länger aus und fragte in der Rolle der altjüngferlichen Tochter: "Wie lange willst uns Vaters Todesursache noch vorenthalten, Mutter? zumindest seine Kinder haben doch ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert ist."
"Der Arzt hat ihm Herzversagen attestiert, aber Lisa hat bereits den Verdacht geäußert, dass ihm jemand über längere Zeit Gift verabreicht hat, möglicherweise Arsen."
"Gute Idee.", murmelte Susanne voller Groll in die Suppe. "Bisschen old school, aber immer noch äußerst effektiv."
"Als Gast, der nicht einmal Teil der Familie ist, sollten Sie sich mit Kommentaren zurückhalten, Miss.", fauchte Charlotte sie an. "Ganz besonders mit derartigen Geschmacklosigkeiten."
"Aber wer hätte ein Interesse gehabt, Vater zu vergiften?", fragte Susannes Ehemann und Liebhaber Jörg. "Das ist doch lächerlich. Wieso kannst du nicht akzeptieren, dass das Alter früher oder später seinen Tribut fordert? Der Tod ist unausweichlich und holt eines Tages jeden von uns."
Miriam griff sich plötzlich an den Hals und begann sich unaufhörlich zu räuspern.
"Sind da Nüsse in der Suppe?", fragte sie.
"Es heißt, sind da Nüsse in der Suppe, Mutter.", wies Charlotte sie zurecht. "Selbstverständlich nicht.", fuhr sie fort. "Was hätten Nüsse schon in einem Kürbiscreme-Krabben-Süppchen verloren? Du bist ja von Sinnen. Du solltest endlich das Rauchen aufgeben, meine Liebe. Es schadet nicht nur dem Teint."
In ihrer Rolle als Ärztin sprang Lisa von ihrem Stuhl auf und sah nach Miriam. Mit ihren vulgärmedizinischen Kenntnissen diagnostizierte sie die Gefahr eines anaphylaktischen Schocks. Bernd kreischte: "Sie hat ihre Medikamente nicht dabei, Oh Gott, und ich habe zu Hause noch gefragt, hast du auch deine Medikamente eingesteckt und sie wollte sie noch holen und dann hat sie sie vergessen! Und sie sagte noch, keine Sorge, Darling, Mutter weiß ja, dass ich keine Nüsse vertrage, was tun wir denn jetzt?"
"Mami!", heulte Margit. "Wie heißt das Mittel? Ich rase gleich zur nächsten Apotheke und hole es!"
Alle steigerten sich begeistert von der dramatischen Entwicklung in ihre Rolle hinein, bis Miriam tatsächlich blau anlief. Das war kein Spiel mehr und der ausgelassenen Atmosphäre folgte eine sich rasch ausbreitende Panik. Geistesgegenwärtig setzte Lisa einen Notruf ab und Bernd zog Bachblüten Notfall-Tropfen aus seiner Weste, die trug er immer bei sich und hatten ihm schon oft gute Dienste geleistet. Vielleicht ließ sich die allergische Reaktion damit eine Weile zurückdrängen, bis echte ärztlich Hilfe anrückte.

Als der Notarzt wenig später eintrudelte, hatte Miriam bereits das Bewusstsein verloren. Sie bekam ein Antihistainikum gespritzt und wurde bei überwachung der Vitalfunktionen in ein Krankenhaus gebracht. Betroffene Stille breitete sich aus und erst, als das Schweigen kaum noch zu ertragen war und die Zeiger der Standuhr so eindringlich tickten, dass Charlotte schon befürchtete, davon Herzrhytmusstörungen zu bekommen, durchbrach Klaus, der gutaussehende Sportlehrer, der den Familienanwalt spielte, das Schweigen und fragte: „War das jetzt Teil des Spiels? Wie teuer ist so eine perfekte Inszenierung? Waren das alles Schauspieler oder haben die johanniter mittlerweile so viel zu tun, dass sie sich mit Krimi-Dinner-Party-Service etwas dazuverdienen?“
Den meisten Gästen blieb vor Entsetzen der Mund weit offen stehen, nur Simone sah sich imstande, ihren Lebensgefährten zum Schweigen zu bringen: „Bist du jetzt mal still, du empathiefreies Trampel? Natürlich war der anaphylaktische Schock echt und außerdem ziemlich lebensbedrohlich. Wir hätten hier beinahe einen echten Todesfall gehabt. Ich hoffe, Miriam erholt sich bald wieder.“
„Ich frage mich die ganze zeit, wie die Nüsse in die Suppe gekommen sind.“, sagte Charlotte mehr zu seich selbst, wenn auch für alle hörbar.“
„Hattest du denn dem Unternehmen mitgeteilt, dass wir eine Allergikerin dabei haben?“
„Ja, ich weiß doch seit Jahren, dass Miriam von Nüssen der Hals anschwillt. Die hatten mir zugesichert, dass sie darauf achten, dass sich da nicht irgendwo Nüsschen verstecken, wo man keine erwartet. Mein Gott wie schrecklich. Was machen wir denn jetzt?“
„Ich schlage vor, wir machen weiter.“, meinte Bernd.
Inga sog die Luft scharf ein, sagte aber nichts. Alle blickten unschlüssig abwechselnd auf Charlotte und Bernd. Bernd zuckte mit den Schultern und sagte dann: „Na ja, Miriam wird schon wieder und es wäre schade um die ganze Vorbereitung für das Spiel und das gute Essen.“
Charlotte blickte in die Runde und als niemand lautstark protestierte, stimmte sie schließlich zu.
Bernd schlüpfte direkt in seine Rolle des geldgeilen Schwiegersohns, als er sagte: „Hier ist ja offensichtlich jemand wenig bereit zu teilen. Kann es sein, Jörg, dass Du Dir am Ende das gesamte Vermögen zusammen mit deiner Geliebten – wie heißt sie doch gleich? - durch die leidgeprüfte, Leber laufen lassen willst?“
„Meine Gefährtin heißt Susanne!“, zischte Jörg. „Und warum solltest nicht du genauso infrage kommen für einen Serienmörder, der seine Familie mordet, damit er seiner Frau und seiner Tochter endlich alles bieten kann, wozu er aus eigener Kraft nicht imstande ist? - Und was ist mit Laurens, unserem Onkel, der mit seiner geliebten Inga alles erben würde, nachdem er Mutters gesamte Nachkommenschaft ausgelöscht hat?“
Charlotte mischte sich wieder ein: „Darf ich Euch daran erinnern, ihr Streitgockel, dass noch immer ich diejenige bin, die dem Gesetz nach den Löwenanteil erbt? Es geht also nur um Kinkerlitzchen, gebt Euch nur keinen falschen Hoffnungen hin. Ich schlage vor, wir wenden uns dem zweiten Gang zu.“

Charlotte drückte auf die Fernbedienung und die sonore Erzählstimme auf der CD verlautbarte: „Bevor sich die Anwesenden nun über Hühnchenpastete, Möhren-Walnuss-Salat und noch mehr grauen Burgunder hermachen, hier ein paar neue Informationen: Der Bruder der Lady und seine Frau haben aufgrund eines vorübergehenden finanziellen Engpasses Schwierigkeiten mit notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen ihres Anwesens.
Die unverheiratete Tochter der Lady weist in den letzten Jahren eine wachsende Verbitterung auf, immer häufiger ergeht sie sich in Andeutungen bezüglich eines seit langem gehegten Grolls.
Die verheiratete Tochter und deren Tochter sind völlig arglos, doch ihr Gatte, der elegante Schwiegersohn, spricht in letzter zeit auffällig häufig von der Anschaffung eines Sportcoupés der Luxusklasse, das er sich eigentlich nicht leisten kann.
Der unverheiratete Sohn der Lady geht allzu häufig ins Casino und seine Geliebte wirkt fahrig.
Der Pfarrer bangt um seinen Kirchturm.
Die Ärztin will sich niederlassen.
Der Familienanwalt weiß ja bereits, was im Testament steht. Vielleicht befindet er sich an irgendeiner Stelle der Erbfolge?
Nun wünschen wir guten Appetit, ein spannendes Rätselraten und Sie hören mich wieder vor dem Servieren des dritten Ganges.“

Alle trugen gemeinsam Pastete und Salat auf, schenkten Wein nach, lobten die Speisen und begannen ihre Spekulationen. „Also mit Mamis Allergie-Schock, das werte ich jetzt mal als Unfall“, spielte Margit die Enkelin. „Die Frage ist, Großmutter, wer überhaupt ein Interesse an Großvaters vorzeitigem Tod hatte, wenn Du ohnehin den Löwenanteil erbst.“
„Was willst du damit sagen?“, herrschte Charlotte sie im perfekten Matriarchinnen-Stil an.
„Ich will gar nichts sagen.“, erwiderte Margit. „Ich stelle nur eine kluge Frage. Mich anzugreifen ist keine kluge Reaktion. Ich gehe eine rauchen, dann kannst du dich in der Zwischenzeit beruhigen.“
„Ich komme mit.“, erklärte Klaus eifrig und Simone blickte ihm ärgerlich hinterher.
„Komm, Schwägerin“, turtelte Bernd sie an. „Jetzt, wo Deine Schwester dich im Stich lässt, könnten wir uns doch gemeinsam ein wenig die beine vertreten, damit die Pastete nicht so ansetzt.“
Charlottes Wanderfreundin Lisa, die die Ärztin spielte, sprach Charlottes alten Schulfreund Burkhard an: „Herr Pfarrer, Sie interessieren sich doch sicher für Bibelkommentare. In Charlottes Bibliothek gibt es einen hochinteressanten Kommentar zum Johannesevangelium von einem französischen Geistlichen.“
„Die innere Offenbarung des geistigen Ich?“, fragte Burkhard höchst interessiert.
„Ja, ich glaube so heißt es.“
„Das suche ich schon seit Jahren erfolglos. Zeigen Sie mir wo es steht?“
Am Ende verließen alle den Raum, ebenfalls um auf der Terrasse eine zu rauchen, eine Runde ums Haus zu drehen oder sich Zeit für einen ausgedehnten Toilettengang zu nehmen.
Als alle wieder am Esstisch zusammenkamen, fehlte Jörg und niemand konnte sagen, wo er war.
„Der wird sich schon wieder anfinden.“, erklärte Susanne lässig und strich sich eine störrische Locke aus den Augen. Also startete Charlotte erneut die CD:

„Liebe Dinnergäste, freuen Sie sich auf den dritten Gang, bestehend aus Roast Beef, Sahnewirsing und Herzogin-Kartoffeln, begleitet von einem wohltemperierten, sonnenverwöhnten Bordeaux. Bevor Sie sich dem Genuss hingeben, habe ich noch ein paar überraschende Informationen für Sie:
Die Enkelin der Lady ist, wenn man es ihr auch noch nicht ansieht, seit einigen Monaten schwanger.
Der Geliebten des unverheirateten Sohnes ist ein Spritzbesteckt aus der Handtasche gefallen.
Die Ärztin verhandelt bereits mit dem Pfarrer über Räumlichkeiten für ihre Praxis im ehemaligen Schwesternhaus.
Lassen Sie sich die Spezialitäten schmecken und finden Sie heraus, wer es auf das Leben des verstorbenen Lords abgesehen hatte.“

Wieder trugen sie gemeinsam das warmgehaltene Essen auf und wunderten sich zunehmend, wo Jörg abblieb, denn nun wurde sogar Susanne unruhig. Normalerweise hätte sie ihn eines Techtelmechtels in einem der Zimmer verdächtigt, aber alle weibliche Personen – bis auf Miriam natürlich – waren an der Tafel versammelt. Charlotte bekam Angst. „Lasst uns hier nicht wie auf einem Kindergeburtstag Mord um Dunkeln spielen. Vielleicht ist Jörg irgendwo da draußen gestürzt. Kommt wir suchen alle das Haus und die Umgebung ab.“
Nach einer Viertelstunde fanden Inga und Laurens den vermissten bewusstlos in einiger Entfernung vom Haus und trugen ihn schnell ins Warme.
Susanne beugte sich verzweifelt über ihn und ohrfeigte ihn, um ihn aus seiner Ohnmacht zurückzuholen.
„So wird das nichts Schwägerin“, unkte Bernd. „Da muss die Frau Ärztin ran und erst einmal feststellen was ihm fehlt.“
„Hör auf mit dem Schieß, Bernd!“, zischte Lisa. „Wir spielen nicht mehr. Jörg atmet nicht. Alarmiere einen Notarzt und in der Zwischenzeit bringe ich meine Erstehilfe-Kenntnisse zum Einsatz.
Lisa begann mit einer Herzmassage und Susanne unterstützte sie verzweifelt mit einer Mund-zu-Nase-Beatmung. Charlotte war wie erstarrt. Wie lange mochte er schon bewusstlos draußen in der Kälte gelegen haben?
Ohne nachzudenken startete Burkhard die CD und niemand griff ein, denn alle starrten nur auf Jörg und bekamen nur am Rande mit, was die aufgeräumte Stimme in der Aufnahme plapperte:
„Zum Dessert warten die berühmte Zuppa Inglese, also die überaus passende englische Suppe und ein hervorragender Sherry auf Sie.
Außerdem will die Schwägerin der Lady ihnen ein Geheimnis offenbaren. Die verheiratete Tochter ist unheilbar an Krebs erkrankt und der Familienanwalt hat eine Affäre mit einer der anwesenden Damen.
Niemand wollte ein Dessert zu sich nehmen oder einen Sherry. Alle fragte sich, was Jörg da draußen im Gelände gewollt hatte und wann endlich der Rettungswagen eintrudelte. Die CD lief weiter.
„Vor dem Espresso oder Scotch haben Sie noch eine letzte Chance den Fall zu lösen. Die Enkelin führte ein langes Gespräch mit dem Pfarrer. Der unverheiratete Sohn entzieht sich Ihrer Runde auf der Suche nach was auch immer.“

Susanne schluchzte laut auf und Charlotte streichelte ihr mitfühlend den Rücken. Bernd machte Espresso für alle, um irgendetwas zu tun und als er damit fertig war, kam endlich der Notarzt. Der konnte allerdings nur noch Jörgs Tod feststellen. Alle starrten schockiert in ihre Kaffeetassen und ließen ihn größtenteils erkalten. Niemand interessierte sich mehr für das Spiel nur Charlotte fragte sich, ob das Morden endlos so weiter gegangen wäre, denn sie glaubte nicht mehr daran, dass Miriams Schock zufällig erfolgt war.

Erst nach Wochen fand die Polizei heraus, dass Jörg von seiner Lebensgefährtin getötet worden war, im Affekt, aus blinder Eifersucht, mit dem Spritzbesteck ihrer Krimispielausstattung. Sie hatte ihm die Nadel in den Oberschenkel gerammt und Luft gespritzt. Nur zufällig hatte sie direkt die Hauptvene getroffen und ihn damit getötet. Sie wusste nicht genau warum sie es tat, aber schließlich kramte Charlotte noch eimal die CD hervor und wählte den letzten Track an.

„Nun? Haben sie das Rätsel gelöst? Ja viele hatten ein Motiv.
Der Bruder und seine Frau brauchten dringend Geld, aber sie hätten niemals einem Mitglied der Familie etwas angetan, ebenso wenig wie die alte Lady selbst.
Die unverheiratete Tochter war in jüngeren Jahren einmal heimlich verlobt gewesen – mit ihrem Schwager. Das hat sie so verbittern lassen und das war das Geheimnis, von dem auch die Schwägerin der alten Lady wusste.
Die verheiratete Schwester hatte deshalb den Schwiegersohn der Lady geheiratet, weil sie die jüngere war, denn der Schwiegersohn war immer auf viel Geld aus. Allerdings fehlte ihm jedwede kriminelle Energie. Ein Schwerenöter, aber ein Gesetzestreuer.
Die Tochter der beiden wurde nicht von Heiligen Geist geschwängert sondern vom Rechtsanwalt der Familie. Der weiß bereits, dass die Enkelin im Testament besonders reichhaltig bedacht wird und wird deswegen unumwunden zu seinem Kind stehen und die Mutter mit Freuden heiraten. Auf dieses Erbe hätten die beiden aber auch getrost noch ein paar Jahre warten können, denn als Anwalt verdient er ausgezeichnet und sein Lebensstil ist nicht so opulent.
Pfarrer und Ärztin waren nur interessante Zaungäste.
Der unverheiratete Sohn hingegen brauchte zeitnah eine große Menge Geld, weil ein brutales Inkassounternehmen bereits dazu übergegangen war, seine Spielschulden einzutreiben. Seine Geliebte fristete ein kostspieliges Dasein als Trinkerin und hatte den Liebhaber bei seinem Vorhaben unterstützt. Ein heimlicher Besuch in der Nacht, eine Spritze Luft in die Aorta des Oberschenkels und der alte Lord war den Weg allen Fleischlichens gegangen. Was sie nicht ahnte war das Vorhaben ihres Geliebten, sie ebenfalls loszuwerden, da er weder eine lästige Mitwisserin noch eine Unsummen versaufende Süchtige an seiner Seite gebrauchen konnte. Und nun lassen Sie den Abend fröhlich ausklingen und freuen Sie sich Ihres Lebens – vielleicht bis bald zu unserem nächsten Krimi-dinner?“

„So ein Schwachsinn“, murmelte Charlotte und es lief ihr kalt den Rücken herunter, als ihr bewusst wurde, dass die Rollenanweisung des Spiels ihrer Freundin Susanne die Mordmethode geliefert hatte. Wer wusste schon, ob Jörg ohne das lächerliche Krimi-Dinner noch leben würde?

Und ein Rätsel blieb wohl auf ewig ungelöst: Was hatte Miriams allergische Reaktion ausgelöst und wer war dafür verantwortlich? War es Zufall oder steckte ein Plan dahinter?
Und das Liebesgedicht? War das der schöne Jörg gewesen? Hatte er einen Spaß mit ihr getrieben oder schmachtete da heimlich noch immer jemand in seinen Träumen nach ihr? Sie würde es wohl nie erfahren.

Wer nun unbefriedigt zurückbleibt, greife in die Tastatur und werde zur Fanfictionärin bzw. zum Fanfictionär. Aber vielleicht ist es jetzt auch einfach mal gut. ;-)

Nächstes Wochenende kommt wieder etwas Neues.

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Freitag, 23. März 2018
Krimi-Dinner - ein Midi-Krimi zum Mitschreiben
Liebe Mitbloggerinnen und Mitblogger. Es ist wieder so weit. Ihr dürft mitschreiben. Diesmal werde ich die Kommentare nicht direkt in den Beitrag kopieren, das tue ich erst, wenn wir mit der Geschichte zu Ende sind. Diesmal erkläre ich schon vorher: Wer an dieser Geschichte mitschreibt, erklärt sich damit einverstanden, dass unter Angabe seiner Blogger-Identität das Geschriebene in einem E-book veröffentlicht wird und – wer weiß – vielleicht auch mal in einer Printversion.

Was für ein Spaß! Charlotte hatte es diesmal richtig krachen lassen und das evangelische Tagungshaus, das ursprünglich als Erholungsheim für Diakonissen gedient hatte, komplett gebucht. Es gab zwar 30 Betten und sie waren nur zu zwölf Personen, aber zu ihrem Fünfzigsten hatte sie sich einmal etwas gönnen wollen, etwas Skurriles mit Stil und Ambiente. Und das war ihr gelungen. Die „Schöne Aussicht“ trug ihren Namen zu Recht, oben auf der Kuppe eines Berges, wo der Blick über die Wipfel üppiger Mischwälder schweifte und die Sicht aus den altmodischen Panoramafenstern einen dem Himmel so nah brachte, dass kein Wetterumschwung unbemerkt an einem vorüber gehen konnte. Der abgelegene Standort brachte eine unvergleichliche Stille mit sich und die gepflegten Räumlichkeiten nahmen den Gast auf wie der Schoß einer nach Himbeergelee und Napfkuchen duftenden Großmutter. Im Speiseraum stand bereits die gedeckte Tafel, mit weißem Damast, Leinenservietten, Kristallgläsern und Silberbesteck. Das Abendessen hatte Charlotte bei einem besonderen Caterer bestellt. Scones, Shortbread und Gurkensandwiches für den Fünf-Uhr-Tee hatte sie selbst vorbereitet. Beim Tee hätten alle noch einmal Gelegenheit sie selbst zu sein und alles auszutauschen und zu betratschen, was sich in den vergangenen Wochen und Monaten angesammelt hatte. Danach war eine Pause vorgesehen,damit alle sich auf ihr Zimmer begeben und für das Abendessen zurechtzumachen konnten, gemäß ihrer Rolle in der Story des Krimi-Dinners.
Doch im Augenblick brach die sinkende Sonne goldgelb durch wüst gedrungene Wolken und tauchte das ohnehin in erdigen Rot- und Orangetönen gehaltene Salonzimmer in warmes Abendlicht. Im Kamin knisterten die Buchenscheite und die Etageren mit Häppchen und Süßem luden verführerisch zum Zugreifen ein.
„Eigentlich hätten wir schon verkleidet zum Tee kommen müssen.“, verkündete Simone und warf lachend den Kopf in den Nacken. „Dieser Raum sieht wirklich aus wie das Set zu einem Agatha-Christie-Film.“

Simone war Charlottes beste Freundin seit der Oberstufe. Ihre Rolle beim Krimi-Dinner passte so gar nicht zu ihr, denn obwohl sie eine lebenslustige Charmeurin war, die das Klimakterium noch lange nicht hinter sich hatte, musste sie die unvorteilhaft alternde, altjüngferliche Tochter der alten Lady spielen, die übrigens von der echten Gastgeberin gemimt wurde.

Charlotte selbst war seit sechs Jahren glücklich geschieden, wenn es auch bis zum Attribut glücklich ein weiter und schmerzlicher Weg gewesen war.

In Simones Schlepptau befand sich Klaus, ihr derzeitiger Lebensgefährte, ein unverschämt gut aussehender Sportlehrer, der am Abend den Familienanwalt gab.

Ein enger, langjähriger Freund – sowohl von Charlotte, als auch von Simone war Bernd. Eigentlich bevorzugte Bernd Männer und war zur Zeit Single, daher schwer auf der Suche, aber weil bei diesem Dinner ohnehin kein für seine Zwecke geeignetes Material eingeladen war, hatte er sich seufzend in sein Schicksal ergeben und sich bereit erklärt den geldgeilen Schwiegersohn zu spielen – er wäre viel lieber ein geheimnisumwittertes Nachtclub-Luder aus der fernen Großstadt gewesen.

Miriam, Charlottes langjährige Kollegin, spielte die verheiratete Tochter der Lady und damit die Ehefrau von Bernd. Sie mussten sich beim Tee erst einmal kennenlernen.

Susanne, ebenfalls eine alte Schulfreundin, spielte die liederliche Geliebte des jüngeren Sohnes.

Jörg, Susannes Mann seit der Jugend, spielte den liederlichen jüngeren Sohn.

Inga war eine Bekannte aus früheren Zeiten, zu der Susanne eigentlich keinen Kontakt mehr hatte. Nun hatte sie sich aber vor einiger Zeit zufällig wieder getroffen und so nett unterhalten, dass sie beschlossen hatte, Inga samt Partner einzuladen, um so das Dutzend voll zu machen. Inga durfte Charlottes Schwägerin spielen.

Ingas Ehemann hieß Laurens und er durfte auch im Spiel mit seiner Ehefrau verheiratet bleiben. Als jüngerer Bruder der Gastgeberin hatte er eine interessante Rolle.

Burkhard war ebenfalls ein alter Schulfreund. Zu ihm hatte Charlotte gelegentlich Kontakt, vor allem in den letzten Jahren, wo sie sich oft über Scheidung ausgetauscht hatten, denn Burkhard war von seiner Frau zusammen mit den beiden Kindern verlassen worden. Heute Abend spielte er den Pfarrer, mit dem die Familie sich gern schmückte und der sich im Gegenzug der freundlichen Kontaktpflege regelmäßige Spenden für die Kirche erhoffte.

Lisa, kannte Charlotte seit 10 Jahren, sie gingen immer zusammen wandern und hatten dabei die besten Gespräche, denn Lisa hatte einen besonders wachen Geist, ohne dabei auch nur im geringsten intellektuell versnobt zu sein. Sie spielte eine mit der Familie befreundete Ärztin.

Charlottes ehemalige Kommilitonin Margit gab die Enkelin der alten Lady und damit die Tochter von Miriam und Bernd. Da sie beide bereits kannte, unterstützte sie das fiktive Ehepaar bei der gegenseitigen Bekanntmachung und sorgte für viel Entspannung und Gelächter.

Nach der geselligen Teerunde hatten alle rote Bäckchen – denn es war ziemlich warm geworden. Darum genossen sie den Luxus, sich für dreißig Minuten zurückziehen zu können, sich etwas Ruhe und ein paar Minuten in der Horizontale gönnen zu dürfen, bevor sie in ihr Kostüm schlüpften. Um 20 Uhr saß Charlotte äußerst gespannt am Ende der gedeckten Tafel und wartete auf den Auftritt ihrer Gäste.

Und Jetzt Seid Ihr dran!!!

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Freitag, 16. März 2018
Das Todeshaus - ein abgeschlossener, profaner Kurzkrimi
„Nicht schon wieder!“, stöhnte Keller.
„Was?“, fragte Kerkenbrock.
„Am Schwarzenberg 10.“, sagte Keller.
„Oh Nein!“
„Doch.“
„Oben oder unten?“
„Wieso fragen Sie? Könnte ja ausnahmsweise mal in der Mitte sein.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Reisers besitzen das Elixier des Lebens, auch wenn sie aussehen, wie gefriergetrocknet. Askese, Disziplin und alle negativen Impulse direkt raus lassen. Damit wird man uralt.“
„Mord macht auch vor vermeintlich Langlebigen nicht halt.“
„Was ist es denn diesmal? Nur dass ich schon weiß, auf welches Bild ich mich einstellen muss.“
„Vermutlich Kohlenmonoxid. Gleich eine ganze Familie.“
„Also eher ein Unfall?“
„Wir werden sehen.“
Diesmal war es die Wohnung oben, im zweiten Stock. Im ersten Stock lebten die Reisers, ein pensioniertes Ärztepaar, im Erdgeschoss eine Frau Blome, die sich schon erstaunlich lange hielt. Ihre Vormieterin hatte nur 18 Monate in der Wohnung verbracht, bevor sie einem Starkstromschlag zum Opfer gefallen war. Sie hatte die Nachmiete einer obskuren Messi-WG angetreten, die bei einem ihrer zahlreichen Gelage allesamt an einer Überdosis Crack gestorben waren. Die wiederum hatten die Wohnung von einer betagten Dame übernommen, die eines Morgens einfach nicht wieder aufgewacht war.
Im zweiten Stock waren die Vormieter der fünfköpfigen Familie – ein exzentrisches Musikerpaar – eines Nachts im Streit gemeinsam vom Balkon gestürzt, was sie nicht überlebt hatten. Vor ihnen hatte ein lesbisches Paar dort gelebt, von dem die eine Partnerin eines Morgens beim Nachbarschafts-Frühstück bei den Reisers an einer Scheibe Schinken erstickt war. Die andere Partnerin war kurz danach ausgezogen, weil sie sich die Wohnung allein nicht leisten konnte.
In allen Fällen hatten sie wegen Mordverdachts ermittelt, waren aber jedes Mal zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen Unglücksfall gehandelt haben musste.
Nun betraten die Beamten die Wohnung der Familie Römermann im zweiten Stock. Sie lagen alle friedlich verstreut im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät, das sich dankenswerterweise selbst abgeschaltet hatte. Die Polizisten waren entsetzt vom Anblick der reizenden Familie, junge Eltern mit drei kleinen Kindern, unfassbar, dass es immer wieder zu diesen Kohlenmonoxid-Unfällen kam, noch tragischer angesichts der Tatsache, dass der Familienvater von Beruf Heizungsinstallateur war. War es möglich, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelte?
Frau Blome im Parterre erklärte, sie habe mit den Nachbarn nicht viel zu tun, sie könne nichts dazu sagen.
Die Reisers meinten, der Herr Römermann habe in letzter Zeit schon etwas niedergeschlagen gewirkt. Es sei auch oft zu Streit in der Wohnung über ihnen gekommen, mit den Kindern habe es Probleme gegeben und beruflich sei es für den Vater auch überhaupt nicht gut gelaufen, er habe da gelegentlich so Andeutungen gemacht.
Die Beamten gingen der Sache auf den Grund. Die Befragung von Verwandten, Arbeitgeber und Kollegen konnten die Hypothese der Reisers nicht bestätigen. Und dann ging Keller dieser Halbsatz von Sabine Kerkenbrock durch den Kopf: Oben oder unten? Sie würden alle Todesfälle noch einmal aufrollen müssen und aus einer völlig neuen Perspektive betrachten. Auch wenn die Reisers keine Vampire waren, die ihr Leben mit dem Blut ihrer Opfer verlängerten, so sorgten sie doch für sich für optimale Lebensbedingungen, aber er und seine Kollegin würden dieses Biotop des Grauens ein für alle Mal in eine gefahrlose Kulturlandschaft verwandeln.
ENDE

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